222 Garten der Ideen
Rede vom 4.Juni 2016 anlässlich der Finissage von Marianne Papes Ausstellung und der Präsentation des neuen ” Vom Wiederfinden”-Buchs in der Stuttgarter GEDOK-Galerie
(Photos auf Twitter vom 5.Juni 2016)
Liebe Kunstfreunde,
Wenn Sie jetzt diese Ausstellung und diese Veranstaltung heute besuchen, dann befinden Sie sich in einem Prozess. Sie sind nämlich in einem “Garten der Ideen” oder auch in einem “Feld der Ideen” angekommen, wie dies letzten Mittwoch hier in der GEDOK-Galerie bei der Vorstellung des deutschen Pavillons in Mailand bereits benannt und dokumentiert worden ist. Diesen “Garten der Ideen” habe ich persönlich vielleicht als erster betreten dürfen, und zwar als Besucher im Atelier von Marianne Pape. Wir beide arbeiteten schon in den Wagenhallen, in dieser Künstlerkolonie am Stuttgarter Nordbahnhof, zusammen in einem Gebäude. Sie mit ihrem Atelier, ich mit einem Schreibbüro. Dann mussten wir wegen Stuttgart 21 umziehen in die alte Polizeiwache gegenüber dem ehemaligen Theaterhaus in Wangen.
Der Besuch vor zweieinhalb Jahren dort im neuen Atelier hatte mich fasziniert, ja fast schon existenziell getroffen. Was ich dort gesehen habe, war mir neu, ein Chaos der Sinne und Formen, wie ich es noch nie in meinem Leben erlebt hatte: Riesige Gesteinsbrocken in der Luft, Skulpturen, große Plakate, Fotos, Bilder an den Wänden – alles in einer unglaublichen Vielfalt und Dichte. Aber dieses Chaos war für mich ein äußerst positives Chaos, weil es Kreativität, Ideen, Originalität und Emotion ansprechen und auch wecken konnte.
Dass dies eine Vorform des später so benannten “Garten der Ideen” war, wie er auch in Mailand im deutschen Pavillon der EXPO-Weltausstellung zur Entfaltung gekommen ist, war mir damals noch nicht klar.
In diesem Garten hat sich dann sehr schnell sehr viel entwickelt und es entwickelt sich weiterhin. Es sind quasi Samen und Keimlinge in verschiedene Kunstsparten gelegt worden, in die Bildhauerei, in Musik, Literatur, Buchmacherkunst, ins Grafikdesign – vielleicht sogar in den Tanz, die bis heute lebendig geblieben und am Wachsen sind.
Verblüht ist zwar die preisgekrönte Mailänder Ausstellung, um im Bild zu bleiben. Aber es geht weiter, auch heute und jetzt.
In meinem Herbstquartier in Ostende, wohin ich mich gerne zum Schreiben zurück ziehe, sind Texte für ein Buch entstanden, die das Atelier von Marianne Pape und ein wenig auch die Mailänder Ausstellung beschreiben. Diese Texte gehen oft weiter als die bildnerischen Vorlagen. Denn sie sind auch beeinflusst von der damaligen Stimmung in Brüssel und Paris, die von großer Terrorangst geprägt war und wo ich selber noch nicht einmal wusste, ob ich bei der Rückreise es wagen sollte, den abgesperrten Umsteige-Bahnhof Midi in Brüssel überhaupt zu betreten. Ich war also existenziell eingespannt auch in eine sehr politische Welt.
Diese Gefahr und die überschäumende Kreativität in Mariannes “Garten der Ideen” samt seiner Wildheit und Gebrochenheit, diese beiden Pole bestimmen weiterhin den Prozess, in dem wir uns befinden – den Prozess von Vielfalt, Unterschiedlichkeit, Zeugung und Kreativität; aber auch mit Unsicherheit, Gefahr und existenzieller Not. In diesem Zwiespalt bewege ich mich, bewegen wir uns alle.
In der jetzt vorliegenden Dokumentation sind Texte und Bilder in einer bunten Mischung gesammelt, die auch interpretieren will: Ein Text beschreibt das Bild, das Bild interpretiert den Text und umgekehrt. Ein Zwiegespräch zwischen Sprache und bildender Kunst hat sich also entwickelt, das bis heute und sogar jetzt in diesem Augenblick noch anhält.
Auch für den Buchmacher und Gestalter Paul Pape war es eine Annäherung an Fremdes und Neues. Einmal hat er schon vor einem Jahr Ostende-Texte von mir ausgewählt und sie für eine Hochschul-Abschlussarbeit grafisch gestaltet und illustriert. Zum anderen zeichnet er auch verantwortlich für die heutige Buchausgabe, diese Dokumentation, die wir ihnen jetzt mit Freude und Stolz vorstellen können.
Sogar die Musik darf sich an dieser grenzüberschreitenden Annäherung beteiligen: Einen längeren Text, in meiner Anthologie “Flaschenpost” benannt, habe ich vertont für Stimme, Violine und Klavier, und ich bin sehr froh, dass er an dieser Stelle heute Abend gleich erklingen darf.
Marianne Pape/Reinhold Urmetzer, “Vom Wiederfinden” (AtelierExpoBuch I) Finissage-Preis, nur in der edition weissenburg erhältlich
Reinhold Urmetzer, Prosagedichte edition weissenburg 2015, ISBN 978-3-7386-7887-1