214 Über das »Über«
Eine solche Überschrift mag einen verwirren oder zum Lachen bringen. Mich ebenfalls, einverstanden. Doch sie hat einen Sinn. Sie ist nicht eines meiner beliebten Verwirr-Spiele, Verführungen oder sprachlichen Fallen, um euch zu fesseln, zu binden oder auch zu bändigen, wie man Löwen an die Leine nehmen muss (was für ein absurdes Wortspiel hallo!). Ich verwende den Titel auch nicht im Sinne einer tagtäglichen Präposition, etwas fliegt über ein Haus, sondern im übertragenen Sinn, dass ich etwas zu einem Thema schreiben werde. Mein „über“ bedeutet also nichts anderes als der Verweis auf einen noch zu behandelnden Gegenstand, einen Gesprächsstoff, einen Leitgedanken oder ein Leitmotiv.
Es geht um die antiken Überschriften, die alle mit dem Wort „über“ oder dem Wort „vom“ angefangen haben (vergleiche dazu im Blog die Nummer 12 mit den Themen-Überschriften des Platon-Nachfolgers Xenokrates). Ich habe diese Formulierung ganz bewusst auch in meinen Blogaufsätzen aufgegriffen und verwendet. Mit dem Übersetzer dieser Texte ins Englische, Andrew Walsh, bin ich in einer Diskussion, ob es auch im Englischen zwei gleichwertige Formulierungen zu dieser Sache wie im Deutschen gibt: über und vom, englisch „on“ und „about“.
Das Wort Thema ist im 15. Jahrhundert, so sagt das etymologische Duden-Lexikon, aus dem griechisch-lateinischen t h é m a entlehnt, in die deutsche Sprache übernommen worden im Sinne von das Aufgestellte, der abzuhandelnde Gegenstand. Das Substantiv findet seine Verb-Entsprechung im Griechischen t i t h é m a i , setzen, legen, stellen – ich setze einen Gegenstand zum Beschreiben. Die neue hochdeutsche Form „über“(mit Umlaut) geht auf das althochdeutsche Adverb ubiri zurück.
Seine Ableitungen finden sich in vielen germanischen Stämmen: als ubar im Altdeutschen, gotisch ufar, schwedisch över, englisch over, wobei die Engländer bereits sehr früh das „on“ oder auch „about“ diesem „above“ gegenüber gestellt haben ähnlich wie die Deutschen.
Ebenfalls aus dem Griechischen kommend kennen wir auch das h y p é r , als ein über etwas hinaus reichen – hyper sensibel, über das einfach Sensible hinaus reichend. Dieses „hyper“ hängt jedoch nicht mit meinem oben beschriebenen „über“ zusammen. Im Lateinischen gibt es in gleicher Weise das s u p e r , ebenfalls im Sinne von „über etwas hinaus reichen“, zum Beispiel super schnell als „über das Schnelle hinaus reichend “. Alle diese über…hinaus sind aber Präpositionen, die einen konkreten Sachverhalt beschreiben, während ich diese Präposition in einem nur übertragenen Sinn verwende, dass ich etwas zu einem Thema schreiben werde. Im Sinne des postmodernen Denkens: dass ich mich auch der sprachlich weit zurückliegenden Begriffe bedienen, mich daran erinnern, sie reaktivieren werde. In diesem Fall ist mein „über“ letztlich deshalb nur ein Zitat.
Bei Diogenes Laertius werden in seiner Lebensgeschichte der Philosophen alte Themenstellungen minutiös genau aufgezählt eben unter diesem „über“gleich “vom” (siehe im Blog die Nummer 12). Ich verwende diesen Begriff also bewusst in einem sehr altertümlichen Zusammenhang, wie er heute fast nicht mehr bekannt ist.
Doch was ist, was soll, was will ich mit diesem meinem „über“? Warum diese Entlehnung aus einer weit zurück liegenden Vergangenheit?
Jede Wissenschaft hat eine eigene, spezielle, „artspezifische“ Sprache entwickelt. Viele berufen sich zwar auf die allgemeine Sprache der Mathematik, aber dennoch scheint mir auch die Frage nach der Wahrheit der Mathematik und ihrer „Erkenntnisse“- kann es mathematische “Erkenntnisse“ geben? – nur von der Philosophie beantwortbar. Denn „Wahrheit“, auch „Erkenntnis“ sind Begriffe aus dem Reich der Philosophie. Auch wenn ich vom Denken spreche, das überleben muss inmitten aller Relativitäten und Isosthenien unserer Zeit mit ihren selbständig denkenden Maschinen als gefährliche Konkurrenten, meine ich immer nur das Vokabular der Philosophie, das heißt auch: ihrer Wortgeschichte zurück bis weit in die Vergangenheit.
Ich denke, es muss eine Sprache gefunden werden, welche alle anderen Sprachen einschließt. Vielleicht auch über ihnen steht im Sinne einer Allgemeinheit und Fähigkeit zur Abstraktion oder Verallgemeinerbarkeit, der jedermann zustimmen wird oder die jedermann zumindest versteht. Versteht im Sinne des diskursiven Denkens auch im mittelalterlichen Sinne eines sic et non. Und das ist immer schon die Sprache der Philosophie gewesen. Es gab und gibt die Sprache der Theologie, der Logik, Rhetorik, der artes liberales – über allen steht und stand jedoch immer die Sprache der Philosophie, die nur von der Sprache der Kunst attackiert oder in Frage gestellt werden konnte. Denn unübertroffen ist die Kunst in ihrer Interpretations-Bedürftigkeit. Was sehr positiv ist m.E. Deshalb haben Platon, Sartre, Camus, ganz zu schweigen von den Mystikern und so vielen anderen auch immer wieder den Exkurs in die Mythologie, die Kunst, auch die kunstvolle Literatur gewagt.
Allen voran Nietzsche.
Ich verwende oder reaktiviere also wieder die Sprache der Philosophie, wie sie es seit langem gibt; hier vor allem, wie sie in der römischen Zeit des ersten und zweiten Jahrhunderts n. Chr. gesprochen und entwickelt worden ist, aufbauend auf der weiten hellenischen Tradition(1). Der große Übersetzer und Brückenbauer war damals Cicero. Er hat das griechische Denken, das heißt philosophische Begriffe in mühsamer Kleinarbeit ins römische Latein weiter geführt. Ebenso auch Seneca als der vorzeitige Philosoph des Christentums.
Bis heute zehren wir immer noch davon; selbst im Rechtswesen, in der Politik, vor allem in der Ethik(2).
Und warum suche ich mir gerade immer nur die Zeit zwischen Cicero, Augustus und Nero aus? – Weil ich denke, dass unsere Gegenwart in vieler Hinsicht ähnlich auch dieser Zeit ist. Weil wir uns ebenfalls in einem Zeitalter des militärischen und ökonomischen Imperialismus, der ethnisch-kulturellen Vielfalt, von Desorientierung, Alles-Geht und Luxus befinden, uns darin zurecht finden müssen. Zumindest wir hier in West-Europa und in den USA.
Weil ich glaube, dass die Themen und Themenstellungen immer noch die gleichen geblieben sind: Wie ein Leben gelebt werden kann, gelebt werden soll. Und diese Frage beantwortet nicht die Biologie oder Psychiatrie mit ihren Glückseligkeits-Pillen.
1 ich schreibe bewusst “hellenisch” und nicht “hellenistisch”.
2 Der Strichpunkt im ersten Drittel des letzten Satzes ist ebenfalls ein aussterbendes Zeichen. Ich reaktiviere ihn als Ergebnis ausführlicher Gespräche mit Andrew Walsh, der mir für die englische Sprache gerade das Gegenteil erklärt hat – dort scheint der Strichpunkt fast beliebter als das Komma zu sein. Warum, das ist wieder eine andere sprachphilosophische, vielleicht sogar auch sprachpsychologische Frage.