231 Über Schottland
Schottland ist innerhalb der europäischen Länder, die ich kenne, das Land der Melancholie, vielleicht auch im Winter/Herbst das Land der Schwermut. Nicht jedoch aus der Sicht der Schotten, sondern nur aus meiner eigenen Perspektive geschildert, der ich Sonne und Süden von Kindheit an kenne. Für die Schotten gibt es Musik und Tanz und Whisky und last but not least – Arbeit, wenn’s klappt. Sie lenkt zusammen mit der Sorge um die Familie relativ gut ab von den anderen Unbillen des Lebens.
Das große Industriezentrum um Glasgow mit Schiffbau, Stahlwerken, Eisen und Kohle ist verschwunden wie die Schwerindustrie fast überall in West-Europa. Auch dieses Zeitalter, das Zeitalter der Schwerindustrie, geht zu Ende. Stattdessen hat sich auch in Glasgow das Dienstleistungsgewerbe ausgebreitet mit seinen stylischen Hochhäusern, mit Tourismus, Computerindustrie, Bildung und Bankwesen.
Aber das ist gerade nicht der Grund für Schwermut und Melancholie, im Gegenteil: es geht doch wieder aufwärts! Glasgow gefällt mir tatsächlich ebenso gut wie das allseits gelobte und bewunderte Edinburgh. Aber dort findet ihr nicht so stolze und schöne Architektur-Kunstwerke, eine so große ethnische Vielfalt und ein freundlich kauziger Humor samt Weltoffenheit, die selbst das eher arrogante und sich so falsch selbstbewusst fühlende England jenseits der Grenze, die es tatsächlich gibt, übertreffen kann.
Überhaupt England – ein so verworrenes und desorientiertes Land findet man tatsächlich nirgendwo sonst in West-Europa! Insofern stimmt diese kritische Feststellung von Kardinal Kasper anlässlich des Papstbesuches 2010 in London immer noch. Auch eine genauere Analyse von Politik (Brexit) und Kultur (Popmusik) kann dies mittlerweile nur noch weiter bestätigen.
Andererseits empfiehlt Maurice Blanchot in einem solchen Zustand, sich der Verwirrung anzuvertrauen. Es ist wie eine Impfung des gesamten Systems: Positive Kräfte werden aktiviert im günstigen Fall, um einen Rückschritt oder gar Untergang zu verhindern. Erstarrung und felsenfeste Gewissheiten sind mir immer verdächtig. Das Harte bricht, das Weiche verbiegt sich nur, sagt das Sprichwort.
Doch warum rede ich von Melancholie, sogar Schwermut? – Ich habe sehr intensiv wieder einmal die wunderbare Landschaft und Natur in Schottland bestaunen dürfen. Es gibt das nackt-kahle, aber doch auch so weich-anschmiegsam geschmeidige Grün der Highlands; es gibt die wunderbar zerklüfteten Küsten mit ihren zahlreichen großen und kleinen vorgelagerten Inseln im Westen und den stolzen, vom Meer umbrandeten Klippen im Osten.
Es gibt die vielen leeren und einsamen Strände (das Wasser ist zu kalt zum Baden), und es gibt diese verschmitzt lächelnden Menschen, die neugierig scheinen auf das Andere und großzügig mit meiner Sprachschwerfälligkeit umzugehen wissen.
Doch noch einmal: Warum rede ich von Schwermut? – Ich denke, es sind die offen zur Schau gestellten Zeichen des Verfalls, die man immer wieder entdeckt und die dennoch wie stolze Trophäen eine verzauberte Landschaft schmücken, auch verwandeln können. Dazu dann noch dieses oft so neblig-regnerische Wetter sowie Stille und Einsamkeit der Berge. Immer wieder entdeckt der Besucher nämlich unvermittelt neben oder sogar in einem Gebirgssee (Loch) mittendrin eine Burg, ein Herrenhaus, auch ein richtiges Schloss – doch nur als Ruine, die uns ein trauriges Willkommen anbietet inmitten dieser mächtigen und wunderbaren Berglandschaft, die in Europa so einzigartig ist.
Immer wieder diese Ruinen. Sie zeugen von blutigem Kampf, von Raub, Mord und Totschlag. Die tragische Sicht der Geschichte bei Shakespeare kommt einem in den Sinn, auch Schiller und andere, die sich mit dieser Thematik, die scheinbar exemplarisch für das Menschengeschlecht steht, auseinander gesetzt haben. In anderen Breiten Europas gab es natürlich ebenso und noch viel heftiger Krieg und Untergang. Aber er wird dort kaschiert, versteckt, gelöscht durch Neubeginn und Neuaufbau.
Deutschland, Griechenland, Rom – sie alle erzählen grausame Geschichten, berichten von Bann und Fluch, der uns scheinbar auferlegt worden ist von wer weiß wem. Das gegenwärtige Rom in Italien löst diese Problematik mit einer wunderbar gelungenen Mischung, die man mittlerweile im außerdeutschen Kulturbereich sogar als „postmodern“ in ihrer Verwendung für die Kunst benennt. Dort stehen neben den Ruinen direkt fast schon gigantomanische Bauwerke des Barock, der Renaissance, der Gegenwart. Luxus und Lebendigkeit, die Schönheit von Welt und Zeit zeigen sich komplementär und unverstellt nicht zuletzt auch durch die Menschen dort und eine südliche Sonne.
Doch hier jetzt, im dunklen Norden, wenn sich der Regen mit seinem Nebel auf die Landschaft legt und die Berge verdeckt – hier gibt es wenig Ausgleich für diese traurigen Zeugnisse von Untergang und Ende.
Es existieren zwar noch etliche intakte Schlösser und Burgen. Aber diese halten sich eher versteckt, sind auch Botschafter einer in altertümliche Gegensätze zerfallenen Welt von Oben und Unten, Reich und Arm, Arrogant-Selbstgefällig und Verkrüppelt, welche nicht zuletzt auch die Politik dominiert (leider). Denn dass die Unterschicht in ihrem Wissen, Denken und Sprechen sehr eingeschränkt nur leben kann (ebenso wie in dem großen Vorbild USA), das will ich leider etwas provokativ und vielleicht auch vorschnell feststellen. Und dass die blendende Gegenseite, eine sich krampfhaft an die imperiale, wenngleich fast ganz verschwundene Tradition klammernde Oberschicht (einschließlich ihrer Theater-Aristokratie samt Geldadel und Kastenbewusstsein) auch nicht viel weiter ist, ebenfalls.
Also sind die wehmütigen Ruinen, einsamen Landschaften und stillen Seen auch ein Mahnmal an die Gegenwärtigen, nicht zu vergessen und die Zukunft mit Neuanfang, Änderung und Aufbruch im Auge zu behalten. Ein Blick über die Grenzen und aus der Isolation heraus schadet dabei weniger als das sich Ein-Igeln im eigenen Sumpf der Befangenheit, wie es jetzt nach der Brexit-Volksabstimmung vielleicht geschehen wird.
Dieser Anschluss an eine zukünftige Gegenwart gelingt im Vereinigten Königreich, das, wenn es so weiter geht, nur noch ein Disneyland für Touristen sein wird, nicht zuletzt doch durch die Musik. Nur die Musik, die Auseinandersetzung um Musik scheint mir ein progressives Element in diesem Land darzustellen. Nicht die berühmte Philosophy of Science, über die ich oft genug schreiben muss. Denn dass die anglo-amerikanische Musik eine neue Kunst-Epoche eingeleitet hat, darin nahtlos an die Epoche Dowlands anknüpfen kann, ist m.E. offensichtlich. Sie hat mit ihrer Vitalität, Lebensnähe, dem direkten Ausdruck von Gefühl und nicht zuletzt auch durch eine avantgardistische Neugier, die den Hörer auch textlich nicht zu unterfordern sucht, einen Weg gefunden, der nach vorne geht und die Zukunft im Zeichen von Globalisierung und Digitalisierung, Neuanfang und Aufbruch im Auge behält. Auch Werte einer gemeinsamen Welt-Kultur zu bewahren sucht: Dass wir uns als Kommunikations-Gemeinschaft unentwegt austauschen müssen über ein Leben, wie es ist, sein sollte, sein könnte.
Dass wir den Menschen auch mit seiner animalischen Kraft und Lebendigkeit im Gefühlsleben und Tanz mehr beachten und Wert schätzen sollten, wie er sich zu wehren weiß gegen alle diese neuen Arten von Fremdsteuerung, Unterdrückung und Leid.
Diesen Text schreibe ich mit einem Hinweis auf Wilhelm Hausensteins immer noch unvergleichlichen Reiseberichte über “Europäischen Hauptstädte” 1926-32 (5. Nachdruck der Auflage 1954 bei Prestel München 1975). Auch in der Erinnerung an Horst Koegler, dem ich diesen BuchTipp und sogar – in mancher Hinsicht – auch die “Kunst des Schreibens” und das Schreiben-Können verdanke. Wodurch ich auch erst das Lesen habe neu lernen können.