215 Über Isosthenien (Antwort)
Ich habe in diesem meinen Blog so viel über Wissenschaft, Behaviorismus, Relativismus geschrieben, als wenn ich nicht an Statistiken oder Prognosen und Berechnungen der Wissenschaften glauben würde. Ganz im Gegenteil! Immer wieder gibt es verblüffend zutreffende Statistiken und Ergebnisse zum Beispiel bei Wahlen oder in anderen Bereichen, etwa der Medizin oder Technologie, ohne die wir gar nicht mehr leben könnten. Das heißt auch in diesem Fall der Wahrheitsfindung entwickeln sich Isosthenien, Gleichwertigkeiten: Manchmal stimmen die Wahrheiten, manchmal stimmen sie aber in eben dem gleichen Fall auch nicht. Von Fall zu Fall kann diese Wahrheit zutreffend, dann aber auch nicht zutreffend sein.
Wir haben gelernt damit umzugehen. Wir kennen die Regel, die da lautet: Keine Regel ohne Ausnahme. Wir kennen den schönen Satz: Ich glaube nur an solche Statistiken, die ich selbst gefälscht habe. Dass die Theorie der Theorie auch den Selbst-Widerspruch erzeugt und sich ins Nichts auflöst. Und so weiter. Das heißt: Immer wieder bilden sich Isosthenien, die in unserem Denken keine 100-prozentige Eindeutigkeit, Wahrheit, Falsifizierbarkeit, Verifizierbarkeit, Prognostizierbarkeit und so fort zulassen.
Im Richtigen schlummert, wartet, versteckt sich das Falsche und Umgekehrt. Was heute richtig und wahr ist, kann morgen schon ganz falsch sen. Das heißt immer nur und immer wieder: eine Sache kann wahr und gleichermaßen auch falsch sein – die Isosthenie. Im Sinne der Dialektik mögen sich die Gegensätze aneinander reiben und eine Synthese, eine neue Stufe anstreben. Aber bei weitem nicht immer. Oft bleiben sie nur sprachlos, manchmal sogar feindselig nebeneinander stehen und begutachten (oder beschimpfen) sich argwöhnisch. Dass sie sich in ihrer Andersartigkeit auch vielleicht tolerieren könnten oder müssen im Sinne von gewähren lassen, das ist erst das neuartige Ergebnis der postmodernen Philosophie der Gegenwart.
Philosophie heißt übersetzt bekanntlich “Liebe zur Weisheit”; nicht zur Wahrheit. Wahrheit und Weisheit gehen oft weit auseinander. Um Wahrheit kümmert sich die Logik. Doch sie ist auch nur eine Unterdisziplin der Philosophie wie Ethik, Wissenschaftstheorie, Ästhetik, Politik etc. Eine Philosophie der Weisheit kümmert sich umfassend um unser Leben: wie es ist, sein sollte, sein könnte. Und sie kümmert sich um diese Thematik rein geistig: mit Worten, mit Idealen, mit Ideen, die vielleicht überzeitlich sein mögen. Auch und gerade die Idee der Wahrheit, während die Idee der Weisheit nicht im platonischen Ideenhimmel leuchtet.
Die Philosophie will Leben, nicht nur unser menschliches Leben, erhalten – wahr und schön, gut und gerecht. Und sie bereitet uns insbesondere seit Seneca auch auf den Tod vor. Die Kunst ist weniger geistig. Mit ihren Farben und Formen und Tönen ist sie feinsinnig, sie spricht die Sinne, damit auch das Gemüt und die Gefühle an. Dazu gehören wohl auch Freude und Lust.
Was bleibt? – Die Suche bleibt, Zweifel und Streit, die Auseinandersetzung. Also auch das Sprechen und Denken und Argumentieren. Auch wenn die Zeit des Argumentierens in vieler Hinsicht vorbei ist, denke ich. Denn so oft entscheiden wir nicht mehr selbst, sondern wir werden entschieden (Achtung Neuprägung!). Wo bleibt unsere freie Entscheidung? – Das müsst ihr die Entscheider fragen, die uns steuern und ohne dass wir es wissen oder auch nur merken würden. Doch was sind “Entscheider“? Entscheiden sie wirklich oder simulieren sie nur wie manche Politiker in ihrer Machtlosigkeit? Über unser Wohl und Wehe entscheiden die großen, weltumspannenden Konzerne. Oder einige ideologisch Verrückte, die blindwütig ein ganzes Volk ins Messer von Vernichtung und Bürgerkrieg oder immer noch in den Hungertod laufen lassen.
Schon bin ich die ganze Zeit wieder dabei zu argumentieren. Sicher mag eine ganze Menge Falschheit in meinem Denken liegen. Schon werden mir eine ganze Menge Leute widersprechen wollen. Und schon haben sich auch Isosthenien um Fragen der Steuerung, Freiheit und Selbstbestimmung gebildet. Ganz zu schweigen von den Menschenrechten und ihrer Definition. Das heißt nur immer wieder: Wir leben in einem Chaos, in einem Chaos von Wahrheit und Falschheit, Freiheit und Zwang, Glück und Unglück. Das von Fall zu Fall nützlich, dann auch wieder gefährlich sein kann.
Ich zitiere aus einem meiner ersten Blogbeiträge Nr.3: Also lassen wir uns treiben weiterhin im Wasser einer fröhlichen und unerschrockenen Orientierungslosigkeit, dann und wann ein Zipfelchen von Wahrheit erhaschend, geleitet vom allmächtigen Schicksal, das wir weder erkennen noch durchschauen noch steuern können und mit dem jeweils äußerst individuellen wie vielfältigen Ziel der Glückseligkeit. Also leben wir weiterhin in einem offenen, unheilschwangeren und chaotischen System. Schlecht muss es uns dabei nicht gehen. Vielleicht können wir diesen Zustand von Unabwägbarkeit und Widerspruch sogar genießen?! Zumindest dann und wann. Kurz sind nur und selten auch die Tage wirklichen Glücks (seufz).
Ich werde sogar schon ganz poetisch in dieser großen Unübersichtlichkeit, die Denken, Wahrheit, Sprechen und Leben heißt. Wo ist der Ariadnefaden in diesem Labyrinth? Wer ist der Minotaurus? Wo hält er sich versteckt? Vielleicht in meinen Fragen, in meiner Sprache, in meinem Denken? – Würde ich nicht denken, gäbe es vielleicht gar keinen Minotaurus.
Aber dann wäre ich doch keinen Schritt weiter als die Maschinen-Menschen, die gedanken- und willenlos nur noch funktionieren. Im Töten und Experimentieren und Gehorchen. Auch wenn sie glücklich und zufrieden scheinen.(Seufz)