217 Vom Wiederfinden(2)
Nachlese und Ausblick Expo Mailand 2015
Im Folgenden ist eine Rede abgedruckt, die ich am 13.Mai 2016 um 19.30h auszugsweise in der Stuttgarter GEDOK-Galerie gehalten habe. Anlass war die Vernissage einer Ausstellung von Marianne Pape. Musikalisch umrahmt wurde die Veranstaltung von Álvaro Tinjaca(Counter-Tenor) sowie Evgeny Alexeev(Klavier), die meine Renaissance-Lieder wieder zur Aufführung gebracht haben.
Wieder veröffentlicht ist der Text in dem am 3.Juni an gleicher Stelle erstmals vorgestellten neuen AtelierExpoBuch I “Vom Wiederfinden“(zusammen mit Marianne Pape).
Genau gegenüber dem alten Theaterhaus in Stuttgart-Wangen stand ein Polizeigebäude, groß, mehrgeschossig, sogar mit “Verwahrräumen” im dritten Stock. In zwei davon bin ich schließlich nach Umbau- und Renovierungsarbeiten mit meinem Schreibbüro eingezogen.
Auch in der für Stuttgarter Verhältnisse durchaus spektakulären Wagenhallen-Künstlerkolonie in Stuttgart-Nord wohnte ich bereits neben dem Atelier von Marianne Pape. Das Schicksal hatte uns auch in Wangen wieder zusammen geführt. “Komm doch einmal in meinem neuen Atelier vorbei”, hat die Künstlerin mich eingeladen. Gesagt, getan – schon stehe ich in diesem großen, überdimensional großen Raum, in direkter Nachbarschaft zu einem Kutschen-Sammler (auch das gibt es hierzulande), einem Katameran-Künstler (er baut dort an seinem Lebenswerk) und einem Fan für alte Rennwagen, die wieder verkehrstauglich gemacht werden sollen. Eine illustre und sehr inspirierende Nachbarschaft, kann man wohl sagen.
Ich muss zugeben, dass der Besuch im neuen Atelier von Marianne Pape für mich ein einschneidendes Erlebnis bedeutete. Quasi mein direkter Eintritt in ein Chaos, das sich in einem eben solchem Maße aus verschiedenen Gründen, auf die ich an dieser Stelle nicht eingehen kann, auch in meinem Innersten gerade abspielte und abgespielt hatte. Ein Chaos, in dem ich mich frei bewegte, mit Freude, mit Spaß und Liebe; aber auch mit Verzweiflung, Sehnsucht und Trauer. Eine gute Portion Nostalgie war ebenfalls dabei. Chaos ist für mich immer wieder die Summe aller Möglichkeiten, der guten wie der schlechten – man muss nur richtig wählen. Insofern ist für mich Chaos einschließlich dem Kreuz-und-quer-Denken, dem Kreuz-und-quer-Leben meist positiv besetzt. Es provoziert Öffnung, Neugierde, es verspricht Freiheit und Änderung, auch dergestalt Neuanfang. Grenzen werden getestet, gesetzt, überschritten; Chaos ist bei mir dergestalt oft das Gegenteil von Erstarrung, Dogmatik oder Ende und Tod.
Ein solch großes, offenes und schönes Chaos begrüßte mich also jetzt in diesem neuen Atelier. Mächtige farbige Gesteinsbrocken hängen in der Luft, begegnen sich mit durchsichtigen Glasformationen, als wenn sie sich etwas zu sagen hätten. Großformatige Fotoplakate von Landschaften, Wüsten und Vulkanen laden zu imaginären Weltreisen ein nach Afrika, Südamerika (was einen dort wohl erwartet?), ans Meer – überall an den Wänden waren sie zu finden. Früchte und Samenkörner zeugen von Überfluss und Wohlstand, von Notwendigkeit und einem Leben, das leben, das lieben will. Und sie zeugen nicht zuletzt auch von mir.
Unerklärliche Gerätschaften stehen da in den Ecken herum, es wird gemeißelt und gehämmert, geschnitten, gezeichnet, gefärbt. Riesige Skulpturen und Plakate werden erfunden und bearbeitet, angemalt, wieder zerbrochen. Gipsfiguren und Gipsbüsten schauen über uns hinweg, manchmal bedrohlich, dann aber auch wieder fröhlich und frei und wie in einem Zauberwald.
Ich war fasziniert von dieser Atmosphäre. So fasziniert, dass sich alsbald eine Idee bildete in mir und in uns, wie wir diese wunderbar positive und kreative Stimmung und Kunst weiter tragen könnten, obwohl sie eigentlich primär gedacht war für die Gestaltung der Innenausstattung des deutschen Pavillons anlässlich der Internationalen Weltausstellung Expo 2015 in Mailand (Titel: Feeding the World / Energy for Life). Wie wir diese Botschaft der Künstlerin weiter tragen könnten in die Welt, weiter als nach Mailand und Italien, diese Vitalität und Energie. Dieser Phantasie-Reichtum auch in einer Welt und Umgebung, die doch eher genau das Gegenteil war: Grau, eintönig, monoton, voller Gefahren, Umbrüche und Zerstörungen.
Schnell bildete sich deshalb in mir die Idee, parallel zur funktionalen Arbeit der Künstlerin für die Weltausstellung auch eine Dokumentation in Form einer Installation zu präsentieren, die den Entwicklungsprozess unserer Ideen darstellen, ihn begleiten und vielleicht sogar fördern könnte. “Vom Wiederfinden des Himmels und der Erde” war mein Arbeitstitel, “Bruchstücke und Erinnerungen” gingen mir als Wortfragmente durch den Kopf. Später standen sie tatsächlich als Überschriften in meiner neu im Entstehen befindlichen Anthologie mit Prosagedichten.
Schon seit langer Zeit hatte sich in mir die Überzeugung gebildet, eine Kunst zukünftig eher unterstützen zu wollen, die nicht einfach nur das Negative der Realität abbildet, widerzuspiegeln oder zu bekämpfen sucht, auch wenn dies gleichwohl ein sehr ehrenwerter und sinnvoller Ansatz sein kann. Wir Künstler sollten hier im Süden Deutschlands, so dachte ich mir, gerade unsere eigene Idee des Südens weiter entwickeln. Eine Idee, die sich in mancher Hinsicht auch mit Camus Sehnsucht nach seiner südlichen Heimat Tipasa trifft. In diesem unserem Landstrich gibt es große Städte und Landschaften, die von einem neuen politischen Denken und einem neuen Aufbruch, sogar Optimismus getragen werden. Nicht unähnlich den Tendenzen und Experimenten im Kalifornien der 60er und 70er Jahre. In diesem unserem Teil Deutschlands und in dieser unserer Welt ist trotz aller Rückschläge immer noch so etwas wie Aufbruchsstimmung zu spüren in Richtung eines anderen Lebens und neuer Lebensformen, in Richtung Himmel mit seiner Spiritualität und Erde mit ihrer Natur und ihrer Schönheit, die bewahrt werden muss, auch in ihrer Tradition.
Gut – im Osten der Bundesrepublik kämpft man mit der Vergangenheit, mit brutalen Erinnerungen und Wunden. Da muss Stasi-Diktatur, Schießbefehl und Ūberwachungsanlage, da muss der Ex- Kommunismus und alle Auswüchse eines linken Faschismus, der sich sogar als “menschenfreundlich” verstanden hat, auch in der Kunst als Diktatur benannt, widergespiegelt, realistisch widergespiegelt werden. Auch wenn ich, der ich im westlichsten Westen Deutschlands geboren bin und sogar als ein „Saarfranzose” manchmal benannt werde(Napoleons Marschall Ney oder der Filmemacher Max Ophüls waren eben solche Zeitgenossen), wenig nur mit dieser Art von Kunst anfangen kann. Im Gegensatz zur internationalen Kunstwelt, die sich, allen voran die US-Amerikaner, gierig und begierig auf jedes Hakenkreuz, auf jeden Blutstropfen von Folter oder Vergewaltigung stürzen will.
Ich hatte mir Fotos im Atelier von Marianne Pape gemacht von all den kunstvollen Artefakten, Ideen, Visionen und Dokumentationen, die ich dann in meinem Herbst-Quartier im belgischen Ostende, wohin ich mich zum Denken und Arbeiten immer wieder gerne zurückziehe, in kurze Prosagedichte weiter verarbeitet habe. Vor mir das weite Meer und es tobte tagelang draußen ein heftiger Sturm. Ich konnte mich voll und ganz in die Bilder, Fotos und Welten von Marianne Pape verlieren und alles um mich herum vergessen, selbst die Terrorwarnungen in Brüssel und Paris. Die Künstlerin schien tatsächlich ganz mit dem “Wiederfinden von Himmel und Erde” beschäftigt.
Nun sind im Rahmen unseres Projektes tatsächlich zwei Bücher entstanden, Dokumentationen, die alle diese Ideen, Sehnsüchte, Leidenschaften und Nostalgien nach einem neuen und anderen Leben, nach einem “Wiederfinden des Himmels und der Erde“, wie es sich im Atelier angedeutet hatte, bündeln und komplementär aneinander binden wollten.
Die Weltausstellung in Mailand ist mittlerweile sehr erfolgreich zu Ende gegangen. Die ausführende Agentur Milla & Partner hat in einer eigenen Veranstaltung darüber berichtet. Der von Marianne Pape als Art-Direktorin so arbeitsintensiv mit gestaltete Deutsche Pavillon hat sogar den ersten Preis aller beteiligten Nationen erhalten. Was für ein großer Erfolg!
Eine Dokumentation dieser fast schon monumentalen Live-Installation sollte anfänglich sogar in Mailand parallel zur Weltausstellung stattfinden, quasi auch als künstlerische Ergänzung gedacht zu der mehr funktional ausgerichteten Expo. Es sollte eine Rauminstallation werden mit Skulpturen, Grafiken, Fotos, Collagen, Texttafeln und Musik, vielleicht sogar mit Tanz.
Aber die Kunstwerke von Marianne Pape, ihre riesigen Skulpturen, großformatigen Bilder und Fotos waren einfach zu System sprengend. Es fanden sich trotz der freundlichen Unterstützung durch das deutsche Generalkonsulat in Mailand oder auch durch das Goethe-Institut in Verona keine geeigneten Räumlichkeiten für dieses unser Anliegen. Ein Großteil der Objekte und Skulpturen, die Marianne Pape erfunden und konstruiert hat und die in unserem gemeinsamen Buch jetzt abgebildet sind, wird in Galerien oder Kunsträumen keinen Platz finden können. Ein eher kleines Abbild nur war in der Stuttgarter GEDOK-Galerie zu sehen.
Dennoch lebt die Idee weiter, sie lebt heute und hier und sie lebt auch in verschiedenen Produkten weiter. Drei neue Kunstwerke sind mittlerweile entstanden, wenn man die Stuttgarter Installation mit dazu rechnet sogar vier: zwei Buchpublikationen und eine Musikkomposition für Stimme, Geige und Klavier.
Die Arbeiten von Maria Grazia Sacchitelli, einer in Mailand aufgewachsenen Künstlerin, sind ebenfalls, wenn man so will, eine Illustration meiner Text-Fragmente. Dieses Buch heißt “Zeitenwende”. Es ist ein Buch, das in den dunklen und fragenden Teil meiner Prosagedichte eingreift. Denn das “Wiederfinden von Himmel und Erde“, vielleicht tatsächlich doch etwas zu blauäugig-optimistisch, poetisch oder sogar romantisch gedacht von mir, hat sich als schwierig herausgestellt. Die “Erzählungen der Erde“ in diesem Band (wir haben sie sogar in drei Sprachen übertragen können, was sich als eine sehr spannende Aufgabe herausstellte) waren leichter für mich zu finden. Sie spiegeln Teile unserer Gegenwart.
Der zweite Teil, die “Erzählungen des Himmels” sind mir jedoch zu schreiben sehr schwer gefallen. Ich bin mir auch nicht sicher, ob das Thema getroffen worden ist und ich nicht Opfer einer nostalgischen Sehnsucht nach dem Unwiederbringlichen geworden bin. Von einem Himmel zu reden, der leer ist, dann ihn zu finden, ihn wieder finden zu wollen vielleicht sogar mit seinen Ideen, Göttern, Engeln und Heiligen – das mag heute ganz besonders schwierig sein. Nicht nur für mich.
Auch das vorliegende Buch von Marianne Pape scheint dieses Problem nur immer wieder zu bestätigen. Zwar treffen wir bei dieser Künstlerin manchmal auf eine Welt im Überfluss, eine Welt voller Früchte, Zeugung, Schönheit, Samen und Vitalität. Aber doch auch immer wieder voller Chaos, Zerstörung und Gewalt. Und während einen die Bilder von Maria Grazia Sacchitelli in das Grübeln, in die Dunkelheit, wenn nicht sogar in die Sehnsucht ziehen nach dem, was wir vielleicht verloren haben, führen mich die Arbeiten von Marianne Pape dank ihrer Vitalität und Schönheit doch auch in’s Helle, überschwänglich Große und dennoch Mögliche als ein Versprechen.
Ein wieder vielleicht südliches Versprechen von Wahrheit, Schönheit, Kreativität und Zukunft, wie ich es auch in den Bildern von Karin Geschke und in dem gemeinsam mit dieser Künstlerin publizierten Buch „Tipasa“ zu beschreiben, zu evozieren versucht habe.
Nicht zuletzt deutet auch der zweite, „sprachlose“ Teil im vorliegenden „Wiederfinden“-Band eine Zukunft an, in welcher das Leben leben und lieben, sich fortpflanzen und vervielfältigen will trotz aller Widerstände und Probleme, die gegenwärtig zu finden sind und unserem Anliegen, das nicht zuletzt nicht nur ein künstlerisches Anliegen sein will, zu widersprechen scheinen.
Entstanden ist in diesem Projekt für Mailand auch eine Lied-Vertonung von mir eines längeren Gedichtes, das ich in den Prosatexten “Flaschenpost” genannt habe (mein schönstes Hobby ist die Musik!). Der Text dazu ist mir ebenfalls in Ostende am Meer eingefallen. Es geht darin um einen Menschen, der seine Heimat verlässt und dem die Meeresgöttin Thetis, Mutter von Achill, der nach Troja in den Krieg und Tod gehen wird, quasi dieses Lied nach ruft. Für die Musik-Komposition in der Kammermusik-Besetzung Gesang, Geige und Klavier habe ich einen anderen und mehr musikalischen Titel gewählt: “Gesang der Meeresgöttin Thetis”.
Das Lied ist ernst. Es kann sich auf vielerlei beziehen, sogar auf den gegenwärtigen Strom der Flüchtlinge, die in einem langen und schwermütigen Exodus durch unser Land ziehen. Die Erfahrung, die in diesem Text angesprochen wird, ist ein ebenso wichtiger Teil unserer gegenwärtig so chaotischen Welt der Brüche, Umbrüche, Zukunftssorgen und Gefahr.
Vorabdruck einer Rede, die von mir auszugsweise anlässlich der Ausstellungsvernissage von Marianne Pape am 13. Mai 2016 in der Stuttgarter GEDOK-Galerie gehalten wurde. Wieder abgedruckt in dem ExpoAtelierBuch I “Vom Wiederfinden” (zusammen mit Marianne Pape).