4 Römische Moral und Desorientierung
Warum ich auch in Fragen der Moral ein Römer bin.
Im antiken Denken hat sich schon seit den frühen Griechen eine Auseinandersetzung über die Frage des guten Lebens gebildet. Wann ist ein Leben gut, schön, befriedigend? Was heißt Glück – früher sagte man Glückseligkeit oder mit dem philosophischen Fachbegriff Eudaimonie dazu?
Wann ist ein Leben glücklich?
Zwei Gegensätze haben sich gebildet, die bis heute gelten: Lebe vernünftig, mäßig im Genuss und den allgemeinen Gesetzen entsprechend. Tu’ deine Pflicht, also das, was dir auferlegt ist. Dies propagierte die Philosophen-Schule der Stoa, die maßgeblich das junge Christentum in Rom beeinflusst hat.
Als Antithese bildete sich schon zu Platons Zeiten eine Philosophie der Lust, die je nach Ausprägung die kyrenaische Philosophie des Aristipp genannt wird ( heute oft als Hedonismus bezeichnet) oder auch Epikurs Philosophie der Freude einschloss: den Schmerz vermeiden, geistige Lust bevorzugen (Freude). Denn zu viel körperliche Lust kippt schnell in ihr Gegenteil um (vgl. Alkohol etc.).
Zwischen diesen Antipoden gibt es zahlreiche Feinabstufungen, z.B. die kynische Lehre vom Verzicht, der Nichtanpassung und der Askese: Sich von nichts und niemandem abhängig machen, frei sein und frei bleiben.
Auch in der Moral bin ich ein Römer. Was richtig/falsch, gut/schlecht, normal/unnormal in Sitte, Moral oder den Umgangsformen des täglichen Lebens ist, ganz zu schweigen vom Sexualverhalten, kann gegenwärtig nur von Dogmatikern beantwortet, das heißt festgelegt werden. Ich richte mich dabei teilweise nach Sextus Empiricus: Allen Systemen und Weltanschauungen gegenüber skeptisch bleiben. Also suche ich mir aus jedem der einzelnen Systeme von Fall zu Fall das heraus, was gerade passend für mich ist. Außerdem versuche ich mich in die herrschenden Traditionen einzufügen und mit zu schwimmen.
Hier einige Beispiele.
Im Marxismus gefällt mir die Theorie der Entfremdung und die Kritik am allumfassenden, ja schon totalitären Ökonomismus der Gegenwart. Dass alles nur noch der Gewinnmaximierung, dem Geld, dem Konsum und der Verdinglichung unterworfen ist.
Im Konservativismus mag ich das zögerliche, hemmende Element der Retardierung. Nur so setzt sich das Beste wirklich gut und definitiv durch und bleibt auch eine Weile als Tradition (s.o.) bestehen.
Was die Lust betrifft, meide ich eher die Unlust als dass ich die Lust suchen würde. Außerdem will jede Lust Steigerung und immer mehr – jede Lust will Ewigkeit, tiefe, tiefe Ewigkeit, sagt Nietzsche. Nach Buddha entsteht alles Unglück aus dem Begehren. Deshalb soll man es besser lassen und asketisch, bedürfnislos leben wie die Mönche.
Im Christentum mag ich die Idee der Gewaltlosigkeit, die sich gewaltfrei und siegreich dem römischen Imperialismus entgegen stellte. Auch religiöse Rituale mag ich sehr. Selbst Cicero, ein so kluger Denker, Vermittler und Übersetzer der griechischen Philosophie, war sich nicht zu schade, in Rom als Pontifex Maximus zu wirken (heute sagt man Papst dazu) und als Hoher Priester den Vogelflug wie ein Wahrsager zu deuten, auch wenn er nicht immer daran glaubte. Nachzulesen in seinen Atticus-Briefen, die einen guten Einblick in die damalige Zeitgeschichte und Kultur geben. Sie standen ganz zu Beginn meiner langjährigen Privat-Studien über die römisch-hellenistische Welt.
Im Katholizismus mag ich die Sinnlichkeit der Farben, Formen, Töne und Düfte. Auch die Internationalität, das Zeremonielle und eine Jahrtausende alte Tradition beeindrucken mich sehr. Im Protestantismus mag ich, dass er so vernünftig ist. Als allgemeinen Gesetzgeber würde ich ihn sofort akzeptieren.
In der skeptischen Philosophie gefällt mir die typisch “postmoderne” Paradoxie, dass sie sich selbst einschließt und damit auch selbst aufhebt – Skepsis an der Skepsis bedeutet die Selbstaufhebung. Der Satz vom ausgeschlossenen Dritten gilt m.E. nicht immer. A kann auch Nicht-A sein; soviel zur Logik der Rationalisten, denen die Dekonstruktivisten (ich gehöre dazu) Logozentrismus vorwerfen. Nach Derrida ist dieser ein Kind der männlichen Phallokratie des Abendlandes. Frauen denken anders. Doch dies ist eines meiner Lieblingsthemen(“Was ist Dekonstruktion?”), darüber später mehr.
In Momenten, wo ich dem Heiligen begegne (etwa in katholischen Kirchen) meditiere ich buddhistisch (also nur auf den Atem achtend). Diese Mischung vieler und selbst gegensätzlicher Elemente ist eine beliebte Spezialität der gegenwärtigen Philosophie der Postmoderne. Nicht nur dort, selbst Mode und Design oder Kunst und Musik arbeiten gegenwärtig sehr mit heterogenen Elementen.
In der Kunst nennt man eine solche Methode, mit Ideen umzugehen, eklektisch, Eklektizismus. In der Philosophie oder Religion sagt man auch gelegentlich Synkretismus dazu.
Also lassen wir uns treiben weiterhin im Wasser einer fröhlichen und unerschrockenen Orientierungslosigkeit, dann und wann ein Zipfelchen von Wahrheit erhaschend, geleitet vom allmächtigen Schicksal, das wir weder erkennen noch durchschauen noch steuern können und mit dem jeweils äußerst individuellen wie vielfältigen Ziel der Glückseligkeit. Also leben wir weiterhin in einem offenen, unheilschwangeren und chaotischen System.
Schlecht muss es uns dabei nicht gehen. Vielleicht können wir diesen Zustand von Unabwägbarkeit und Widerspruch sogar genießen?! Zumindest dann und wann.
Kurz sind nur und selten auch die Tage wirklichen Glücks (seufz). Ich werde sogar schon ganz poetisch und dies trotz der vielen fett gedruckten Vokabeln, die noch gegoogelt werden müssen oder auch nicht.