249 Postmodernes Denken (2)
Post-Faktisch
Andere Menschen denken anders (John Cage)
Wie hängt das postmoderne Denken mit der gegenwärtigen Verwirrung von Sprache, Pressearbeit und Wahrheit in der Gesellschaft zusammen?
Wenn bereits das „post-faktische” Zeitalter in gewissen Kreisen ausgerufen wird, das sich nicht mehr “einseitig” nur auf die Fakten stützt, sondern zusätzlich sich auch auf Gefühle (vor allem), aber auch auf Irrationalismen wie Fügung, Horoskop, telepathische Einflüsterungen oder Orakelsprüche der Bäume beruft: Lasse mich stark sein, Eiche, wenn ich dich umarme (vgl. den ironischen Einwand von Sokrates im Blogbeitrag Nr.247), dann hängt dies alles tatsächlich direkt mit dem allgemeinen Relativismus der postmodernen Denker zusammen.
Insbesondere Derridas Kritik am Eurozentrismus ist auf dankbaren politischen Boden im Reich der neuen Antiaufklärer gefallen. Etwa in Russland: Das westliche Denken sei ein anderes als das postsowjetische. Stimmt – vor allem in der Sexualmoral oder in den Vorstellungen von Liebe und Ehe scheint es große Unterschiede zu geben. Frauen von dort, die besonders gern im Westen nur noch Kreditkarten-Männer suchen; Pogrome auf dem Land gegen Homosexuelle und Massenmanipulationen per Fernsehen durch selbst ernannte Heiler, die auch noch erfolgreich sind in diesem Riesenreich. Ganz zu schweigen von den politischen Helden und Taten, die gefaked werden, wie es den Mächtigen gerade gefällt.
Selbst die allgemeinen Menschenrechte, deren Wurzeln bekanntlich bis ins Zeitalter der europäischen Aufklärung und auf die Philosophie Kants zurück gehen, werden als eurozentrisch abgelehnt, um den individuellen Willen zur diktatorischen Macht nur noch hemmungsloser durchsetzen zu können.
Auch Lyotards Sympathie für die antiken Sophisten, scheinbar mehr noch als für die Meisterdenker unserer Philosophiegeschichte, geht in Richtung einer alles relativierenden Subjektivität (1). In der Auseinandersetzung mit den Sophisten haben Sokrates und Platon jedoch dessen ungeachtet ihre Positionen gefunden, die bis heute diskutiert werden können.
Die postmodernen Franzosen hatten im ödipalen Disput mit dem Marxismus ihren Gegner gefunden, insbesondere am Beispiel seiner Realisierung in der Politik Lenins und Stalins. Denn diese “Realisierungen” im Namen eines willkürlich als Kommunismus oder Sozialismus fest gelegten Dogmas in Osteuropa oder auch in Maos China waren für fast alle Außenstehenden inakzeptable Mittel zum Zweck einer abschreckenden Gewaltherrschaft, die sich nur auf die Macht der Gefängnisse und Gewehre stützen konnte.
Schnell zählte man die französischen Kritiker polemisch zu den „neuen Rechten“. Doch diese waren gerade nicht gegen die Lehre von Karl Marx, sondern nur entschieden gegen den politisch praktizierten Marxismus, das heißt, was man daraus auch institutionell gemacht hatte, um die eigene Bevölkerung “vor dem Kapitalismus zu schützen”. Die Vincenner, wie man sie nach ihrer Wirkungsstätte an einer Pariser Universität auch benannt hatte, verstanden sich linker als links, d.h. als undogmatisch und anarchistisch. Alles musste auf den Prüfstand der Geschichte, alles durfte angezweifelt, infrage gestellt werden. Jedes politische, weltanschauliche oder moralische Dogma.
Auch und vor allem die Vorstellungen von Wissenschaftlichkeit. Was ist Wissenschaft? Welche Wahrheiten lehrt sie uns? – Die Vorstellung von Wissenschaftlichkeit im Osten (sie wurde vollkommen beherrscht von der Ideologie des „Dialektischen Materialismus“, auch Diamat genannt) war eine ganz andere als die im Westen propagierte, was bereits im ganzen letzten Jahrhundert deutlich geworden war. Philosophie und Geisteswissenschaft im Osten waren eine ganz andere als die im Westen; sie waren Religion, Dogma und gewaltsame Unterdrückung in einem. Ganz zu schweigen von der parteipolitisch dominierten Propaganda-Lehre und Ästhetik des „sozialistischen Realismus“. Nur eine sozialistische Mathematik und Physik hatte man noch nicht einführen können. Auch wenn in den Vorworten zu solchen Lehrbüchern dennoch immer die reine Lehre der Staatsideologen Erwähnung finden musste.
Die französischen Philosophen, allen voran Derrida und Lyotard, gingen sogar mutig genug auch in andere Höhlen des Löwen hinein und setzen sich mit dem seit der Studenten-Bewegung neu erwachten Freudo-Marxismus der Frankfurter Schule (Habermas, Adorno, Horkheimer) ebenso auseinander wie mit Luhmanns System-Theorie oder der anglo-amerikanischen Philosophy of Science. Luhmann erzählte mir in einem Interview von einem Treffen mit Derrida auf einem Kongress in New York, wo dieser ironisch lächelnd die provokative These in den wissenschaftstheoretischen Raum gestellt hatte, “die Bedingung der Möglichkeit von Systemtheorie ist, dass es gar keine Systeme geben kann”.
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Doch wie hängt das alles mit dem “Post-Faktischen” (oder auch “Alternativ-Faktischen”)zusammen, das gegenwärtig wie ein Unwort die politische Diskussion beherrscht?
Dass unser Verhalten oft, ja vielleicht sogar meistens nicht von Fakten bestimmt wird, sondern von Intuition, spontaner (Bauch-) Entscheidung selbst gegen die Fakten, von Gefühlszuständen und dergleichen mehr wird jeder bei sich selbst schon hat spüren können. Ich sage “spüren” und ich sage nicht “erkennen”, denn das Erkennen ist eine Kunst, die Denken, Interpretieren und Wissen voraussetzt und nicht von jedermann beherrscht beziehungsweise geschätzt oder eingesetzt werden kann. Dennoch sind beide Zustände menschlich. Sie prägen und steuern mehr oder weniger stark unseren Lebensweg.
Alle Relativierungsstrategien der postmodernen Art, auch wenn sie noch so sehr in der Antike ihren Ursprung haben, gehen in unserer Gegenwart jedoch letztlich auf den Schweizer Philosophen und Wissenschaftstheoretiker Paul Feyerabend (1924-1994) zurück. Er lebte in dem sonnigen und pluriversen Kalifornien des letzten Jahrhunderts, unterrichtete ebenso wie Herbert Marcuse in Berkeley (San Francisco) und entwickelte dort seine anarchistische Wissenschaftstheorie, die sich als post-marxistisch verstand. Immerhin war er ein Schüler und Anhänger von Sir Karl Popper gewesen, dem (deutschen) Meisterdenker der anglo-amerikanischen Philosophy of Science, mit dem er aber dann bald gebrochen hatte zu Gunsten eines fast schon aggressiven und anarchischen Relativismus, der mittlerweile sogar schon von “Post-Faktizität” redet .
Im Umgang mit der Wahrheit spricht Feyerabend von Methoden-Vielfalt (Anything Goes): Auch mit ganz unterschiedlichsten Methoden lassen sich Wahrheit erkennen und Techniken erfolgreich entwickeln. Wie nicht zuletzt er selbst eine eigene vorstellt: Fast schon ironisch gebrochen beschreibt er, wie er sich mit traditionellen und für mein Empfinden suspekten Heilmethoden von Krankheiten zu befreien sucht (2).
Interessant ist auch sein intensiver Briefwechsel mit Hans Albert, einem führenden Vertreter des Kritischen Rationalismus und Neo-Positivismus in den 70er und 80er Jahren des letzten Jahrhunderts. Feyerabends philosophische und wissenschaftstheoretische Richtung steht geradezu antithetisch zu den Positionen Alberts. Und dennoch konnten beide lebenslang im Gespräch und in einer freundschaftlichen Diskussion miteinander bleiben (3).
Auch Derridas „post-strukturalistischer“ Ansatz, jeder Welt-Kultur, ja fast schon jeder Lebensform, auch jedem Geschlecht(!) eine eigene Sprache, ein eigenes Denken und eine eigene Vorstellung von Wahrheit, Schönheit und Gerechtigkeit zuzubilligen, geht in diese Richtung. Derrida hat ebenso wie Lyotard und Baudrillard eine Zeit lang in Kalifornien unterrichtet und gelebt und dort das fröhliche und auch “post-faktische” Durcheinander der Lebensstile, Religionen, der Wahrheiten und Weisheiten kennen gelernt.
Nicht zuletzt kommt auch eine einflussreiche psychologische und psychotherapeutische Schule, die ihre Wurzeln auch in Wilhelm Reich hat, aus Kalifornien (Big Sur, „Esalen-Institut“): die Gestalttherapie von Fritz Perls, auf die sich gegenwärtig viele körperbezogene Psychotherapien stützen. NachfolgeSchulen sind etwa die Bioenergetik, aber auch die so exzessiv am Körper orientierten Moden der Gegenwart, das heißt Sport, Fitness, Yoga, Meditation und der gleichen mehr, hängen alle damit zusammen. Nicht zuletzt wurden und werden in Kalifornien auch spirituelle Vorbilder aus den asiatischen Kulturen adaptiert, die im europäischen Westen ebenso gerne angenommen worden sind.
Wir befinden uns also wieder in einer typischen Vermischungsphase der Kulturen samt aller daraus resultierenden Konflikte und Irritationen. Noch nicht im Sinne einer Weltkultur. Aber Hegels “Weltgeist” hat sich wieder mit einem erheblichen Schritt nach vorne auf den Weg gemacht trotz oder gerade auch wegen der vielen Widerstände, die sich ihm dialektisch, um nicht von Isosthenien zu reden, entgegen stellen. Und das Tempo des Zusammenwachsens der Kulturen wird immer schneller. Bald wird dieser ” Weltgeist” im Sinne Hegels (und auch von Marx) mit Weltregierung, Welt-Institutionen und Welt-Justiz als die Summe aller “Zeitgeister” der Einzel-Kulturen am Ziel sein, allen nationalistischen Ein-Igelungen und Isolierungsversuchen der Gegenwart zum Trotz.
In Los Angeles habe ich einen Park der Weltreligionen kennenlernen können, wo sich Buddhismus, Islam, Judentum, Hinduismus und Christentum freundlich die Hände reichen dürfen. Ähnliche Ansätze gibt es auch im Schlosspark von Schwetzingen, nur dass dieser Park bereits aus der Zeit der Aufklärung stammt und nicht zuletzt auch Lessings Nathan-Träume illustriert.
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Doch noch einmal: Was sind Fakten? Was sind Fakes? Wie lassen sie sich beweisen? Widerlegen? Wozu sind sie gut? Wie nützlich sind sie? Kann uns dabei die Wissenschaft helfen? Lässt sich Wahrheit oder Unwahrheit in Bezug auf metaphysische Begriffe wie Gott, Seele, Liebe, Schönheit, Vernunft berechnen, digitalisieren?
Wie wichtig sind Gefühle in unserem Leben? Welchen Stellenwert haben sie bei unserer Entscheidungsfindung? Lassen sie sich beeinflussen? Oder sind wir ihnen bereits ausgeliefert, ohne dass wir es bemerken würden?
Nach welchen Richtlinien sollen wir urteilen, wenn es um Wahrheit, Schönheit oder Gerechtigkeit geht? Was ist rational, was irrational im Gespräch und bei der Suche nach Wahrheit? Was ist normal, was unnormal?
Was ist Weisheit, wenn alles wahr sein kann? Wozu noch Philosophie?
Gibt es etwas, das für alle Menschen gleich gültig und gleich richtig ist?
Das auch überzeitlich und multikulturell gültig bleibt?
Ich denke ja. Eben diese Fragen und Fragestellungen nämlich jetzt werden überzeitlich den Menschen beschäftigen, so lange er Mensch bleiben will. Was nicht unbedingt vorausgesetzt werden kann(4). Nicht jedoch die Antworten werden gleich bleiben. Sie werden kommen und gehen wie immer und überall in der Welt.
Doch wenn diese eben genannten Fragen gar nicht mehr verstanden werden können? – Dann werden sie gleichwohl in einer anderen Sprache verstanden und formuliert sein, die ich wiederum vielleicht nicht mehr verstehen werde. Und ich denke, eben das geschieht augenblicklich in unserer Gesellschaft. Wir sind wieder einmal allein gelassen in neuen und fremden Sprach-Welten, wir denken und leben alleine in einem seltsamen, technisch kalt und fremd eingerichteten labyrinthisch anmutenden Apparat. Wir werden auch alleine sterben, ohne wie so oft den Minotaurus je gesehen zu haben. Denn den gibt es ja bekanntlich nicht.
Doch wir würden die Lüge nicht kennen, wenn wir nichts von der Wahrheit wüssten. Ohne Wahrheit gibt es keine Wahrscheinlichkeit. Das sagt die Mathematik, selbst wenn die Asymptote nie an die Wahrheit ganz heran reichen oder mit ihr verschmelzen kann.
Dass es zu unterschiedlichen Zeiten immer wieder auch viele und unterschiedliche Wahrheiten gegeben hat und geben wird, das haben die postmodernen Denker nachdrücklich zu beweisen versucht. Auch wenn ich sie, Derrida eingeschlossen, eher zu den Künstlern als zu den beweislastigen Wissenschaftlern zähle (5).
Erfreulicherweise, muss ich hinzu fügen. Denn unsere Aufgabe ist und bleibt als Mitglieder einer Sprach-Gemeinschaft das gemeinsame Interpretieren; eine Spur zu spuren, zu finden in dieser Wüste voller Daten und “Fakten”, wo gleichwohl doch immer wieder die Sonne aufgehen wird.
1 Jean François Lyotard, „Die Mauer des Pazifik“(1985). Eine leicht zu lesende „Erzählung“ über das neue Denken und Leben in Kalifornien. Auch Lyotards eigenwilliges methodisch-stilistisches Vorgehen beim Finden von Wahrheit wird hier deutlich. Nicht zuletzt war der Franzose der Erfinder oder Verbreiter des Begriffs „Postmoderne“(„Das postmoderne Wissen“ 1979), auch wenn er über diese Neuprägung nicht glücklich gewesen sein soll, so Niklas Luhmann im Gespräch. Siehe auch mein taz-Interview mit Lyotard auf der Blogseite Nr.19.
2 Paul Feyerabend, „Wider den Methodenzwang“(1976), „Erkenntnis für freie Menschen“(1979). Alles geht – eine Begrenzung der Suche nach Wahrheit einseitig nur auf die Naturwissenschaften hält Feyerabend für fatal und geradezu unwissenschaftlich.
3 Briefwechsel Hans Albert – Paul Feyerabend 1958-86. Albert war 1968 mit seinem angeblichen Neo-Positivismus heftige Zielscheibe studentischer Kritik, die auch auf die Wissenschaftstheorie große Auswirkungen hatte (“DerPositivismus-Streit in der Sziologie”). Einen Interview-Wunsch meinerseits beantwortete Feyerabend in Zürich schriftlich mit dem Hinweis, dass die ganze Philosophie „gar nicht so wichtig sei“.
4 Vgl. im Blog die Nr.238 („Vom Unheil 2“) und meine neue Einstellung zur Technokratie: Dass die Evolution tatsächlich vielleicht eine Herrschaft der sich selbst steuernden und verbessernden Maschinen vorsieht und wir Menschen in die zweite Reihe werden zurück treten müssen.
5 Ob Derrida und Baudrillard nur „eleganten Unsinn“ geredet haben – vgl. im Blog meinen Aufsatz zur Sokal-Affaire.
Für Derrida-Einsteiger: Meine erste und auf mich sehr provokativ wirkende Bekanntschaft mit Derrida war sein Werk “Sporen – Die Stile Nietzsches“. Dieses kleine dünne Büchlein bereits von 1972 hatte ich als Raubdruck auf einem Rock-Festival in Süddeutschland erworben und es hatte mich sofort fasziniert: Wegen seiner extremen “Unverständlichkeit” einschließlich seiner wechselnden Thematiken, dem neuen und ständig wechselnden Schrift-Design, den sexuellen Anspielungen (“Phallokratie”, “Das Zurückziehen der Vorhaut der Eichel”), seiner Mehrsprachigkeit und Hermetik allgemein.
Ein Satz daraus ist mir bis heute in Erinnerung geblieben: Nietzsches “Ich habe meinen Regenschirm vergessen” und Derridas bizarre Erläuterungen dazu. Die schließlich in dem versteckt-verschlüsselten Resümee endeten: Vielleicht mag meine gesamte Interpretation Nietzsches nur die parodistische Übersteigerung einer Interpretation gewesen sein.
Drei weitere, leichter auffindbare, ebenfalls sehr artistische und mit Ironie gewürzte Werke Derridas kann ich empfehlen:
“Wie nicht sprechen” (1989), “Einige Statements und Binsenweisheiten über Neologismen, New-Ismen, Post-Ismen, Parasitismen und andere kleine Seismen“(1997) sowie die Heidegger-“Paraphrase”: “Geschlecht” / “Heideggers Hand” (1988).
Vgl. auch im Blog die Nr.17 und Nr.18 über Derrida.
Inhalt gesamt Nr.91
Ich wünsche allen meinen Leserinnen und Lesern ein gutes und erfolgreiches Jahr 2017! – Ob im prä-, post-, anti- oder wie auch immer faktischen Sinne, das mag jede Person für sich selbst entscheiden.