248 Über Kinder
Weihnachten 2016
Da sitze ich wieder gestern früh morgens in der U-Bahn, unterwegs zum Heslacher Wald, und vor mir ein ganz kleiner Junge, dessen Alter ich nur sehr schwer einschätzen kann. Eingekeilt in eine große Menschenmenge, ängstlich und eingeschüchtert nur unter sich blickend, den Kindergarten-Ranzen auf dem Rücken, die kleinen braunen Kugelaugen unentwegt nach unten gerichtet. Weiß er überhaupt, wo er aussteigen soll?, frage ich mich. Was für eine Mutter, die ein solch kleines Wesen bereits so früh und alleine aus dem Haus lassen muss! Was für ein Leben!
Da müssen schon die jüngsten der Jungen sich ohne Begleitung in die übervollen Bahnen zwängen, eingequetscht unter doppelt bis dreimal so großen Gestalten und Riesen, mit Mühe nur entziffern sie die Haltestellen und finden vielleicht gar nicht mehr den richtigen Ausstieg.
Was für ein Gesellschaftssystem! Wo manche Mütter alleine und wie Einzeller mit ihrem Nachwuchs dahin vegetieren müssen voller Schuldgefühl, Angst, Sorge und Not. Wo die Zweizeller in ihren Arbeitsplatz-Kisten eingegraben ausharren müssen in der Monotonie des Alltags und wenig Zeit, Geduld, Freiheit haben für Liebe, Lust und Nachwuchs.
Wo eine Familie mit mehr als zwei Kindern sogar hierzulande schon in die Armutsfalle gerät und sich in jeder Hinsicht verzehrt für ein Leben und eine Zukunft, die so nicht erwartet worden ist und alle Hoffnungen wie Versprechungen Lügen straft.
Was wäre die Alternative? – Immer wieder denke ich darüber nach. Immer wieder, selbst wenn es um die Befreiung der Frau, des Mannes, des Körpers, auch von Seele und Denken und Geist geht. Nicht zuletzt auch um “metaphysische” Begriffe, muss man mittlerweile wohl sagen, wie Liebe, Freude und Lust – alles zusammen führt im antiken Vokabular zur Eudaimonia – der Glückseligkeit. Nicht immer, sagen die Römer, aber oft.
Wenn es eine künstliche Zukunft geben wird der Klone, der genmanipulierten und designten Embryos, mit Mensch-Maschine-Zwittern und sich selbst steuernden oder gar weiter entwickelnden Robotern, dann sind die nach folgenden Überlegungen überflüssig. Und eine solche Zukunft mag es tatsächlich einmal geben. Alle Visionen unserer fantasierenden Schriftsteller, von Jules Verne im 19.Jahrhundert über Huxleys „Schöne neue Welt” oder das “1984” von Orson Welles bis zu den gegenwärtigen amerikanischen Film-Staffeln, sie alle sind tatsächlich irgendwie und irgendwann real geworden. Selbst die Kinder züchtenden und eugenischen Vorstellungen aus Platons “Staat” und (abgeschwächter) aus seinem Buch über die “Gesetze”.
Wenn es jedoch einen Roll-Back geben wird (auch das hat es in der Weltkultur immer wieder gegeben), dann geht die Entwicklung eindeutig in Richtung Groß-Familie. Nicht unbedingt im Sinne der Antike mit einem allmächtigen Pater familias, der alles bestimmen darf wie ein Führer.
Aber doch mit einer gerechteren Aufteilung der Aufgaben und Lasten innerhalb solcher mehr oder weniger großen Kleingruppen. Mit Aufteilung der Arbeit bei der Kindererziehung, vielleicht tatsächlich auch wieder mit Ammen zum Nähren und Stillen der Säuglinge, mit unterschiedlichen Liebesfornen selbst im weiten Bereich von Pansexualität und Androgynität, mit gegenseitigem Helfen und Schützen, Verstehen und Entwickeln.
Doch dazu müssen erst einmal die passenden Lebens-, das heißt auch Wohnformen geschaffen werden. Und das wäre eine Aufgabe für zukünftige Architekten und Geldmenschen/Investoren. Ansätze zu einem solchen Denken, zu einer solchen Entwicklung gibt es tatsächlich schon, zum Beispiel neuartige Wohnmodelle in den Niederlanden oder in den USA. Ganz zu schweigen von den neuen Lebensformen, die es immer wieder hier und dort im kleinen Kreis zu bestaunen und zu kritisieren gibt.
Ich nenne sie gerne Alternativ-Inseln ( A-Inseln), und ich appelliere an Staat und Gesellschaft, gerade solche Experimente mit ungewissem Ausgang großzügig mit Steuergeldern zu unterstützen. Selbst wenn sie antithetisch zu unserem Denken, zu unseren Einstellungen und zu unserer Moral oder Lebensform stehen.
Vielleicht lässt sich auf diese Art ein Modell für die Zukunft entwickeln, dass menschenunwürdige und Kinder-feindliche Lebensformen endlich einmal aussterben werden. Nicht im Sinne, dass es gar keine Kinder mehr geben wird. Sondern im Gegenteil: Dass die Freude an den “Blüten des Lebens”, wie die Russen sagen, wieder unbeschwert und freier aufleben kann und dass das, was wir verloren haben, wieder zurück kommen möge in unseren täglichen Alltag und in unser Leben.
Dass das Leben, das Wachsen mit Kindern eine unbeschreiblich schöne Erfahrung sein kann, dessen Zauber sich nachhaltig positiv auf alle Bereiche unserer Wirklichkeit auswirken kann, das werden mir viele bestätigen können. Aber auch das Gegenteil mag dann und wann zutreffen und deprimieren. Und die weit verbreitete Angst oder auch Skepsis vor Nachkommenschaft nur noch verstärken.
Tom Ford, Chef-Designer von Gucci und Filmemacher, ist von seiner neuen Lebenserfahrung als Vater so überwältigt, dass er sogar wie viele seiner Art bereit ist, das eigene Leben als Invertierter ganz umzustellen auf die Dreisamkeit und das Du. Seit der Geburt seines Sohnes vor vier Jahren habe sich sein Leben total geändert, sagt der 55-jährige. “Ich muss bei ihm sein, ihn groß ziehen. Ich kann nicht sterben, darf nicht sterben. Nicht wegen mir. Sondern wegen ihm.”
Vgl.auch meine Straßenbahn-Begegnung der anderen Art vom 21.11.16 unter Mitteilungen im Blog