227 Wieder gelesen: Von Wahrheit und Wissenschaft
Blog Nr. 20
Ein sehr früher Aufsatz im Blog ist wieder angeklickt worden, dieses Mal sogar auf google search.be (Belgien): “Von Wahrheit und Wissenschaft“. Er ist aktuell geblieben oder sogar noch aktueller geworden. Dass ich mich erkenntnistheoretisch im Lager des Konstruktivismus befinde, ist mir bekannt. Auch dass dieser nichts Neues verkündet, ebenfalls. Während ich mich ethisch und anthropologisch eher im Lager des Existenzialismus im Sinne von Albert Camus oder Blaise Pascal befinde.
Wir alle stecken tief und fest im subjektiven Idealismus, wie er vor allem von Kant entwickelt (“konstruiert”?) worden ist. Ich gehe zwar nicht soweit wie sein Nachfolger Fichte zu behaupten, dass ohne das Ich auch keine Welt existieren könne: auch wenn ich tot bin, wird die Welt weiter existieren. Nur nicht mehr meine Welt. Aber dass die Erkenntnis der Wirklichkeit von unseren Sinnes- und Wahrnehmungsorganen vorgefertigt (formatiert) wird, davon bin ich überzeugt. Auch wenn ich mein Denken nicht biologistisch verkürzen möchte nur auf diesen einzigen Aspekt.
Eine absolute, “wahre” und überzeitlich gültige Wirklichkeit lässt sich tatsächlich nicht philosophisch “konstruieren”. Sie wird immer wieder und immer wieder auch anders von uns so unterschiedlichen Menschen erzeugt. Und alles, was wir dann darüber berichten – wir sprechen damit letztlich auch über uns selbst – sind Erzählungen im Sinne Lyotards, Geschichten; das heißt auch: subjektive Interpretationen. Selbst die Mathematiker erzählen nur Geschichten, auch wenn sie mir jetzt wohl heftig widersprechen würden (Hallo SG!). Auch die Platonischen Ideen sind nur Konstrukte des menschlichen Geistes (was sage ich „nur“?). Ebenso die Weisheitsbücher der Menschheit, Bibel, Koran etc. – alles nur mehr oder weniger stimmige Konstrukte der Menschen-Ameisen, sich in dieser Welt, in die wir ohne unser Wissen und Wollen als kleinste Zelle nur hinein geworfen sind, ob wir es wollen oder nicht, zurecht zu finden (1).
So sind wir gezwungen zu kommunizieren; anders als die Tiere, die Pflanzen, die Rhizome in der Erde und die Geisterwelt darüber bis hin vielleicht zu den Sternen und Planeten, die ebenfalls in einer Abhängigkeit, in einem Kontakt zueinander stehen, den wir in unserem Ameisenstaat und mit unserem Denken, diesem Ameisen-Wissen niemals begreifen werden.
Das grundlegende Problem dabei ist, dass es einfach viele, zu viele Wahrheiten, das sind auch Wissenschaftsarten, gibt! – Wahrheiten, die von Fall zu Fall zutreffen mögen oder auch nicht. Die schmerzlichste davon trifft gegenwärtig leider wieder einmal zu: Dass manche Wahrheiten nur an der Gewalt der Gewehre gemessen werden. Wer die Macht hat, besitzt die Wahrheit zum Durchsetzen seiner Ziele. Dass Kriegstreiber, das Volk verführende Demagogen, Blender und autoritäre Diktatoren schalten und walten können, wie sie wollen – vollkommen ohne Selbstzweifel und Selbstkritik oder Angst. Sonst könnten auch nicht so viele Menschen von ihnen unschuldig und aus fehlendem Wissen heraus in den vorzeitigen Tod getrieben werden. Auch und gerade, wenn selbstmörderische Religionskriege wüten wie gegenwärtig in vielen Teilen unserer Welt. – Worüber sich dieses machtvolle All weiterhin ausbreitet mit seiner gleichförmigen Stille, dem rätselhaften Schweigen und einer allmächtigen Arroganz. Ein plötzlicher Fußtritt in diesen unseren Ameisenhaufen – und alles ist vorbei (seufz).
1 Manche werden jetzt im theologischen Diskurs behaupten, diese Wahrheiten und Weisheiten seien von einer höheren Macht dem menschlichen Geist quasi diktiert, Thomas von Aquin und die christliche Theologie sagen: “geoffenbart” worden. Und solche Offenbarungen könnten nicht mathematisch bewiesen, sondern vorläufig nur geglaubt werden. Zumal sie auch für die noch unerforschte Zukunft hinein wahr und wirksam sein werden. Ebenso wie es auch in der Wissenschaftstheorie das naturwissenschaftliche “Erklären” und das geisteswissenschaftliche “Verstehen” von Wahrheiten und Weisheiten geben kann.