232 Über Isosthenien (3)
Mit Logik, Mathematik und anderen rationalen Erkenntnismethoden wird man dem Phänomen der Isosthenie, der Gleichwertigkeit eine Sache, einer Wahrheit, einer Entscheidung nicht beikommen können. D.h.: In einem solchen Fall werden diese “Störfaktoren einer rationalen Argumentation” meist aus dem Diskurs ausgeklammert, als zerstörerisch, sinn- und nutzlos verfemt, verboten. Wenn man auch nur einigermaßen vernünftig argumentieren und zu nachvollziehbaren Handlungsanweisungen kommen will, heißt es bei den Sprach-Puristen, müsse das so geschehen.
Die Kunst schafft es gleichwohl, solche Outsider und Underdogs unserer Kommunikation als sinnvoll zu präsentieren, sie uns verständlich zu machen, uns damit auch emotional zu packen. Denn nur so, emotional, wird etwas gelernt und einsichtig gemacht. Nur so funktioniert Kommunikation: Indem die Emotionen offensichtlich und nachvollziehbar gemacht werden. Das bedeutet Authentizität, authentisch sein im Gespräch.
In der Schriftsprache geschieht jedoch – meist jenseits von Gestik und Emotion – etwas vollkommen anderes und macht die Sache deshalb auch ungemein komplizierter.
Bestes Beispiel für die sinnvolle Verwendung von Isosthenien war die Definition und Akzeptanz des Tragischen, wie es bereits in der griechischen Antike und bis in die Gegenwart hinein akzeptiert wird, wirksam bleiben kann. Ein tragischer Charakter steht immer im Zwiespalt eines heftigen Gegensatzes: Er muss etwas tun und darf es gleichzeitig doch nicht. Er ist zerrissen zwischen gleichwertig-antithetischen Gegensätzen, Aufgaben, Verpflichtungen und Geboten, die ihn in seiner Entscheidungsfähigkeit hemmen, ihn passiv und dem Schicksal ausgeliefert, ihm ergeben werden lassen. Wahre Tragik des Menschen ist also eine vom Schicksal auferlegte Lähmung der Handlungsfähigkeit, sprich Sackgasse, sprich Ausweglosigkeit.
Warum? – Warum haben schon die frühen griechischen Tragödienschreiber eine solch grausame existenzielle Botschaft dem Menschen vermitteln, ihm auf dem Lebensweg mit geben wollen?
Die Botschaft lautet: Sei nicht so überheblich, mach dich nicht zu einem Gott, überschätze dich nicht, bedenke das Ende und deine Unvollkommenheit trotz all deiner Heldentaten im Guten wie im Schlechten. Die Devise lautet: Sich einfügen in den Lauf des Schicksals, es geduldig und gleichmütig ertragen lernen (die Ataraxie). Die Götter achten und ehren.
Mehr bleibt dir, Mensch, in deiner kurzen Zeitspanne gar nicht übrig.
Natürlich gibt es Momente des zweifellosen Glücks, Momente von Einheit und Identität, von Übereinstimmung und Überzeugung, dass nur diese eine Seite Recht haben kann, sich durchsetzen wird. Aber immer wieder entwickelt sich auch im Laufe der Zeit (sub specie aeternitatis) die andere Seite im Leben: Zum Glück das Unglück, zum Leid die Freude, zur Schönheit das Hässliche und so fort. – Dass man auch im Hässlichen das Schöne, im Unglück das Glück, im Leid die Freude finden kann, das macht schließlich die Kompliziertheit und auch Komplexität unseres täglichen Lebens mit seiner Widersprüchlichkeit aus.
Doch für wen gelten diese Gesetze überhaupt? Wen betreffen sie, wen gehen sie etwas an? –
Sextus Empirikus, der führende Denker und Kompilator der antiken skeptischen Schulen, er hat quasi eine Summa des skeptischen Wissens in seinen Büchern zusammen getragen, antwortet folgendermaßen: Es gibt das philosophische Leben und Denken, also die Theorie, und es gibt das praktische Leben. Zwischen beiden Lebensformen hat er streng unterschieden. Im praktischen Leben ist die Farbe Rot rot und Wahrheit wahr. Bei der Entscheidung für eine Familiengründung kann man sich nicht von skeptischen Isosthenien leiten lassen. Sonst würde es uns allen wie Buridans Esel ergehen. Und umgekehrt will gerade nicht jeder ein dem philosophischen Denken gewidmetes Leben führen, sich am philosophischen Gespräch beteiligen, auch wenn man es als nützlich und wichtig einzuschätzen bereit ist.
Das praktische Leben mit seinen Schwierigkeiten, was die Selbsterhaltung, die Arterhaltung und die Lebenstechnik betrifft, hat andere Prioritäten und andere Gesetze.
Sextus hat damit im rational-logischen Diskurs auf die Aporie, dass man auch der Skepsis gegenüber skeptisch bleiben soll und diese quasi damit aufhebt, eine gute Gegenargumentation gefunden. Das praktische Leben leben, es meistern zu können, dazu ist das philosophische Denken nicht unbedingt notwendig. Es reicht, sich anzupassen an die Gesetze, die Traditionen, die Lebensformen, in denen man sich bewegt. Genau diese Worte verwendet Sextus.
Umgekehrt ist das philosophische Denken nur notwendig und geeignet für entsprechende Menschen, die dieser Lebensform angehören (wollen). Im antiken Fall des 2.Jahrhunderts n.Chr. war es die heftige Auseinandersetzung in der Öffentlichkeit mit den stoischen Dogmatikern, die sich als Opinion Leaders und führende Meinungsmacher in der antiken Welt immer mehr durchsetzen konnten. In einer Alles-geht-Welt scheint Dogmatismus immer wieder sehr gefragt zu sein bis auf den heutigen Tag als Strohhalm im schwankenden Boot. Sexus hat auch die Mathematiker zu den Dogmatikern gezählt: “Contra mathematicos“ ist ein vor wenigen Jahren erst übersetztes weiteres Buch aus seinem antiken Codex.
Um wieder zurück zur Kunst zu kommen: Die Kunst vermag das philosophische mit dem praktischen Leben zu vereinen, zu verbinden. Sie bildet, illustriert quasi philosophische Gedanken zu einem Leben, wie es sein könnte, sein sollte mit der Praxis: wie es ist, wenn man ein Leben so oder so lebt. Mit welchen Konsequenzen, mit welchem Ziel und Ende. Was nebenbei auch noch zu beweisen war: Dass die Kunst genau zwischen dem geistes- und dem handlungs- wie auch naturwissenschaftlichen Denken steht. Wenn Antigone ihren Bruder Polyneikes einerseits nicht begraben darf, andererseits aber doch begraben muss, dann steht sie genau in einer isosthenischen Spannung, in welcher philosophisches, soziologisches und auch sogar naturwissenschaftliches Denken vom Zuschauer gefordert wird.
Dass das Denken selbst nur ein Diskurs, eine Lebensform ist, die nicht jedermann teilen muss, zeigt die tägliche Praxis. Ich denke oft: im Gegenteil. Über das Denken mögen sich die Denker auseinandersetzen. Über das praktische Leben mögen die “Normalsterblichen” sich austauschen. Über ein gutes Leben, ein gutes Essen, ein differenziertes Vergnügen am Sex braucht man sich keine philosophischen Gedanken zu machen. Man studiere dazu ein Kochbuch oder das indische Kamasutra. Wer über die Lust nachdenken will, der als abstrakter Überbegriff über solchen praktischen und nützlichen Maximen des Lebens steht, ist ein Philosoph. Doch er ist für die eben genannten Aufgaben der Praxis nicht wichtig. Wir brauchen ihn meist nicht.
Und die Politiker? – Brauchen wir sie und warum?
Sie sind m.E. ebenfalls Gestaltungs-Künstler, Macher, Entscheider: Sie müssen im weiten und chaotischen Reich der Isosthenien Entscheidungen fällen, das eine mit dem anderen zu verbinden suchen. Sie bewegen sich also wie die Künstler an der Schnittstelle von Natur-, Geistes- und Sozialwissenschaften. Sie müssen dabei manchmal mehr, manchmal weniger kompromissbereit sein und einen Konsens, eine Übereinstimmung suchen oft auch unter Nicht-Gleichgesinnten. Dazu und mit einem solchen Talent muss man jedoch geboren sein, glaube ich.
Als Gestalter des Sozialen gehört auch die Philosophie zu ihrem Bereich, vor allem das weite Gebiet der Abstraktion. Es ist, wie ich im Blog Nummer 209 geschrieben habe(“Über Abstraktion“), wichtig und nützlich zur Steuerung einer Gesellschaft. Das abstrakte Denken definiert allgemeine Ziele, die viele betreffen. Es ist das Gegenteil zum induktiven Denken, das vom einzelnen, dem Individuum ausgeht und seinen Weg zu steuern versucht. Wohingegen das abstrakte Denken die Mehrzahl, die Mehrheit betrifft. Also ist das abstrakte Denken wichtig für die Politiker als Gestalter idealiter von Mehrheits-Entscheidungen.
Ihre große und verantwortungsvolle Aufgabe besteht gegenwärtig darin, auch allgemeine Gesetze für das Zusammenleben in einer künftigen Weltkultur zu entwickeln, aufzustellen, an die man sich zu halten hat und die durchsetzbar sind. Diese Gesetze müssen sehr allgemein-abstrakt und dennoch auch genau formuliert sein, damit sie Gültigkeit und Interpretations-Breite besitzen können. Denn nur solche Gesetze, die interpretabel sind, d.h. auch eine gewisse Offenheit mit einschließen, sind menschlich. Das widerspricht zwar dem juristischen Denken von Wahrheit und Recht, das immer präzise und unwidersprüchlich zu sein hat. Aber Menschlichkeit und Recht gehen oft ganz andere Wege. Eins plus eins kann drei sein, das Schwarze weiß und das Schöne hässlich (ich wiederhole mich).
Isosthenien beweisen meist nur im logischen Bereich des Denkens, dass alles geht. Dass alles auch widerlegt werden kann, spätestens übermorgen. Nicht jedoch im praktischen Leben. Für jeden von uns, für mich und euch alle geht gerade nicht alles. Ein Glück, dass wir so unterschiedlich sind! Wie langweilig wäre sonst das Leben. Jeder hat seine Werte, seine Maßstäbe, seine moralischen Richtlinien. Ich möchte mir viele davon, ja die meisten nicht aufzwingen lassen. Aber ich habe gelernt, all dieses Andere im großen Pluriversum der sozialen Andersartigkeiten zu akzeptieren, zu tolerieren und damit umzugehen, damit klar zu kommen. Das mag bis an die Grenze des Erträglichen gehen. Ich denke, es wird auch eine Grenze der Erträglichkeit geben müssen für jeden von uns, die nicht überschritten werden kann.
Gerade darüber aber muss geredet, diskutiert, gestritten und geschrieben werden. Genau das, was ich jetzt tue. Und (fast)ganz ohne 0-1-Programmierung, Mehrheitsbildung oder gesteuerte Massendemonstrationen. –
Also bin ich für eine kleine Herrschafts-Elite, die alles mit ihrer Geldmacht und ihrem Herrschaftswissen steuern darf bis hin zur allgemeinen Glückseligkeit? – Ene Elite der Philosophen eben in einem Philosophen-Staat? Aber die werden nichts zu sagen haben, siehe oben. Sie zerstreiten sich immer nur mit ihren Widersprüchen und Isosthenien im Wettbewerb über die “Pluralität der Theoriebildung“(„Die offene Gesellschaft und ihre Feinde“), über geistige Konstrukte („Konstruktivismus”) und neue Strukturen(„Postmodernität”).
Während das Leben und Lieben doch ganz andere Wege geht, erfreulicherweise auch zu gehen weiß, muss ich sagen. – Praktisch eben und voll von Kunst und Gefühl. Leider aber immer auch unter Einschluss von Gewalt, unfähigen Herrschern, Katastrophen, Irrtümern und Ausweglosigkeiten (Seufz).
Es folgen in Nr. 236 und 237 ausgewählte OriginalTexte von Sextus Empiricus in deutscher Übersetzung.
Inhalt gesamt Nr.91
Bücher von Reinhold Urmetzer Nr. 109