247 Postmodernes Denken (1)
Sprache und Schrift
Es gibt Sprachkritiker und Sprachskeptiker. Beide Richtungen gehen auf Ludwig Wittgensteins sprachanalytische und sprachkritische Gedanken aus dem Vorkriegs-Wien des letzten Jahrhunderts zurück.
Die Sprachkritiker vertreten ein aggressiv-dogmatisches Prinzip, das von der angelsächsischen Analytischen Philosophie bis auf den heutigen Tag vertreten wird und sich vornehmlich um das naturwissenschaftliche Weltbild, die Sprache der Technologie und Naturwissenschaft kümmert. Alle anderen Wissenschaften, etwa die Sozial- oder Geisteswissenschaften, werden als unwissenschaftlich verworfen und aus dem Diskurs, das bedeutet auch aus dem allgemeinen Gespräch, ausgeklammert, wenn nicht sogar eliminiert.
Eine richtige Sprachpolizei hat dich dergestalt entwickelt, die nach einem streng dogmatischen Regel-Kanon Sprache auf ihre logische Korrektheit und Wahrheit hin untersucht und bewertet. Dass dabei auch die traditionelle Philosophie als nicht regelkonform im Zentrum der Kritik steht, etwa das Werk Heideggers oder der französischen Philosophen, war abzusehen. Hauptsitz dieser weiterhin sehr einflussreichen Philosophy of Science sind immer noch die Hochschulen in Cambridge und Oxford.
Diese sprachkritischen dogmatischen Schulen werden Logischer Empirismus, Neo-Positivismus oder ganz allgemein (Sprach-)Analytische Philosophie genannt. Auch Teile des Behaviorismus gehören dazu. Ihren Zenit erreichten sie in den 70er Jahren, als vor allem das Fach Geschichte heftig in Frage gestellt wurde und Fächer wie Kunstwissenschaft, Psychoanalyse oder auch Soziologie wegen Unwissenschaftlichkeit ganz aus dem Kanon der Fächer einer Hochschule gestrichen werden sollten. Selbst die Philosophie gehörte dazu mit einer Ausnahme: Wissenschaftstheorie wurde zähneknirschend akzeptiert; dem philosophiegeschichtlich gesehen Hauptfeind von Wahrheit und Vernunft, der Frankfurter Schule deutscher Provenienz, musste man sich stellen, auch wenn diese „Literaten“(?) mittlerweile bereits teilweise nach Kalifornien und in andere Staaten der USA ausgewandert waren (Marcuse, Feyerabend, Fromm u.a.).
Sprachskepsis geht ebenfalls auf Wittgenstein zurück, diesmal auf den späten der Philosophischen Untersuchungen. Es ist dies die Philosophie der „Sprachspiele“ und „Lebensformen“. Worüber man nicht reden kann, muss man schweigen – so lautet Wittgensteins berühmte Schlussfolgerung am Ende seines Lebens. Das Schweigen quasi als die Quintessenz des abendländischen Denkens, kommentiert ironisch-süffisant Jacques Derrida diese Erkenntnis.
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Dass Sprache und das Festlegen von Sprache durch Schrift allgemein untersucht und in Frage gestellt wird, geht bereits auf Platon zurück. Im Phaidros entdecke ich eine kleine und scheinbar weniger wichtige Stelle, die sich mit dem Problem der geschriebenen Sprache, also der Schrift, beschäftigt und sie gegenüber dem gesprochenen Wort abwägt, ja ihre Begrenztheit und Schwäche unterstreicht.
Der Erfinder der Schrift im alten Ägypten, einer „Kunst“, Theuth, kommt stolz zu König Thamus und ist froh über seine Erfindung. Doch dieser stellt ernüchtert fest, die Fähigkeit zum Erinnern, bislang eine große Leistung der Menschen und eines Volkes ohne Schrift, ginge jetzt verloren.
Noch schlimmer: Das geschriebene Wort könne sich nicht wehren gegen Missbrauch, Missverstehen, Fehldeutungen, Lügen – all das, was bei einer verkürzten oder auch entfesselten Sprache, wie sie sich gegenwärtig in den elektronischen Medien durchsetzt, zu einer umfassenden Kommunikationsstörung, Desinformation und Desorientierung führen kann. Ich nenne diese neue Kommunikationsform die „verkürzte, reduzierte Sprache“, die sich rasant ausbreitet, und sie ist eines meiner Hauptthemen immer wieder im Blog.
Sokrates: Weißt du, auf welche Weise du einem Gott gefallen wirst in deinem Reden und in deinem Lehren?
Phaidros: Durchaus nicht. Aber du wohl?
Sokrates: Wenigstens kann ich eine Geschichte darüber erzählen von den Alten. Für ihre Wahrheit tragen diese die Verantwortung.
Phaidros: Dann erzähle doch einmal die Geschichte, die du gehört haben willst.
Sokrates: Also: Ich hörte, in der Gegend von Naukratis in Ägypten sei einer der alten Götter des Landes zu Hause mit Namen Theuth. Er sei der Erfinder der Zahl und des Rechnens gewesen, der Geometrie und Astronomie, außerdem des Brett- und Würfelspiels und namentlich auch der Schrift. Über ganz Ägypten habe als König Thamus geherrscht, bei Ihnen heißt er Amon.
Zu diesem kam Theuth und zeigte ihm seine Künste mit dem Ansinnen, sie sollten alle in Ägypten eingeführt werden. Thamus fragte nach dem Nutzen einer jeden dieser Künste. Und wie jener seine Erklärungen gab, tadelte er bald, bald lobte er, was ihm gut oder schlecht schien an der Darlegung.
So soll er dem Theuth über jegliche seiner Künste eine eingehende Beurteilung für und wider gegeben haben, die nach zu erzählen zu umständlich wäre.
Als er aber bei der Schrift war, sagte Theuth:
„Die Schrift, o König, wird die Ägypter weiser und ihr Gedächtnis fester machen; denn als Mittel für Gedächtnis und Weisheit ist dieser Lehrgegenstand von mir erfunden worden.“
Es folgt nun ein bekanntes Argument über Sinn und Nutzen von Technik, anwendbar in unserer Zeit auch auf vieles – Kernenergie, Gentechnik und nicht zuletzt auch Digitalisierung: Die Macher und Erfinder reflektierten zu wenig über die Folgeschäden ihrer Entdeckung, indem sie einseitig nur deren Nutzen sehen. Sie wägen zu wenig das Für und Wider ab und bedenken nicht die Folgen.
Thamus erwiderte: „O du Meister der Kunstfertigkeit, Theuth! Der eine ist im Stande, Künste hervorzubringen, ein anderer sie zu beurteilen, in welchem Verhältnis Schaden und Nutzen sich verteilen werden für die Leute, die sie brauchen sollen.
Auch du hast jetzt, als Vater der Schrift, aus Voreingenommenheit das Gegenteil von dem angegeben, was sie vermag. Du hast ihren Schaden nicht bedacht. Denn diese Kunst wird Vergessenheit schaffen in den Seelen derer, die sie erlernen, aus Achtlosigkeit gegen das Gedächtnis, da die Leute im Vertrauen auf das Schriftstück von außen sich werden erinnern lassen durch fremde Zeichen, nicht von innen heraus durch Selbstbesinnen. Also nicht ein Mittel zur Kräftigung, sondern zur Stützung des Gedächtnisses hast du gefunden.
Nur die innere „Selbstbesinnung“, innere Reflexion und Einsicht in den Sinn der Worte bewirkt ein Lernen und Verstehen, welches Grundlage jeder Weisheit sei. Und dieses Verstehen der (besser sogar im Dialog gesprochenen) Worte bedarf auch einer anerkannten vermittelnden Autorität, die die Weisheit weiter geben kann im Sinne einer Erläuterung, einer Tradition. Vieles zu wissen, es in Schriftform gebracht zu haben, bedeutet noch lange keine Weisheit. Es ist nur eine von außen übernommene „Vielwisserei“, die Simulation von Weisheit und Vernunft, eine Schein-Weisheit.
Sokrates: Von Weisheit gibst du deinen Lehrlingen einen Schein, nicht die Wahrheit: Wenn sie vieles gehört haben ohne Belehrung, werden sie auch viel zu verstehen sich einbilden, da sie doch größtenteils nichts verstehen und schwer zu ertragen sind im Umgang mit Weisheit. Zu Halbweisen geworden sind sie, zu Dünkelweisen, und nicht zu Weisen.“
Phaidros: O Sokrates, leicht erdichtest du Geschichten aus Ägypten und aus welchen Landen du immer willst.
Auf den begründeten Einwand von Phaidros, Sokrates erfinde nur Geschichten und Sagen, damit es in sein argumentatives Konzept passe, reagiert Sokrates (nach einem ironischen Schlenker über die angebliche Weisheit der Jugend) mit dem Hinweis, dass Weisheit mit der Überzeugungskraft des Sprechenden als einer Autorität zu tun habe, wer ist dieser Sprecher, aus welchem Land kommt er, wie vertrauenswürdig ist er, kann man seiner Weisheit trauen.
Sokrates: Mein Freund, die Leute im Heiligtum des Zeus zu Dodona meinten, von einer Eiche seien zuerst Worte der Weissagung gekommen. Den Menschen von dazumal aber, da sie nicht so weise waren wie ihr jungen Leute heute, genügte es in ihrer Einfalt, auf Eiche und Fels zu hören, wenn diese nur Wahres erzählten. Für dich jedoch ist es wohl nicht gleichgültig, wer der Erzähler ist und aus welchem Land er kommt. Denn nicht danach allein fragst du, ob es sich so verhalte oder anders.
Im Folgenden kommt die Zentralstelle der Argumentation von Sokrates: Schriftlicher Aufzeichnung (als einer Kunst und Handlungsanweisung) kann nichts Deutliches und Sicheres im Sinne einer Weisheit, das ist auch im Sinne einer wahren Aussage über Schönheit und Gerechtigkeit entnommen werden. Geschriebenen Worten könne sogar noch eine weiter gehende Bedeutung im Sinne von Mehrdeutigkeit beigelegt werden, über die sich Sokrates jedoch an dieser Stelle nicht auslässt. Stattdessen verdeutlicht er die Gefahren, die von gelesenen Sätzen ausgehen können: Anders als beim gesprochenen Wort können sie nicht auf Fragen antworten. Sie bleiben stumm, leben nur in der subjektiven Interpretation des Lesenden.
Sokrates: Also, wer da meint, in schriftlicher Aufzeichnung eine Kunstanweisung zu hinterlassen und andererseits, wer solche annimmt in dem Glauben, es könne etwas Deutliches und Sicheres schriftlichen Aufzeichnungen entnommen werden, dürfte mit großer Einfalt behaftet sein und wirklich die Weissagung Amons nicht kennen, indem er geschriebenen Worten eine weiter gehende Bedeutung beilegt als die, Wissenden zur Erinnerung zu dienen an die Dinge, worüber die Aufzeichnungen handeln.
Denn das ist wohl das Bedenkliche beim Schreiben und gemahnt wahrhaftig an die Malerei: auch die Werke jener Kunst stehen vor uns als lebten sie; doch fragst du sie etwas, so verharren ihre Bilder in gar würdevollem Schweigen. Ebenso auch die Worte eines Aufsatzes: Du möchtest glauben, sie sprechen und haben Vernunft; aber wenn du nach etwas fragst, was sie behaupten, um es zu verstehen, so zeigen sie immer nur ein und dasselbe an.
Noch schlimmer: Wer sagt denn, dass solche Aufsätze gerade geeignet sind für diesen Lesenden? Worte, Sätze und Texte „treiben sich wahllos herum“, sind überall und bei jedem, berücksichtigen aber nicht die Lese- und Verstehensfähigkeiten der Lesenden; sie passen, passen aber auch manchmal nicht zu diesem Menschen und in diesen Kontext.
Wer von den Modedesignern wird etwas von der Ingenieursprache verstehen, verstehen wollen? Wer von den Theologen interessiert sich für die Kunst des Krieges? Wittgenstein nennt dies das Sprachspiel, in dem man sich befindet. Und Sprachspiele haben ihre „Heimat“, ihren Kontext in Lebensformen, in denen man ganz individuell und jeweils andersartig aufgewachsen ist. Nur so ist Verstehen möglich. Wenn nicht muss der „Vater der geschriebenen Worte“ befragt werden, „denn das Wort selbst kann weder sich wehren noch sich helfen“.
Doch dieser Vater der Worte ist meist nicht oder nicht mehr vorhanden.
Sokrates: Und dann: Einmal nieder geschrieben, treibt sich jedes Wort allenthalben wahllos herum, in gleicher Weise bei denen, die es verstehen, wie auch genauso bei denen, die es nichts angeht, und weiß nicht zu sagen, zu wem es kommen sollte und zu wem nicht.
Wenn es dann schlecht behandelt und ungerechter Weise geschmäht wird, so bedarf es immer seines Vaters, der ihm helfen sollte: denn selbst kann es weder sich wehren noch sich helfen.
Was wäre die Alternative, wenn Worte und Texte so schwach, falsch, mehrdeutig, immer anders gelesen werden können je nach Fähigkeit und Herkunft der Lesenden? – Sokrates und Platon berufen sich auf das gesprochene Wort. Ein Wortwechsel unter Sprechenden kann Missverständnisse im Verstehen und Hören schnell beseitigen, kommt der Wahrheit und Weisheit bedeutend näher, auch wenn rhetorische Tricks ein Problem sein können und in der Politik Populisten Tür und Tor damit offen zu stehen scheinen. Nicht zuletzt hat sich schon zu Platons Zeit mit den mächtigen Sophisten eine Isosthenie gebildet, als wenn man mit Sprechen, Gesten und Emotionen der Wahrheit und Weisheit näher kommen könnte. Manchmal gerade nicht.
Sokrates: Doch sehen wir nach einem anderen Wort, dem leiblichen Bruder von jenem geschriebenen, und beachten wir, auf welche Weise dieses zu Stande kommt und wieviel besser und wirkungsvoller es seiner Natur nach ist als jenes.
Phaidros: Welches wäre das und wie entsteht es?
Sokrates: Das, welches mit Sachkenntnis aufgezeichnet wird in der Seele des Lernenden, fähig zur Selbstverteidigung und kundig des Redens und Schweigens je nach Umständen.
Phaidros: Von dem lebendigen und beseelten Wort des Wissenden sprichst du, wovon das Geschriebene mit Recht als eine Nachbild nur bezeichnet werden könnte.
aus: Platon, Phaidros (Kapitel LIX – LXI) – Übersetzung Otto Apelt
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Was bedeutet das nun für die gegenwärtige Kommunikations-Problematik im sozialen Diskurs? – Ich denke, Kurznachrichten im Sinne eines reduzierten und verkürzten Sprechens können tatsächlich zum Problem werden. Nicht immer, denn auch hier bilden sich Isosthenien; aber doch dann und wann. Termine über SMS oder Waht’sApp zu bestätigen, scheint unproblematisch. Jedoch bereits eine einfache Botschaft wie:“Ich kann leider heute um 17h nicht kommen, ich melde mich“ ist offen für kommunikationspsychologischen Ärger. Es gibt kein direktes und schnelles Nachfragen mehr, die emotionale Stimmungslage ist unklar, wie antworten etc. Wichtige Dinge sollten m.E. deshalb immer Aug’ in Auge besprochen werden.
Über die Problematik beim Verstehen ganzer Texte und ihrer Interpretabilität habe ich schon öfter geschrieben. Insbesondere für die postmodernen Philosophen ist gerade die Mehrdeutigkeit von Sprache und Sinn, die permanente Notwendigkeit zur Interpretation auch von Gesten, Emotionen und Unbewusstem ein ganz besonderes Thema.
Doch auch im alten Ägypten konnte die Uhr nicht zurück gedreht werden. Die Schrift entwickelte sich weiter und weiter bis hin zu Platon selbst mit einer eigenen Mehrdeutigkeit und Missverständlichkeit in seinen Werken, den Übersetzungsproblemen samt Fehl- und Missdeutungen seiner Philosophie bis in die Gegenwart hinein. Was selbst die analytischen Philosophen nicht verhindern können, wenn sie uns eine Standardsprache dogmatisch vorschreiben wollen, sogar andere als die technisch naturwissenschaftlichen Gebiete betreffend.
Das gesprochene Wort bleibt gleichwohl oft eine Alternative, auch wenn selbst diese mit rhetorischen Tricks letztlich doch wieder in Frage gestellt werden kann. Siehe den gegenwärtigen Einfluss von Populisten, die sich sogar ihrer Unwahrheit und Lügenhaftigkeit brüsten und ein neues Zeitalter jenseits der Fakten, jenseits der Wahrheit ausrufen möchten („Post-Faktizität“) – Willkommen im Zeitalter von Lüge, Simulation, Schein und Unwahrheit!
Vgl. auch “Vom Denken” (III) – Über das Absurde im Denken und in der Argumentation (Nr.46)