220 Über Sehnsucht (Popmusik 5)
Drei Popsongs
Sehnsucht ist ein Laster (KF)
Um die Dinge des täglichen Lebens kümmert sich meist die Popmusik. Als da wären: Liebe, Arbeit, Feiern, Tränen, Träumen, Stress, Politik… Sie ist das Gegenteil einer Musica reservata (hallo WR!) mit hoch geistigen Ergüssen (Ergüsse?), mit kunstvoll elaborierter Verschlüsselung, die unverständlich bleibt und in ihrer Hermetik nur eine verschwindend kleine Zielgruppe erreicht.
Auch das Thema Sehnsucht wird man in den zuweilen hoch komplexen Kunstwerken dieser Gruppe selten nur antreffen können. Obwohl es in früheren Zeiten, sogar noch vor dem Zeitalter der Romantik, durchaus beliebt und angesagt war (Kennst du das Land wo die Zitronen…). Goethes Sehnsucht nach Liebe und Leidenschaft ist wohl sprichwörtlich, während Schiller als Schwabe eine gewisse gesunde Distanz dazu besessen hat. Während sich Goethe noch als über 70-jähriger in ein jugendliches Mädchen verliebte und ihr sogar sehr zum Entsetzen seiner Umwelt einen Heiratsantrag gemacht hat, während er in jungen Jahren in die Ehe von anderen eingebrochen ist und sich nichtsdestotrotz bis zum Selbstmordgedanken verliebt hat, blieb Schiller doch immer eher abwartend und „vernünftig” (in Anführungszeichen).
Deshalb soll es heute und jetzt und auf dieser Blogseite zur Abwechslung einmal, damit nicht alles zu kopflastig und elaboriert wird (siehe oben), um die Sehnsucht gehen. Ich habe drei Pop-Songs ausgewählt, zwei davon sind im Augenblick in den internationalen Hitparaden. Sie sind schön, sehnsuchtsvoll, einfach, kurz: ganz ohne Ansprüche wollen sie nur unser Herz erreichen.
Was ist schon das Herz? Die unteren Körperteile? Geist? Gefühl? – Aber lassen wir besser diese wieder nutzlose Abschweifung in überflüssiges Nachdenken, die uns nur in die Verwirrung führt, kommen wir zum Hauptthema zurück. Es geht, sagte ich, um Sehnsucht. Einmal in Form eines kleinen Papiers, das man in der Hosentasche bei sich trägt. Dann um Sehnsucht nach dem Untergegangenen, sei es die Sehnsucht nach dem Geliebten oder sei es die Sehnsucht nach der Trauminsel, die verschwunden scheint. Und ob unser Geliebter vielleicht sogar dorthin mit verschwunden sein wird. – Schließlich geht es dann direkt und einfach nur noch um unseren Wunsch und die Klage, international ebenfalls sehr erfolgreich vermarktet, Ach, wärst du doch hier!
1
Der erste Song ist wenige Wochen nur alt. Er stammt von Ed Sheeran. Ich nenne das Lied in meiner Nachdichtung, die auch eine Interpretation zu sein versucht, einfach nur “Ein Photo” (englisch Photograph). Es geht darin um eine vergangene Liebe, die in einer Photographie eingefangen und aufbewahrt wird und die man immer bei sich in der Hosentasche tragen kann.
Was für eine schöne Erinnerung an die Geliebte! Sie permanent bei sich zu haben, das gibt doch Kraft und Stärke und Zuversicht allen feministischen Verschwörungstheorien zum Trotz!
Doch das Lied nimmt eine überraschend andere Wendung. In der zweiten Strophe geht es nämlich darum, dass auch das Sterben, das Augenschließen, das Verschwunden und Vorbei ins Spiel kommen und dass sogar dies die einzige Gewissheit nur in unserem Leben sein kann. Und dass in einem solchen Fall eine Photographie von der verstorbenen Person in der Hosentasche tatsächlich eine ganz große und tiefe Erinnerung bleiben wird. Insofern ist dieser lapidare Song, von dem man glaubt, er sei nur ein einfaches Liebes- oder besser gesagt Liebes-Sehnsuchts-Lied, dennoch ein sehr sinnvoller und existenzieller Beitrag zum Leben.
Musikalisch scheint das Lied alle Stilmittel zu wiederholen, die man von der Popmusik her kennt: Einfache, wenige modale Akkorde ganz ohne Dissonanz und über weite Strecken nur unplugged mit Gitarre im Vordergrund gespielt.
Dennoch gibt es eine auffällige Wendung, die so schnell nicht jedes Songwriter-Lied unserer Zeit wiederholt: Im Refrain wird dauernd nur mit Kopfstimme gesungen.
Warum wieder dieses Falsett? Warum singt ein Mann wieder wie eine Frau? Um die Frauen besonders leicht damit ansprechen zu können? Bis heute ist mir dieses Phänomen, das mit den Bee Gees im Kalifornien der siebziger Jahre begann und im Farinelli-Film einen ersten Höhepunkt erreichte, immer noch ein Rätsel.
Andererseits gibt es das Falsettieren schon lange. Vor allem in der Barockzeit waren viele Rollen mit „Kastraten“ besetzt, die hoch angesehen waren und teuer bezahlt werden mussten, zum Beispiel von G.F.Händel. Sie hatten immer auch ein großes Publikum vor allem unter den Frauen. Warum, das ist mir bis heute ebenfalls ein Rätsel. Das Besondere an der Stimme in Ed Sheerans Lied ist außerdem die Tatsache, dass leise im Hintergrund auch noch ein Mann mitsingt, so dass also eine Männer- und eine Quasi-Frauenstimme einen sehr ungewöhnlichen neuen Klang ergeben.
Inhaltlich seltsam befremdlch ist die finale Zeile im Refrain: to come home (eigentlich um nach Hause zu kommen). Im Zusammenhang mit Warte auf mich macht diese fast schon arrogante Bemerkung wenig Sinn, es sei denn dieses Zuhause ist im Sinne einer Heimat, einer Geborgenheit und Zukunft zu verstehen, wie sie ja in den alten Sklaven-Songs der Schwarzamerikaner auch immer wieder ausgedrückt worden ist (I’m going home), was meist auch das verbotene Davonlaufen des Sklaven nach Hause bedeutet hat.
Hier meine Nachdichtung des Textes, wie ich ihn verstanden habe:
Ein Photo
Lieben kann weh tun,
manchmal, ich weiß,
Lieben kann hart sein,
manchmal, aber es hält uns
lebendig.
Liebe in einem Photo
einfangen, Erinnerungen für
uns: Augen schließen sich
nie, keine gebrochenen
Herzen – die Zeit steht
still.
Mich in der Hosentasche halten,
nahe bei dir, unsere
Augen treffen sich, niemals
alleine sein, warte auf mich,
bis ich nach Hause komme.
Liebe kann heilen,
die Seele stark machen,
ich weiß, es wird leichter.
Denke daran: nur das
nehmen wir mit beim
Sterben.
Wenn du mich verletzt, ok,
nur Worte bluten, in geschriebenen
Seiten mich fest halten
wollen – ich werde dich auch
nie weg gehen lassen.
Du kannst mich einfügen in deine Halskette,
mit 16 schon gehörte sie dir,
nah an deinem Herzen
sollte ich sein –
halte sie tief in deiner
Seele.
Liebe in einem Photo
festhalten, unsere Erinnerungen:
die Augen schließen sich
nie mehr, kein gebrochenes
Herz – die Zeit steht
still.
Mich in der Hosentasche tragen,
nahe bei dir, unsere
Augen treffen sich, niemals
alleine sein, warte auf mich,
um nach Hause zu kommen.
Ich bin fort,
deine Küsse unter der
Straßenlaterne früher in der
6.Straße, ich höre dich
flüstern durchs Telefon:
Warte bis ich…
2
Der zweite meiner ausgewählten Popsongs stammt von dem Norweger Alan Walker. Ich habe ihn „Vorbei“ genannt; eigentlich „verschwunden“ (Faded). Er ist ein Lehrstück dafür, wie man Hits aufbauen kann. Als reiner Instrumentalbeitrag komponiert, mit Hilfe eines großen Konzerns kostenlos und ganz ohne Copyright ins Internet gestellt, ist die Beliebtheit der Komposition ohne Gesang schnell von zahlreichen Video-Produzenten ausgenutzt und popularisiert worden. Dergestalt, dass das Lied und sein Komponist eine große Bekanntheit erreichen konnten, auch ohne dass die GEMA mit ins Spiel gekommen wäre.
Der nächste Schritt war konsequenterweise, dass man dieses Lied dann mit einer Gesangsstimme neu veröffentlichen und quasi automatisch in den Hitparaden platzieren konnte. Dieses Mal natürlich mit Copyright und mit Geld verdienen, so dass werbemäßig alles perfekt gemacht worden ist für diesen neuen Song.
Das Lied ist ebenfalls wie das vorhergehende melancholisch. Auch hier geht es um einen Abschied, ein Verschwinden und um eine Sehnsucht. Die Sehnsucht nicht unbedingt nur nach Liebe – man weiß es nicht so genau. Jedenfalls stellt die alles dominierende Zeile im Text und überraschender Weise auch in der Melodie (sie bleibt für eine längere Zeit wie una tasta nur auf einem einzigen Ton, was recht selten in der Popmusik vorkommt) immer die klagende Frage: Wo bist du jetzt (where are you now)? Natürlich folgt keine Antwort, sonst würde es uns allen besser gehen und das dazu passende Video, welches in einer traurigen Trümmerlandschaft Estlands spielt, würde uns auch etwas leichter verständlich werden.
Die Sängerin schwindet dahin, ja sie ist fast schon so todesverloren wie Ophelia im Wasser von Shakespeare.
Doch das Lied nimmt eine überraschende Wendung: In der zweiten Strophe springt die Sehnsucht in die Antike zur Insel Atlantis hinüber. Die Frage, wo bist du nun, wird jetzt direkt an die Insel gerichtet, und diese Insel – sie ist verschwunden bekanntermaßen irgendwo tief unten im Meer. Noch einen Schritt weiter in der altgriechischen Mythologie spricht die Sängerin dann sogar von Monstern und Dämonen, die sie plagen, und sie weiß nicht mehr wohin mit ihren Wünschen, ihrer Sehnsucht und ihrem Traum (do you feel us).
Doch es war ein Er, der ihre Seele in Flammen gesetzt hat, das wissen wir mittlerweile genau, und es geht auch nicht mehr um die Insel Atlantis. Das kleine Spiel mit der Mythologie war nur ein Verschweigen, dass er verschwunden ist warum auch immer und alles ist – vorbei. Im Song selbst, in dieser künstlichen und elektronischen Klangwelt, die fast nur von Computern erzeugt worden ist, werden sehr stark das Verschwinden und Vergehen, Ohnmacht und Verzweiflung der Sängerin dargestellt, auch wenn immer wieder ein dumpf pochender starker Tanz-Rhythmus uns aus unseren somnambulen Träumen und Erinnerungen wecken kann.
Auch diese Person spricht im Lied vom Lebendigsein trotz aller Trauer und Sehnsucht, trotz all dieser Monster und Dämonen, die in unserer Seele ein wildes Gemetzel anzustellen versuchen, bis das Lied zu Ende ist. Lieber negative Gefühle als gar keine, nicht wahr.
Gleichwohl ist das fast schon wie im russisch-orthodoxen Gottesdienst syllabisch so sehnsuchtsvoll vorgetragene Where are you now sehr eindringlich und beeindruckend. Vor allem wenn es von einer fast teilnahmslos kalten Maschinen-Stimme vorgetragen wird, die doch so weit entfernt ist von der menschlich wirkenden FalsettStimme Ed Sheerans. Eben eine leichenblasse Ophelia, die ihren Schwanengesang unterwegs nach Atlantis anzustimmen bereit ist, anzustimmen bereit sein muss und vielleicht auch nur vorgibt, ihn verloren zu haben (wer ist ihn?).
Doch eine Hoffnung bleibt auch in diesem Lied: Loslassen, Atmen, ewige Ruhe – der buddhistische Verzicht auf das Begehren, auf Liebe und Lust, die antike Gleichgültigkeit und skeptische Coolness allen Herausforderungen und Veränderungen des Lebens gegenüber scheint auch dieses Liebesleid voll Sehnsucht und Melancholie besänftigen zu können. Nicht nur die Liebe ist vorbei, sondern auch das Liebesleid, ohne den anderen nicht leben zu können.
Vorbei
Du warst der Schatten in meinem Licht,
hast du es gefühlt, bemerkt, ein
anderer Beginn,
verschwunden
verloren
vorbei
Angst, unser Ziel außer
Sicht im hellen
Licht möchte ich uns /
Wo bist du jetzt?
Ein Traum?
Nur Phantasie?
Unter den hell verblassenden
Lichtern hast du mein
Herz in Flammen
gesetzt
Atlantis tief im
Meer – ein Traum?
Wild kämpfen die
Monster in mir
herum.
Verschwunden,
verloren
vorbei
Nur Untiefen –
nie habe ich bekommen,
was ich brauchte,
Loslassen, tiefes
Eindringen in die
ewige Ruhe des
Meeres,
Atmen,
lebendig
sein.
Wo bist du jetzt?
Atlantis unten im
Meer ein Traum? Nur
Phantasie? Wild kämpfen die
Monster in mir
herum.
Verschwunden,
verloren
vorbei
3
Das dritte Lied stammt von einer Meistergruppe, Pink Floyd. Ich denke sogar, dass sie von allen Gruppen der letzten Jahrzehnte die beste war. Sie hat sich wie so viele andere in dieser besonders kreativen und anspruchsvollen Ära Ende der sechziger Jahre entwickelt und in den Siebzigern ihren Höhepunkt erreicht. Was die Instrumentalbeherrschung oder die strukturelle Komplexität der Songs betrifft, gibt es gewiss noch einige andere wohl klingende Namen wie Yes, King Crimson, Gentle Giant oder Genesis und Peter Gabriel. Vom Einfluss her gesehen mögen die Beatles vielleicht bedeutender gewesen sein und größere Moden begründet haben.
Aber immerhin war Pink Floyd führend in der experimentellen Phase des progressiven Rock (Artrock) und hat sich wie kaum eine andere Gruppe mit ihren experimentellen Klängen der modernen Kangfarbenmusik der Neutöner genähert (Ummagumma). Sie hat ebenso aber auch populäre Songs veröffentlicht, die uns alle bis heute in Erinnerung geblieben sind. Dass man zum Beispiel keine Lehrer, keine Erziehung, keine Schule brauche etc. Nicht zuletzt hat die Gruppe durchweg auch eher das allgemeine Weltleid innerhalb unserer seelischen und materiellen Mauern in Musik gefasst und war damit ein deutlicher Kontrapunkt zu all den verlogenen Versprechungen und Scheinlügenstunden der Popkultur.
Der Song, den ich ausgewählt habe, ist einer der beliebtesten überhaupt. Er wird immer noch in die Hitparaden von Oldie-Charts gewählt und es geht darin nur um einen direkt ausgesprochenen Wunsch, eine Sehnsucht: Ich wollte, du wärest hier (wish you were here).
Im 1.Teil wird alles Unglück dieser Welt aufgezählt: persönliches Leid (pain), Helden werden zu Gespenstern, der (Vietnam-)Krieg, das Eingesperrtsein, Ängste… Voller Schwermut und Melancholie wird alles infrage gestellt, existenzielle Einsamkeit und Verlorenheit dominieren und finden schließlich ihren traurigsten Ausdruck in einem Bild von zwei verlorenen Seelen, die wie Fische in einem Wasserglas, eingesperrt in einem Käfig ihre Kreise ziehen. Jahr für Jahr, ohne Boden und Grund; immer wieder nur mit denselben Ängsten.
Es geht jetzt nicht mehr um Liebe oder Liebesleid, sondern ganz andere Dimensionen, andere Stufen der menschlichen Existenz werden angesprochen und in eine künstlerische Form gebracht.
Das Wikipedia-Lexikon interpretiert den Song als einen traurigen Nachruf auf den ersten Gitarristen der Band, Syd Barrett. Es gibt aber wie immer beim Interpretieren mehrere Zugangsmöglichkeiten zu dem Lied, und jeder wird seinen eigenen Sinn darin finden können.
Der Song erzählt auch musikalisch und kompositorisch von einer anderen Zeit. Einfach in der Akkordik, im Sound, in den Instrumenten. Kein strenger Strophenbau, keine perfekt glitzernde Klangfarbe mit Verfremdungen durch elektronische Computerprogramme. Die collagenhaft eingeblendeten akustischen Radio-Zitate, darunter auch kurz die 4.Sinfonie von Tschaikowski, stören eher und wirken heute etwas langatmig-hörspielhaft bei all den stromlinienförmig konstruierten Songs der Gegenwart (siehe oben).
Dennoch trifft dieser eine Satz, dieses Stöhnen mit einigen wenigen Worten im Konjunktiv, er trifft uns direkt ins Herz: Ja, wärst du doch da! Könnte ich mich doch mit dir austauschen über all dieses Leid in mir und in der Welt, die schlimmen Zustände um uns herum trotz Luxus und Freiheit und Wohlstand, Angst, und unsre große Sehnsucht nach Nähe, Liebe und Schutz.
Du fehlst mir wirklich. Wärst du doch da!
Da sein
Du glaubst, Du kannst Himmel von Hölle unterscheiden,
das helle Blau von deiner Pein, grüne Felder von grauem
Stahl und ein Lächeln von einer
Maske?
Haben sie Dich schon dazu gebracht, Deine Helden als
Gespenster zu sehen? Heiße Asche sind die
Bäume geworden, heiße Luft eine kühle Brise, kalter
Komfort verhindert jeden Wunsch nach Änderung?
Und bist du vom Statisten im
Krieg zu einem Führer in diesem
engen Käfig geworden?
Wie wünscht’ ich mir doch,
Du wärst hier!
Wir zwei verlorene Seelen in einem
Goldfisch-Glas, Jahr für
Jahr und immer über demselben
Grund.
Was haben wir gefunden?
Nur die gleichen alten
Ängste, immer nur sie.
Wärst du doch da!
Ed Sheeran, Photograph 3.33
Alan Walker, Faded 4.26 (Video vom 3.12.2015 mit Shahab Salehi)
Pink Floyd, Wish you were here 4.54(Die ganze LP ist hörenswert)
Vgl. auch Über Popmusik 1-4
Inhalt ganz Nr.91.
Buchtipp: Reinhold Urmetzer, “Drei Popsongs über die Beziehung der Geschlechter”
(auch als E-Book)