223 Über Pop-Art (Popmusik 6)
All I wanna do (Sheryl Crow)
Ich vermute, dass Ihr das Anspruchsvolle sucht, nicht wahr, das Elaborierte, Gebildete und Kluge? – Aber wie wär’s einmal mit dem Gegenteil? Dem Einfachen, Primitiven und Anspruchslosen, der Unterwelt quasi, vielleicht sogar mit ihren Monstern und Dämonen? Ihr habt die drei PopSongs im Blog Nr. 220 gerne gelesen; sie sind oft angeklickt worden. Deshalb hier wieder ein weiterer Versuch über Popmusik, und ohne Euch dabei zu nahe treten zu wollen (Entschuldigung). – Diesmal muss es ein Song aus den USA sein. Nicht aus dem zerfranst zerknirschten Brexit-Britannien mit seinen Ansprüchen an Stil, Können und Kunst selbst in der Popmusik. Mein Song kommt aus Los Angeles. Der Stadt der Zukunft? – Vielleicht. Vielleicht aber auch eher eine Stadt der Vergangenheit.
*
Die Pop-Art war eine meiner Lieblings -Kunstrichtungen in der Jugend. Sie kokettierte, vielleicht auch aus einem reinen Unvermögen heraus, mit dem Einfachen. Ich sage nicht unbedingt mit dem Primitiven, aber die amerikanische Mittel- und Oberschicht war doch in ihrem Anspruch, was hohe Kunst, Belesenheit, moralische Integrität betrifft, immer noch fest genug in der Hand des europäischen Denkens samt seiner Religionen; sie war also infolge dieser neuen Kunstrichtung bis ins Mark hinein in ihren Grundfesten von Kunst und Können erschüttert.
Pop-Art war dergestalt eine erstmals wirkliche und auch einflussreiche Massenkunst, und sie begeistert die Massen bis auf den heutigen Tag: in Sachen Grafik, Malerei und Design, im Bereich der Literatur; vor allem aber in der Musik. Popmusik und Klassik – das sind zwei Antipoden seit den 60er Jahren, und sie sind es bis heute geblieben. Selbst wenn WR glaubt, das hat’s immer schon gegeben.
Im vorgestellten Titel von Sheryl Crow finden wir gleich zwei typische Merkmale von Popart: Im Text die Lapidarität, mit der die Sinnfrage gestellt wird (warum und auf welches Ziel hin sollen wir überhaupt leben). Und in der Musik das deutliche Abweichen von der europäisch-kirchenmusikalischen Popharmonik. Jetzt begrüßen und begleiten uns im Lied eher zwei schräge Jazzakkorde bei unserer Suche nach Spaß und Lebenssinn. Während die Sängerin alsbald wieder in der Menge der PopMusici verschwunden ist, blieb das Lied bestehen, es wurde sogar in seinem Erscheinungsjahr 1994 preisgekrönt und es bleibt weiterhin fast ein musikalischer Außenseiter im Mainstream der Popkultur (1).
In der Literatur zähle ich auch die Beat-Poeten der Fünfziger Jahre als einflussreiche Vorläufer dazu mit ihrer kunstlos-lapidaren Alltagssprache, ihren Drogen- und Sexparadiesen voll Müll, Musik und Rausch. Eine Poesie, die fast nicht mehr zu unterbieten ist und auch hierzulande etliche Nachahmer gefunden hat. Jack Kerouacs „Unterwegs“ (“On the road“) sei hier nur als wegweisend im positiven Sinne genannt.
In der Bildenden Kunst will ich den New Yorker Andy Warhol, ein Kind tschechischer Einwanderer, als einen der Ikonen des Pop bezeichnen. Er kokettierte in jeder Hinsicht mit seinem kreativen Dilettantismus und er hat daraus tatsächlich eine neue Kunstrichtung gemacht, die bis heute Gültigkeit besitzt. Bahnbrechend war sein Einfluss vor allem in der Werbung und im Design. – Künstlerisch bekannt geworden ist er mit seinen Brillo-VerpackungsBoxen, ColaFlaschen und Siebdrucken, die Alltagssituationen und -Sensationen einfach nur lapidar dokumentierten, sie fast schon wie Reliquien eines fröhlich-unbedarften Coca-Kolonialismus und Konsumismus zur Schau stellten. Diese Reliquien wurden sehr gewinnträchtig, denn das musste unbedingt so sein, vervielfältigt. Primitive und schrill kolorierte Portraits von Mao bis Monroe, ein Verkehrsunfall, der Elektrische Stuhl, Transvestiten, Rockmusiker, Prostituierte waren die Themen und bis hin zu seltsamen „Underground“-Filmen, die ewig lang dauerten und sich mit nichts anderem als nur einem Motiv vor starrer Kamera befassten: Ein ganzer Tag vor dem Empire State Building, ein küssendes (Männer-)Paar dreißig Minuten lang, der Transvestit isst eine Banane (auch ewig lang), Penner, Stars, Politiker, Prostituierte…
In Erinnerung geblieben ist mir Warhols WesternParodie “Lonesome Cowboys“, wo diese Männer noch nicht einmal richtig reiten konnten und dauernd vom Pferd gefallen sind. Die Ekstase der Obszönität erreichten, um in der Terminologie Jean Baudrillards zu bleiben, erfolgreiche Filme wie Trash (Müll) und Flesh (Fleisch), die sich mit dem Thema “Müll” in den menschlichen Beziehungen „wertneutral“ (“cool”) beschäftigten und wirkliche Tabu-Brecher waren. Manche Beobachter fanden diese Filme und diese Kunst einfach nur noch eklig.
Warhol hatte in seiner „Factory” in New York etliche Künstler der unterschiedlichsten Art um sich versammelt, darunter später so berühmte Musiker wie John Cale oder Lou Reed („Walk on the wilde side“), aber auch seltsame Schauspieler wie Joe Dalessandro, der als erster meines Wissens in einem Film mit Kunstanspruch seinen nackten Körper einschließlich erigiertem Penis in dauernder Aufnahme vor der Kamera zur Schau stellte (nackte Frauen gab es bereits seit den 50er Jahren, auch wenn sie noch nicht so obszön posierten).
Die Apotheose dieser einfachen, primitiven, auch ganz unvollkommen-unperfekten Kunst hielt aber nicht lange an. In der Rockmusik bildeten sich Artrock-Gruppen wie Pink Floyd, Genesis, Yes, später auch Queen. Es gab eine plötzliche Rückbesinnung auf expressionistische Malerei, die die Popart und den abstrakten Expressionismus ablöste und in Italien Transavanguardia, in Deutschland “Wilde Malerei”genannt wurde. Der Spuk und das Kokettieren mit Unterschicht und Unterwelt war dann auch mit dem neuen Denken der postmodernen Franzosen(“Poststrukturalismus”) schnell wieder vorbei. Ganz zu schweigen von der Gegenwart, wo die jungen Menschen schon wieder eingesperrt sind in einen glänzenden Käfig von Markenwahn, persönlicher Stilisierung im Körperkult und übersteigerten Ansprüchen an Leben, Lieben und Kultur.
Nicht vorbei jedoch war dieser Paradigmenwechsel in der Popmusik. Sie blieb sich oft und offenherzig treu (We’re only in it for the money, Frank Zappa). Das Lied, das ich vorstellen will, stammt aus Los Angeles. Ein Student aus der Ukraine, den ich auf meiner letzten Portugal-Reise in Peniche kennen gelernt hatte, fragte mich, ob er sich besser zuerst New York oder Los Angeles ansehen sollte? New York ist abgesehen von seiner beeindruckenden HochhausWelt noch relativ europäisch gebildet und strukturiert, habe ich geantwortet, während Los Angeles ein neuzeitliches Geschöpf von Anonymität, Monotonie, Automobilität und Gleichförmigkeit darstellt.
Diese Stadt ist keine Stadt, wie man sie üblicherweise kennt. Ohne Zentrum, jedes Haus mit wenig benutztem Pool, von klimatisierten Räumen in klimatisierte Autos und wieder zurück, riesige Straßenreihungen, alle nur mit Zahlen benannt. Die längste Straße führt direkt in die Wüste und ist 100 km lang. Dafür gibt es aber in Los Angeles auch einen Park der Weltreligionen, wo diese sich brüderlich vereint präsentieren dürfen (wir glauben alle an den einen Gott), es gibt die faszinierendste postmoderne Architekturlandschaft überhaupt, man findet hermetisch abgeriegelte Stadtviertel voller Rassismus und Gewalt und es gibt hier die Reichsten der Reichen, wie ich sie noch niemals vorher habe kennenlernen dürfen (2).
Im Lied von Sheryl Crow geht es ganz lapidar nur um Spaß. Noch nicht einmal um sexuellen Spaß, sondern einfach nur um Spaß; nicht um Freude oder Lust, noch viel weniger um Glück im europäischen Sinne. Es reicht, in einer kleinen Kneipe zu sitzen, Bier zu trinken, gegenüber der AutoWaschsalon; ein Bekannter sitzt neben dir, trinkt, spielt mit Streichhölzern und seiner Bierflasche, morgens mittags und abends. Nur ein bisschen Spaß. Sonst nichts, das genügt.
*
Was ich will
Achtung! Das ist keine Disco und auch kein Country Club. Es ist LA!
(los geht’s!)
‘Alles was ich will ist nur etwas Spaß haben bevor ich sterbe’, sagt der Mann irgendwoher redet er Schwachsinn, William heißt er, sagt er, aber es kann auch Bill sein oder Billy, Mac, Buddy und er ist voll eklig zu mir und ob er je einen einzigen Tag Spaß hatte in seinem Leben, frage ich mich.
Dienstag-Mittag Bier trinken in einer Bar neben einer riesigen Autowaschanlage, anständige Leute überall in der Welt waschen ihre Autos in der Mittagspause, spritzen und schrubben so gut sie können in ihren Kleidern und Anzügen, fahren dann mit ihren glitzernden Datsuns oder Buiks zurück zum Telefonshop oder Plattenladen, nicht so wie Billy und ich, denn ich will etwas Spaß haben, ich fühl’s ich bin nicht die einzige bis die Sonne hinterm Santa Monica Boulevard aufgeht.
Ich mag gutes Bier morgens und Billy kratzt von der Flasche das Etikett ab macht die Schnipsel kleiner, zündet Streichhölzer aus seiner übergroßen Schachtel an und lässt sie in seinen dicken Fingern runter brennen auf dem Tresen, dann ausblasen, fluchen, der Flasche auf dem Boden zusehen wie sie sich rumdreht.
Ein glückliches Pärchen kommt in die Bar gefährlich eng beieinander, der Barkeeper blickt kurz hoch von seinen Stellenanzeigen und dann ist die Bar wieder unser, Tag und Nacht und Waschanlage und Zündhölzer und Flasche und saubere und dreckige Autos und Sonne und Mond und ich will doch nur etwas Spaß
(1) Ähnlich und auch vergleichbar ein jüngerer amerikanischer Hit gleicher Art: “Cool Kids“ der Gruppe Echosmith, worin es gleichwohl direkter um das Schichten-Problem geht: Ich will ebenso reich und schön und berühmt sein wie du, warum ich nicht (Echosmith – Cool Kids, Official German Lyric Video).
(2) In den 80er Jahren organisierte das Deutsch-Amerikanische Institut (DAI) Tübingen eine ausgedehnte Studienreise über Presse und Kultur nach Los Angeles. Es gab interessante Führungen und Einblicke unter Einbezug der bunten Welt von Hollywood und Beverly Hills. Ich wohnte für mehrere Wochen auf dem Campus der Universität von LA in Irvine im Süden der Stadt und nicht weit von Newport Beach entfernt, dem Resort der Schönen und Reichen.
Sheryl Crow, All I wanna do is to have some fun (Studionaufnahme)
Originaltext im Stil der Beat-Poeten von Wyn Cooper (1994 für den Song bearbeitet von fünf Autoren)