219 Vom Unheil (1)
Über Isosthenien (3)
Das alte Problem der Skepsis, dass man der Skepsis selbst gegenüber skeptisch bleiben muss, gilt im Gleichen auch für die Isosthenie: Dass sich innerhalb der Gleichwertigkeit selbst gegen diese Gleichwertigkeit eine Antithese bilden kann, die das ursprüngliche System aufhebt.
Das bedeutet: Dass es auch Situationen gibt, wo man sich gerade nicht der Meinung enthalten, gleichgültig und unentschieden bleiben kann, sich nicht festlegen soll, sondern dass es gleichwohl auch Momente gibt, wo man umgekehrt sich deutlich und bestimmt entscheiden muss. Im Fall von Liebe und Heirat etwa ist das Sich-nicht-Festlegen-Wollen geradezu schädlich, kontraproduktiv.
Das bedeutet immer wieder: Wahrheit gibt es nur von Fall zu Fall. Wir leben in einem Chaos der Vielfalt, der Möglichkeiten, Widersprüche, Gegensätze, in dem nicht festgelegt werden kann, was gerade jetzt und für immer verallgemeinerbar, richtig oder falsch sein kann, sein wird und umgekehrt. Das ist nicht unbedingt schlecht für unsere Lebensplanung, sondern es zeigt nur wieder die Wechselhaftigkeit des Lebens, unseres Lebens in dieser Welt. Zwar gibt es weiterhin die geistigen Ideen von Wahrheit, Schönheit und Gerechtigkeit, die wie Sterne am abendlichen Himmel uns einen Weg zu weisen versuchen in unserem Labyrinth. Doch sie sind sprachgebunden, also mehrdeutig und brauchen eine Interpretation; also sind sie auch offen für jedwede Isosthenie.
Wir leben – ich wiederhole mich – in einem Pluriversum der Möglichkeiten, der Widersprüche, der Vielfalt, auch des Neuen und Unvorhersehbaren. Selbst das Unheil – wir bekämpfen es doch so zielgerichtet und genau, nie wieder Krieg, nie wieder Hitler – kommt in neuen Formen und ganz unerwartet von anderen Seiten wieder auf uns zu. Dieses Chaos kann dann und wann scheinbar nur gebändigt, strukturiert werden mit einer rigiden, d.h. auch autoritären Dogmatik.
In einem solchen Zustand befinden wir uns gegenwärtig. Überall kriechen neue und alt-bekannte Herrscher und Meister-Denker aus ihren Löchern und Gräbern. Wir glaubten sie schon längst tot und begraben. Aber sie stehen wieder auf als die Alles-Wissenden, die Allmächtigen und Diktaturen, die den eindeutigen Weg zeigen: Da geht’s lang, nur so kann es richtig sein für den Staat und unser Leben. Folge mir nach und gehorche!
Willkommen in der antiken Gewaltherrschaft, die sogar gelegentlich in die Tyrannei übergewechselt ist. Etliche Staaten um uns herum, insbesondere auch im Osten Europas mit seiner Jahrzehnte alten besserwisserischen Dogmatik, was das Glück von Mensch und Staat angeht, befinden sich bereits auf diesem Weg. Die Idee der Offenheit und Akzeptanz von Widersprüchen ist tatsächlich ein neuer, in der Geistesgeschichte nur selten anzutreffender Vorschlag.
Doch ein Großteil der Bevölkerung scheint mit autoritären Führern dann und wann einverstanden zu sein. Oder wie Bert Brecht geschrieben hat: Die Schafe suchen ihre Schlächter auf dem Weg zur Schlachtbank selbst. Denn ohne Blut und Tod wird auch diese neue Auferstehung nicht zu Ende gehen, fürchte ich.
Wann gibt es Einheitlichkeit, Einheit? Wann war sie da? Wann darf die Waage der Isosthenie weniger stark im Gleichgewicht stehen? Beispielsweise das Jahr 1945 – ein Ziel gab es nur: die Toten zu betrauern, zu begraben, den Neuaufbau des Staates und aller seiner politischen Strukturen, der in Trümmern lag, zu wagen und aus den Fehlern der Vergangenheit zu lernen.
Doch jetzt, mit den Jahren, sind wir wieder in einer Phase des Vergessens angekommen und mit neuen, anderen Problemen. Auch mit Menschen, die ausgetretene Wege gehen und sich nicht mehr erinnern wollen oder können. Die Phase des Wohllebens, der Homogenität und der eindeutigen Ziele scheint tatsächlich dem Ende entgegen zu gehen.
Also kann nur der totale Zusammenbruch einer Seite innerhalb der Waage der Isosthenie die andere Seite zur alles beherrschenden Wahrheit und Eindeutigkeit werden lassen, nach der wir uns alle doch so sehr sehnen?
Es scheint so zu sein: Dass immer nach Phasen von Tod und Zusammenbruch, wenn der Friede plötzlich und endlich da ist, Glück und Zufriedenheit in der Bevölkerung besonders groß sind.
Dass jetzt das Leben endlich wieder leben, wieder lieben darf.
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vgl. Vom Unheil 2 (238)