8 Liebe und Abschied (Interview)
Reinhold Urmetzer im Gespräch über seinen Liederzyklus „Maienzeit“
Warum haben Sie sich entschlossen, „Kunstlieder“ zu komponieren, fast schon ein Anachronismus in unserer Zeit?
Ein Anachronismus? Warum? Es gibt immer noch Konzertabende, in denen Kunstlieder vorgetragen werden, auch neuere im Internationalen Stil.
Was meinen Sie mit „Internationalem Stil“?
So wie das Bauhaus der zwanziger Jahre international die moderne Architektur beeinflusst hat und bis heute weite Teile der Welt dominiert, so dominiert auch der Einfluss Schönbergs und seiner atonalen Schule die Musikabende mit Gegenwartsmusik.
Sie verwenden in Ihren Liedern keine atonalen Melodien.
Stimmt. Neue Töne oder Geräuschexperimente, also das gezielt Avantgardistische von Kunst etwa im Sinne von Helmut Lachenmann, das kommt bei mir weniger vor. Ich zitiere zwar den Serialismus, die isorhythmische Motette, Musikgrafiken oder Bitonalität. Doch nur in feinen, fast schon homöopathischen Dosierungen.
Deshalb hören sich Ihre Lieder fast wie Popmusik an.
Vielleicht. Ich will, von der Klassik und ihren Interpreten sowie den traditionellen Konzertformen herkommend, eine Musik machen, die sowohl die eine wie die andere Zielgruppe erreicht. Und die vielen Gesangs-Studierenden dieser Welt können ein anderes Publikum kennenlernen, das auch anders mit ihrer Gesangskunst umgeht.
Welches Publikum meinen Sie?
Es gibt viele Menschen, die sowohl Popmusik, die nicht immer anspruchslos sein muss, als auch moderne Klassik, die nicht immer anstrengend bis überkomplex zu sein hat, mögen und beurteilen können.
Sind Sie für Komplexität in der Kunst?
Ich bin gegen Über-Komplexität in der Kunst. Das gibt es ja auch gelegentlich. Im Bereich von Sprache, von Philosophie mag die Überkomplexität eine gewisse Berechtigung besitzen. Verkümmert die Sprache, dann verkümmert der Mensch. Wir werden zu Bild-Zeitungs-oder SMS-Kreaturen. Aber in der Musik halte ich sie für nicht unbedingt notwendig.
Sie sprechen gelegentlich von „Musique dépouillée“.
Entkleidete Musik, ja. Ich glaube, der Begriff stammt von Eric Satie. Eine Musik auf das Einfache, vielleicht auch Wesentliche reduziert. Ohne romantische Exzesse, die ich sogar aus der Musik von Olivier Messiaen heraushöre, den ich übrigens sehr schätze. Ohne eine Harmonik im Sinne der Riemannschen Harmonielehre, ohne Jazz-Akkorde, serielle Strukturen, Geräusch-Experimente, Harlekinaden…
Sie berufen sich auf die Ästhetik Umberto Ecos, die er für die Literatur ausgearbeitet hat.
Umberto Ecos Roman „Der Name der Rose“ arbeitet mit einer populären, fast schon primitiven Gattung als Grundform, dem Kriminalroman einschließlich erotischer Zugaben. Dennoch ist dieses Werk nicht nur einfach zu lesen und spannend, also „wohltönend“, sondern angereichert auch mit Zitaten, Erinnerungen und klugen Abweichungen selbst in die lateinische Sprache, sodass eine für mich interessante Mixtur aus Vergangenheit und Gegenwart, Komplexität und Einfachheit dabei heraus kommt.
Sie gehen von der Volksliedkunst des Spätmittelalters aus.
Ich habe die meisten Lieder aus den dreisätzigen Chorbearbeitungen des Rennaissance-Komponisten Clemens non Papa herausgefiltert. Alle neun Lieder arbeiten im Klavierpart mit musikhistorischen Zitaten, die vom 13. Jahrhundert bis in die Gegenwart reichen. Die Texte stören dabei vielleicht das popmusikalische Vergnügen. Ich habe sie in ihrem altertümlichen Deutsch gelassen, was zu einer gewissen Mehrdeutigkeit in der Interpretation führt, die jedoch nützlich sein kann.
Die Thematik ist traurig, immer wieder Abschied, Auseinandergehen, und das in einer so schönen „Maienzeit“.
Es sind Lieder von Liebe und Abschied, ja, Liebesleid-Lieder. Ich habe in einer Sammlung von Hubertus Schendel – er hat in Kanada mehr als 300 000 deutschsprachige Lieder aus allen Epochen archiviert – keine fröhlichen Titel bei dem Franco-Flamen, der 1556 gestorben ist, gefunden. Zwar sind wir im Frühling, in einer so schönen Jahreszeit. Aber es dominiert immer wieder nur Liebesleid und Abschied.
Ihr persönliches Liebesleid?
Es ist zwar eine Phase des Abschieds und der Trennungen, auch das Sich-nicht-mehr-finden-Können überall um mich herum zu beobachten. Aber meiner Familie und meiner Ehe geht es den Umständen entsprechend gut. Bei mir stehen die Lieder eher für den Abschied von einem Lebensabschnitt, der zu Ende geht. Das Vergehen der Zeit macht mich immer wieder nachdenklich und melancholisch. Selbst der 30.Geburtstag war schon eine einschneidende Zäsur für mich.
Warum haben Sie gleich zwei Produktionen im Tonstudio der Stuttgarter Musikhochschule anfertigen lassen?
Die erste Fassung ist für die klassisch ausgebildeten Musiker der Opernhäuser und Opernschulen gedacht. Mittlerweile mag man auch dort die Stilvielfalt, man ist ja mit Popmusik aufgewachsen.
Es gibt aber auch viele Zeitgenossen, die mit dem Opernvibrato Probleme haben. Also habe ich für diese Zielgruppe eine Aufnahme im Stil der Alten Musik für den Gesang anfertigen lassen. Diese Fassung könnte mit Computern, Autotunes, Rhythmusspuren etc. für das andere Publikum bearbeitet werden. Mittlerweile gibt es sogar bereits eine dritte Fassung für Counter-Tenor im Stil der Alten Musik, wo Alvaro Tinjaca, ein Kolumbianer, Abschied von seinem Allerliebsten nehmen muss. Warum nicht, das gibt es in der Popwelt ja mittlerweile häufig.
Sie waren lange Jahre Fachkritiker für Neue Musik in der „Neuen Zeitschrift für Musik“, im „Orchester“, in Tageszeitungen, Rundfunkanstalten, haben selbst Werke im Stil der Neuen Musik vorgelegt. Warum haben Sie sich jetzt in Ihrer neuen Komposition von dieser Musik so radikal getrennt?
James Stirling hat bei der Einweihung seines monumentalen Neubaus der Stuttgarter Staatsgalerie wörtlich gesagt: „Die Leute mochten die moderne Architektur nicht mehr. Also habe ich mir etwas anderes überlegt“. Die beiden russischen Interpreten der Saarbrücker Uraufführung, Enni Gorbonosova und Evgeny Alexeev, beide 28 Jahre jung, waren begeistert von meinen Liedern, haben mich immer wieder gedrängt, noch weitere Stücke zu komponieren. Sie sprechen scheinbar die russische Seele an. Ich musste ihnen auch fast nichts zur Interpretation erklären. Das hat mich natürlich sehr gefreut und auch motiviert.
Ich beobachte und begleite die Entwicklung der klassischen Musik, des traditionellen Konzertwesens, der Sinfonieorchester etc. seit mehr als 30 Jahren. Es gibt Probleme, die nicht mehr bewältigt werden können. Ich denke sogar, dass so etwas wie ein Epochenwechsel stattfindet. Die musica reservata sprich Klassik zieht sich immer mehr in eine Nische zurück. Unser Zeitalter des Historismus, der alle Stile der vergangenen Jahrhunderte gut findet, scheint an einem Ende angelangt.
Jetzt, in dieser schnelllebigen und globalisierten Welt, wird die Umstellung des Hörverhaltens, was ja immer auch mit einer Art Konditionierung zusammen hängt, wohl schneller gehen als früher. Damals hat es Jahrzehnte gedauert, in denen sich die Musikstile überlagerten und dann ablösten.
Sie sitzen quasi zwischen allen Stühlen. Ist das bequem?
Als junger Musiker habe ich in Rockbands und in Neue-Musik-Gruppen gespielt. Als Journalist war ich der erste in Deutschland überhaupt, der in überregionalen Feuilletons gleichzeitig Rockmusik-Kritiken geschrieben und Konzerte mit neuer oder alter Musik sowie extravagante Operninszenierungen besprochen hat. Komponiert habe ich immer, Bücher geschrieben auch wie viele aus meiner Welt und Generation. Aber auf eine Richtung habe ich mich nie festlegen lassen.
Ob das bequem ist, weiß ich nicht. Es macht einen auf jeden Fall zum Solitär oder positiv ausgedrückt: individuell und eigensinnig.
Karel Goeyvaerts hat Sie entscheidend beeinflusst bei Ihrem Wechsel.
In einem langen Interview für die Berliner taz und die Neue Zeitschrift für Musik hat er mir 1985 im Rundfunk in Brüssel Hintergrund-Informationen zu seiner mehrjährigen Arbeit mit Karlheinz Stockhausen im Kölner Rundfunkstudio und über das Entstehen der Seriellen Musik gegeben. Es sind nicht nur musiksoziologische, sondern vor allem auch psychologische Hintergründe, die bei der Entwicklung der seriellen Musik eine Rolle gespielt haben. Die anamnetische Arbeit diesbezüglich müsste in den musikwissenschaftlichen Instituten noch geleistet werden. Aber das ist ein anderes Thema.
Was sind Ihre weiteren Projekte?
Gemessen an dem überraschenden Erfolg der Lieder will ich mein altes Tanztheater „Neun europäische Abgesänge“ – es gibt darin auch Text- und Gesangseinlagen – wieder ausgraben. Ein Lied davon habe ich in den Maienzeit Zyklus mit aufgenommen.
Wo kann man Ihre Musik kaufen?
Die Lieder werden im iTunes-Store angeboten. Beim Verlag erhält man eine CD signiert und nummeriert, also quasi als ein Unikat, zum Preis von 14,99 Euro.
Das Gespräch führte Alexandre Herrmann
Programmheft
Liebe und Abschied
Enni Gorbonosova (Sopran) und Evgeny Alexeev (Klavier) interpretieren
Renaissance-Lieder in der Bearbeitung von
Reinhold Urmetzer
Fast alle Liebesleid-Lieder des heutigen Abends stammen aus dem späten Mittelalter. In der Renaissance fanden sie große Verbreitung sowohl in der Kunst- als auch in der Volksmusik. Reinhold Urmetzer hat sie in den dreistimmigen Chorsätzen von Clemens non Papa (um 1550) gefunden, herausgefiltert und neu harmonisiert. Dort bildeten sie den cantus firmus der Mittelstimme, ohne dass man sie sofort heute noch wiedererkennen würde. Die im Konzert aufgeführten neuen Bearbeitungen für Sopran und Klavier verwenden im Klavierpart viele musikhistorische Zitate, die vom 13.Jahrhundert bis in die Gegenwart reichen. Nur die Lieder eins und acht ähneln sich in der Klavierbegleitung.
Neben dem Einfluss von Karel Goeyvaerts beruft sich Reinhold Urmetzer auch auf die Ästhetik von Umberto Eco, der das Ende der Avantgarde proklamiert hat und auf schockierende künstlerische Erfahrungen ganz verzichten will. Auch von „Musique dépouillée“, entkleideter Musik, spricht der Komponist, „ohne romantische Exzesse, ohne Harmonik im Stil der Riemannschen Harmonielehre, ohne Jazzakkorde, Serialismus, Geräuschkunst, Harlekinaden“. Die Musik ist also weniger eine Musik des Geistes, der Konstruktion oder des Experiments als eine des Gefühls und der Erinnerungen.
Das „Winterlied“ ist ein bekanntes deutsches Volkslied, das gleichwohl in der originalen kirchentonalen Melodie vorgetragen wird und dadurch einen ganz anderen Charakter erhält. Das altenglische „Scarborough Fair“ verwendet ebenfalls die spätmittelalterliche modale Harmonik, die vom Klavier rhythmisch mit Ideen der amerikanischen Minimal Music und der isorhythmischen Motette begleitet wird.
„Niemand weiß“ (Popsong) stammt aus dem Tanztheater „Neun europäische Abgesänge“ des Komponisten und ist das einzige Lied, das aus dem 20. Jahrhundert stammt.
Das „Tagelied“ war eine beliebte Musikgattung im Mittelalter. Nachtwächter und „Türmer“ pflegten morgens mit solchen Liedern die Menschen zu wecken. Mit zunehmendem Verfall von Moral und Sitte übermittelten sie immer mehr moralische Botschaften, zumal freie Liebe und außereheliche Affairen gegen Ende der Renaissance auch das Alltagsleben bestimmten. Arabismen erinnern an den maurischen Einfluss auf die Musik.
In der „Ballade“ kommt ein einziges Mal der Tod ins Spiel. Die Idee des goldenen Bechers hat Goethe später in seinem „König von Thule“ abgewandelt. „Ach Sorg“ lebt von dem Gegensatz solistisch eingesetztes Klavier und Gesang. Dieser wird von einem sehr unruhigen und fast atemlosen Klavier immer wieder konterkariert.
Die Linde ist der deutsche Baum schlechthin, unter dem sich Liebende finden können. In unserem Fall heißt es jedoch wieder Abschied nehmen – musikalisch konnotiert mit dem ältesten deutschsprachigen Kirchenlied überhaupt aus dem 13. Jahrhundert. Es wird im Klavier-Zwischenspiel jedoch nur angedeutet. Erinnerungen an japanische Pentatonik finden ihre Parallele im „Tagelied“, das mit Arabismen gearbeitet hat.
„An einem Morgen“ setzt zum ersten und einzigen Mal Dissonanzen im Stil der neuen Musik in den solistischen Klavierzwischenspielen ein. Nach der Bitonalität zu Beginn folgt im zweiten Zwischenspiel eine serielle Konstruktion in der Melodie (die Grundreihe dazu stammt von Pierre Boulez), welche den klagenden Charakter des Textes noch unterstreichen will.
„Ich sag ade“ beschließt den Liebesleid-Zyklus mit einem vielleicht versöhnlichen Abschluss. „Semplice“, einfach, schlicht, heißt die Vortragsbezeichnung. Ein erstes Mal ist jetzt das Dur-Tongeschlecht zu erkennen. Das Klagend-Wehmütige ist jetzt einer Liebesgewissheit gewichen, die trotz aller „Not und Pein“ beständig bleiben wird und an Treue sowie an ein Wiedersehen glauben kann.