228 Zeitenwende (2)
Buchpräsentation am 30.6.2016 in der Galerie der VHS Stuttgart (Rotebühlplatz), 19:00 Uhr
Ich bin gebeten worden, etwas zur Entstehung des neuen Buches und seiner Texte zu sagen.
Der direkte Anlass dafür war mein Besuch im Atelier von Maria Gracia Sacchitelli. Die Künstlerin, die ich schon lange kenne, zeigte mir ihr Tagebuch aus den Jahren 2014-15 voller Grafiken, Zeichnungen, Collagen und Bilder. Sie nehmen Bezug auf das unmittelbar Erlebte, integrieren oft vorgefundene Materialien und Dinge des Alltags, sind also direkte Aufzeichnungen des Hier und Jetzt. Spontan habe ich davon Fotos gemacht. Diese Fotos begleiteten mich in mein Quartier nach Ostende in Belgien, wo ich vor allem im Spätherbst immer gerne Station mache.
Dort fing ich damit an, die Bilder zu beschreiben, zu studieren, zu interpretieren. Sie zogen mich in ihre Welt hinein und ich konstruierte meine Welt wieder daraus hervor. Haben die Bilder nun die Texte gemacht, evoziert, oder lassen die Texte die Bilder ganz neu entstehen? – Aus einem Zwiegespräch jedenfalls zwischen Bild und Text ist dieses Buch entstanden.
Es hat drei Teile: “Erzählungen der Erde” , “Erzählungen des Himmels” und “Mailand einen Augenblick“. Das Werk ist Teil eines größeren Projekts, das im Rahmen der Mailänder Weltausstellung 2015 entstanden ist und sich „Vom Wiederfinden des Himmels und der Erde“ genannt hat; wovon jedoch mittlerweile nur noch das „Vom Wiederfinden“ übrig geblieben ist. Die beiden ersten Kapitel der Prosafragmente, denn das sind sie stilistisch, werde ich gleich vortragen.
Die “Erzählungen der Erde” greifen in den fragenden und dunklen Teil meiner anderen Prosagedichte aus dieser Zeit ein. Die Bilder Maria Grazias führten mich ins Grübeln, in die Dunkelheit, wenn nicht sogar in die Sehnsucht nach dem, was wir vielleicht verloren haben. Sie waren auch leichter für mich zu – – f i n d e n , würde Platon jetzt formulieren. Sie spiegeln auch Teile unserer Gegenwart.
Doch die “Erzählungen des Himmels” sind mir sehr schwer gefallen. Ich bin mir nicht sicher, ob das Thema getroffen worden ist und ich nicht Opfer einer Sehnsucht nach dem Unwiederbringlichen geworden bin. Von einem Himmel zu reden, der leer ist, dann ihn zu finden, ihn wieder finden zu wollen, vielleicht sogar mit seinen Ideen, Göttern, Engeln und Heiligen – das mag heute ganz besonders schwierig sein. Nicht nur für mich. Dieses Wiederfinden von Himmel und Erde war vielleicht tatsächlich doch etwas zu blauäugig-optimistisch, zu poetisch oder sogar romantisch gedacht von mir.
Das jetzt fertig gestellte Buch schimmert vielschichtig. Seine Texte wie Bilder können ganz alleine bestehen. Sie brauchen einander nicht. Wenn sie sich aber im Blick oder Geist des Betrachters gefunden haben, können sie zusammen die Tür zu einer Welt öffnen, die weiter führt, als wenn sie alleine ihren Weg gehen würden. Wir sind also bei einer synästhetischen Erfahrung angekommen, die heute Abend sogar noch durch die Musik ergänzt und bereichert wird. Doch fragen Sie mich bitte nicht, warum ich diese Musik von Johann Sebastian Bach und nicht Neue Musik, die ich als Journalist, der diese Art von Musik so viele Jahre begleitet, bedient, betreut hat, ausgewählt habe. Ich kann Ihnen darauf keine Antwort geben.
Die Texte gehen außerdem manchmal eigene Wege, entfernen sich von den Bildern, kehren aber auch wieder dahin zurück. Sie sind entstanden in der Zeit, als die Terroranschläge in Paris und Brüssel stattgefunden haben und ich sogar direkt davon betroffen war, so sehr, dass ich mich in Ostende nicht entscheiden konnte, für die Rückreise den abgesperrten Brüsseler Bahnhof Midi zum Umsteigen zu betreten.
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Es gibt Fragen, die an mich gestellt werden wollen: Warum heißt das Buch “Zeitenwende“? Warum steht es dreisprachig in Deutsch, Italienisch und Englisch? Sie sind von Paul Morris und Andrew Walsh ins Englische übersetzt worden. – Wie soll man das Buch lesen, sehen, betrachten, studieren?
Natürlich leben die Bilder – sie sind hier ausgestellt und käuflich zu erwerben, man wird sogar die Vorlagen aus den Tagebüchern von Maria Grazia Sacchitelli wieder finden und studieren können. Man kann diese Bilder auch ohne die Texte betrachten; ebenso wie auch die Texte ohne die Bilder leben können, sonst würde ich nicht hier vor ihnen stehen.
Aber im Buch werden Sie vielleicht ein eher ungewohntes Hin und Her ausprobieren können von Augen und Gedanken, von Assoziationen, Abschweifung, Nachdenklichkeit…Delirirendes Denken, will ich es nennen, und die mich kennen von meinen anderen Reden und vor allem aus meinen Blog-Beiträgen, sie werden sich freuen, weil dergestalt noch eine Vertiefung, eine Intensivierung stattfinden wird. Mithin eine synästhetische Erfahrung, ich sagte es bereits, die jetzt ebenso zusammen mit der Musik und der uns umgebenden Kunst auf uns wartet.
Doch genug der Einführung, die nur heraus führt (heraus führt woraus?) und zu der man oder besser gesagt frau mich sogar hat überreden müssen.
Die Veranstaltung heute wird folgendermaßen ablaufen: In meinen Lesepausen werden Bachs Sarabanden, einmal auch ein Menuett und dann eine Gigue aus den Cello-Suiten erklingen, und ich freue mich ganz besonders, dass Beatrice Holzer-Graf so spontan und kurzfristig für den verhinderten Stephan Buchmiller eingesprungen ist. Wir werden sie fünfmal mit der schönen Musik von Johann Sebastian Bach hören können heute Abend. – Danke und herzlich willkommen, Beatrice!
Nach der Lesung wird es, wenn gewünscht, zusammen mit der Künstlerin Maria Grazia Sacchitelli eine Aussprache geben können über das ganze Projekt, denn diese Veranstaltung heute ist tatsächlich nur ein Teil eines größeren umfangreichen Projektes, das auch noch Musik („Thetis-Projekt“), ein zweites Buch („Vom Wiederfinden“ zusammen mit Marianne Pape) und weitere Ausstellungen beinhaltet bzw. zur Folge haben wird.
Doch hören wir als nächstes jetzt, nach der G-Dur-Sarabande zu Beginn, die zweite Sarabande aus Bachs Cello-Werk, diesmal in C-Dur.
Vgl.auch Nr.111 (Zeitenwende) und Nr.177 (Manifest)
Inhalt gesamt Nr. 91
Maria Grazia Sacchitelli, Reinhold Urmetzer: Zeitenwende / Change of Times, ISBN 2 000034 284025, 145 Seiten, davon 70 Abbildungen (34€, Hardcover). Deutsch, Italienisch, Englisch. Bei Direktbezug im Verlag 9€ Rabatt.