237 Sextus Empirikus (2)
Alles geht
Hier: Sextus Empiricus, Grundriss der pyrrhonischen Skepsis/Malte Hossenfelder S.278-287 (Suhrkamp Wissenschaft 499)
Im Folgenden wird die römische Alles-geht-Haltung in der frühen Kaiserzeit dokumentiert, wie sie Sextus aufzählt, um die Relativität von Sitten und Gebräuchen zu unterstreichen. Ich zitiere im Folgenden auch einige besonders kuriose Aufzählungen als Einblick in die Zeit. Auch wenn Übertreibungen vorkommen mögen.
Es wäre vielleicht nicht fehl am Platz, die Aufmerksamkeit kurz zu lenken auf die Auffassungen über Unschickliches und nicht Unschickliches, Ungesetzliches und nicht Derartiges, über Gesetze, Sitten, die Götterverehrung, die Ehrfurcht vor den Dahingeschiedenen und dergleichen. Denn auch so werden wir viel Uneinheitlichkeit finden in der Frage, was man tun oder lassen soll.
So hält man bei uns z.B.die Männerliebe für unschicklich oder vielmehr gesetzwidrig, bei den Germanen dagegen nicht für unschicklich, sondern für eines der gewöhnlichen Dinge, und es wird erzählt, dass sie auch bei den Thebanern in alter Zeit nicht als unschicklich galt und dass der Kreter M.(1) so genannt worden sei, um die Sitte der Kreter anzudeuten. Auch Achills glühende Freundschaft zu Patroklos führen einige hierauf zurück. Und was Wunder, wo doch auch die Anhänger der Kyniker und Stoiker die Männerliebe weder gut noch schlecht nennen?
Auch der öffentliche Beischlaf mit einer Frau, obgleich bei uns als unschicklich geltend, wird bei einigen Indern nicht für unschicklich gehalten. Sie begatten sich ohne Unterschied auch in der Öffentlichkeit, wie man es ebenfalls von dem Philosophen Krates erzählt. Auch die Prostitution der Frauen ist bei uns unschicklich, bei vielen Ägyptern dagegen ehrenvoll. So heißt es, dass diejenigen, die mit den meisten Männern zusammen kommen, sogar einen Schmuck um die Knöchel tragen als Abzeichen ihrer Würde. Auch die Stoiker sehen wir die Ansicht vertreten, dass es nicht unangebracht sei, mit einer Prostituierten zusammen zu leben oder sich vom Erwerb einer Prostituierten zu ernähren.
Ferner gilt bei uns das Tätowieren als unschicklich und unehrenhaft, viele Ägypter und Sarmater jedoch tätowieren ihre Neugeborenen. Bei uns ist es unschicklich, wenn Männer Ohrringe tragen, bei einigen Barbaren, wie z.B.den Syrern, ist es jedoch ein Zeichen edler Abkunft, indem sie auch die Nasen der Knaben durchbohren und silberne oder goldene Ringe daran hängen, was bei uns wohl schwerlich jemand täte. Wie hier wohl auch kein Mann leuchtend gefärbte Kleidung anlegen würde, obwohl diese – bei uns unschickliche – Kleidung bei den Persern als hoch anständig gilt. Als dem Philosophen Platon bei Dionysios, dem Tyrannen Siziliens, solche Kleidung überreicht wurde, schickte Platon sie zurück mit den Worten:”Nie könnt’ ich anziehen mir ein Weiberkleid/da ich als Mann geboren”.
Bei uns ist es ungesetzlich, die Mutter oder die eigene Schwester zu heiraten. Die Perser aber, und zwar besonders diejenigen, die in dem Rufe stehen, die Weisheit zu pflegen, nämlich die Magier, heiraten ihre Mütter, und die Ägypter schließen mit ihren Schwestern die Ehe.
Doch auch der Stoiker Zenon behauptet, es sei nicht unrecht, den Geschlechtsteil der Mutter mit dem eigenen Geschlechtsteil zu reiben, wie es wohl auch niemand schlecht nennen würde, irgendeinen anderen Teil ihres Körpers mit der Hand zu reiben. Und der Stoiker Chrysipp bestimmt im Staat, dass sowohl der Vater mit der Tochter Kinder zeuge als auch die Mutter mit dem Sohn und der Bruder mit der Schwester. Platon äußert noch allgemeiner, die Frauen sollten Allgemeingut sein(2). Ferner verwirft Zenon nicht die Selbstbefriedigung, die man bei uns verdammt, und wir erfahren noch von anderen, dass sie dieses Übel wie ein Gut behandeln.
Der Genuss von Menschenfleisch ist bei uns ungesetzlich, bei barbarischen Völkern dagegen weder gut noch schlecht. Und wozu soll man die Barbaren anführen, wo doch auch T.das Hirn seines Feindes gegessen haben soll und die Stoiker es nicht unrecht nennen, wenn jemand das Fleisch von anderen Menschen oder sein eigenes isst?
Bei den meisten von uns ist es ferner ungesetzlich, den Altar eines Gottes mit Menschenblut zu beflecken. Die Spartaner dagegen werden auf dem Altar der Artemis O.heftig gepeitscht, damit viel Blut auf den Altar der Göttin ströme. Auch dem Kronos bringen einige Menschenopfer dar, wie auch die Skythen der Artemis die Fremden opfern. Wir jedoch glauben, dass die Heiligtümer durch Menschenmord entweiht werden.
Die Ehebrecher bestraft bei uns ein Gesetz. Bei einigen aber ist es indifferent, mit den Frauen der anderen zu schlafen, und auch unter den Philosophen sagen einige, es sei indifferent, mit einer fremden Frau zu schlafen.
Ferner befiehlt uns ein Gesetz, dass die Väter von den Kindern versorgt werden. Die Skythen dagegen schneiden Ihnen die Kehle durch, sobald sie über sechzig Jahre geworden sind. Und was Wunder, wenn doch Kronos mit der Sichel die Geschlechtsteile seines Vaters abschnitt und Zeus Kronos in den Tartaros stürzte? Kronos beschloss sogar, die eigenen Kinder zu töten.
Solon erließ für die Athener das Gesetz über die “Unverurteilten”, durch das er jedem erlaubte, das eigene Kind zu töten. Die Gesetzgeber der Römer ordnen an, dass die Kinder Untertanen und Sklaven der Väter seien und dass über das Vermögen der Kinder nicht die Kinder verfügen, sondern die Väter, bis die Kinder die Freiheit erlangt haben: ganz wie bei den gekauften Sklaven. Bei andern ist dies dagegen als tyrannisch verbannt worden.
Ferner ist Gesetz, die Mörder zu bestrafen. Die Gladiatoren aber erlangen oft sogar Ehre, wenn sie töten. Auch untersagen die Gesetze, Freie zu schlagen. Den Athleten jedoch gibt man Ehren und Kränze, wenn sie freie Männer bei den Wettkämpfen schlagen und häufig sogar töten.
Bei uns befiehlt das Gesetz, dass jeder nur eine Frau habe, während bei den Thrakern und G., einem lybischen Volksstamm, jeder viele Frauen hat. Der Seeräuber ist bei uns gesetzwidrig und unrechtmäßig, bei vielen Barbaren ist er jedoch nicht unrecht, und es heißt, dass die Kiliker ihn sogar für rühmlich hielten, so dass der Seeräubertod als ehrenvoll galt.
Auch das Stehlen ist bei uns unrechtmäßig. Diejenigen jedoch, die Hermes für einen erz-diebischen Gott halten, bewirken, dass es nicht für unrecht gehalten wird. Denn wie könnte ein Gott schlecht sein? Einige behaupten, dass auch die Spartaner die Diebe nicht deswegen bestraften, weil sie gestohlen hatten, sondern weil sie sich hatten erwischen lassen(3).
Der Feige jedoch und der Schild-Wegwerfer werden bei vielen gesetzlich bestraft, weshalb die spartanische Mutter ihrem in den Krieg ziehenden Sohn den Schild mit den Worten übergab:”Entweder mit ihm, Kind, oder auf ihm”. A.aber brüstet sich in seinen Gedichten jedoch damit, den Schild fort geworfen und die Flucht ergriffen zu haben.
Die Amazonen kastrierten sogar ihre männlichen Neugeborenen, damit sie nichts Mannhaftes tun konnten. Die Kriegsgeschäfte übernahmen sie selbst, während bei uns das Gegenteil als schicklich gilt. Auch die Mutter der Götter duldet die weibischen Männer, und sie würde nicht so entschieden haben, wenn es von Natur aus schlecht wäre, nicht männlich zu sein.
So herrscht viel Uneinheitlichkeit darüber, was recht und was unrecht und was im Hinblick auf die Männlichkeit schicklich ist oder nicht.
Auch die Ansichten über Religion und Götter sind voller Widerspruch. Die meisten nämlich behaupten, es gebe Götter, einige aber, es gebe keine. Und von denjenigen, die Götter annehmen, glauben die einen an die väterlichen Götter, die andern an die Götter, die in den dogmatischen Schulen erfunden werden.
So nannte Aristoteles den Gott unkörperlich und die Grenze des Himmels. Die Stoiker sagten, er sei ein Hauch, der auch die hässlichen Dinge durchdringe, und Xenophanes nannte ihn eine unempfindliche Kugel. Ferner behaupten die einen, er sorge für unsere Angelegenheiten, die anderen, er tue es nicht. Daher behaupten auch im täglichen Leben die einen, es gebe nur einen Gott, die anderen, es gebe viele in der Gestalt verschiedener Götter, so dass sie sogar in die Auffassungen der Ägypter verfallen, die die Götter für hundsgesichtig und habichtsgestaltig, für Rinder, Krokodile und was nicht alles halten.
Deshalb sind auch die Ansichten über Opfer und überhaupt über die Götterverehrung sehr uneinheitlich. Denn was in einigen Kulturen als heilig gilt, das gilt in anderen als unheilig.So wird zum Beispiel wohl niemand dem Serapis ein Ferkel opfern, während man es dem Herakles und Asklepios opfert. Der Isis ein Schaf zu opfern ist ungesetzlich, der sogenannten Mutter der Götter und anderen Göttern opfert man es jedoch. Einige opfern dem Kronos einen Menschen, was den meisten als frevelhaft gilt. In Alexandria opfert man dem Horos eine Katze und der Thetis eine Küchenschabe, was bei uns wohl niemand täte. Dem Poseidon opfert man ein Pferd, während das Tier dem Apollon verhasst ist (4) Und noch sehr vieles andere derartige könnte ich anführen, lasse es aber, weil es mir um die Kürze zu tun ist. Gäbe es jedoch ein von Natur heiliges oder unheiliges Opfer, dann würde es bei allen in der gleichen Weise gelten.
Ähnliches lässt sich auch über die Ehrfurcht vor den Dahingeschiedenen sagen. Die einen hüllen ihre Toten vollständig ein und bedecken sie dann mit Erde, weil sie es für frevelhaft halten, sie der Sonne zu zeigen. Die Ägypter dagegen nehmen die Eingeweide heraus, balsamieren die Toten dann ein und behalten sie bei sich über der Erde. Die fischessenden Stämme der Äthiopier werfen sie in die Seen, damit sie von den Fischen gefressen werden. Die H.setzen sie den Hunden zum Fraß aus, einige Inder den Geiern. Die T., so heißt es, bringen den Toten auf einen Erdhügel, binden ihm dann den Kopf an die Füße und bewerfen ihn unter Gelächter mit Steinen. Wenn sie ihn dann mit den Steinwürfen überhäuft haben, gehen sie fort.
Einige Barbaren opfern die über Sechzigjährigen und verspeisen sie, während sie die in der Jugend Gestorbenen in der Erde vergraben. Die Perser, so heißt es, pfählen ihre Toten, balsamieren sie mit Soda ein und schnüren sie dann so mit Riemen zusammen. Bei anderen sehen wir am Gewand, wieviel Trauer über die Gestorbenen sie tragen.
Auch den Tod halten die einen für furchtbar und meidenswert, die anderen für nicht so. Epikur erklärt: “Der Tod geht uns nichts an. Denn das Aufgelöste ist empfindungslos, und das Empfindungslose geht uns nichts an”. Heraklit sagt, dass das Leben wie das Totsein sowohl in unserem Leben als auch im Tod vorhanden sei. Solange wir nämlich lebten, seien unsere Seelen tot und in uns begraben; wenn wir aber stürben, würden die Seelen lebendig und lebten. Einige meinen sogar, dass es für uns besser sei, tot zu sein als zu leben. So sagt Euripides:
“Wir sollten jeden Säugling, uns versammelnd, laut beweinen, welchen Übeln er entgegen geht, den Toten aber, der von Übel ist erlöst, mit frohem Lobgesang geleiten aus dem Haus“. Von einigen Thrakern wird berichtet, dass sie sich um den Neugeborenen herum setzen und ihn beweinen.
Also wird man auch den Tod nicht zu den von Natur furchtbaren Dingen zählen wie auch das Leben nicht zu den von Natur schönen. Alles ist konventionell und relativ. Dieselbe Argumentationsweise lässt sich auch auf jedes der übrigen Dinge übertragen, die ich hier jedoch um die Kürze der Darstellung willen nicht erörtere.
Angesichts so großer Ungleichförmigkeit der Dinge also hält sich der Skeptiker darüber zurück, ob etwas von Natur gut oder übel oder überhaupt zu tun sei, und distanziert sich auch hierin von der dogmatischen Voreiligkeit. Dagegen folgt er undogmatisch der alltäglichen Lebenserfahrung und bleibt deswegen in den auf dogmatischem Glauben beruhenden Dingen leidlos, während er in den aufgezwungenen maßvoll leidet. Denn als sinnlich empfindender Mensch leidet er zwar, da er aber nicht noch obendrein glaubt, dass das, was er erleidet, von Natur übel sei, so leidet er maßvoll. Etwas derartiges noch obendrein zu glauben ist nämlich sogar noch schlimmer als das Leiden selbst, so daß zuweilen Leute, die operiert werden, es ertragen, während die Umstehenden in Ohnmacht fallen wegen ihres Glaubens, dass das Geschehnis etwas Schlechtes sei.
1 unbekannte Namen kürze ich der besseren Lesbarkeit halber ab.
2 Platons Idealstaat sah die Paarung von ausgewählten Männern und Frauen vor, die nur die Kinderzeugung als eigentliche Aufgabe hatten ähnlich Hitlers “Lebensborn” in späteren Jahren. In der ganzen Antike und sogar bis in die Gegenwart hinein wurde die meist mühevolle Aufgabe von Stillen und Aufzucht der Kinder in der Oberschicht Ammen übergeben. Eine große Entlastung der Mütter, die heutzutage sogar noch die Erwerbsarbeit zusätzlich erledigen müssen.
3 Auch diese Kuriosität hat einen historisch überlieferten Kern im Gesetzwesen des spartanischen Staatsgründers Lykurg. Die jungen Männer Spartas mussten tatsächlich das Stehlen lernen, damit sie schlau und fit werden. Wurden sie dabei überrascht, war es eine Schande und sie wurden bestraft.
Ebenso skurril die Tatsache, dass sich nachts die verheirateten Männer zum Geschlechtsverkehr mit ihren Ehefrauen aus ihren Kasernen, in denen alle bis zum 30.Lebensjahr interniert waren, schleichen mussten. Die ganze Stadt scheint nach Angaben eines Beobachters ein riesiges Heerlager gewesen zu sein. Während die Homosexualität gefördert und gerne gesehen war, weil diese besondere Art von Freundesliebe die Männer untereinander tapfer und stark werden ließ in der Schlacht. Vgl. Achill und Patroklos (s.o.): Achill hatte eine Geliebte und einen Geliebten. Weil ihm der Oberbefehlshaber Agamemnon seine Geliebte weggenommen hatte, weigerte er sich fortan, in Troja zu kämpfen. Als dann auch noch sein Geliebter Patroklos im Zweikampf fiel, stürzte er sich voller Wut in die Schlacht und führte die Griechen zum Sieg. Gleichwohl kam auch er ein wenig später um. Aber das musste dann schon ein Gott bewerkstelligen (Apollon), ebenso wie Achill auch eine Göttin als Mutter hatte – die Meeresgöttin Thetis.
4 Bei den Opferfeierlichkeiten wird nur ein Teil des Fleisches verbrannt. Einen großen Teil davon verspeist die Kultgemeinde in einem “kultischen Mahl” (Vgl.auch die christliche Eucharistie).