259 Über Bewegung (Montaigne)
Biographisches (3)
In Senecas Lucilius-Briefen lese ich, dass sich der römische Politiker und Philosoph sogar noch mit 62 Jahren jeden Morgen vor dem Frühstück sportlich betätigt hat (1). Heute würde man Walking oder Jogging dazu sagen; Seneca beziehungsweise die Übersetzer nannten es “Wettlauf”. Das Ziel war nach Senecas Darlegungen nicht Sieg oder Geschwindigkeit oder möglichst schnelle Bewältigung einer Strecke, sondern medizinisch ganz modern nur – “Müdigkeit”, die bei einem Sportler seines Alters relativ schnell eintritt und einem gesunden Kreislauf-Training, dem Grundsatz „Entspannung durch Anspannung“ folgend, gerecht wird.
Sogar mit einem „Personal Trainee“ hat er sein tägliches Training durchführen können. Es war Pharius, ein Sklave und „liebenswürdiger junger Bursche“ aus dem eigenen Haushalt, halb so alt wie er. Für dessen Zukunft erwartet der Philosoph ein permanentes „Aufwärts“, während bei ihm, Seneca, das „Abwärts“ im Vordergrund stehe, das man eher auch einem beschleunigten „Fallen“ gleichsetzen könne.
Senecas Leben als ein in Ungnade gefallener Minister und Coach des Kaisers Nero endete bekanntermaßen dann drei Jahre später mit einem vom Kaiser, der 15 Jahre lang sein Zögling war, erzwungenen Freitod.
Heute entdecke ich, dass eben solche oder ähnliche alltägliche morgendliche Betätigungen nicht zuletzt mein ganzes Leben spiegeln können – als eine ununterbrochene Bewegung und Ortsveränderung, die mit einer großen Neugierde für das Neue und Andere daher kommt, ohne mich davon ganz einspannen oder fesseln zu lassen. Immer gab es nämlich hilfreiche Grenzen, die mich vor Abstürzen und Abgründen bewahrt haben.
Sitze ich jetzt in der StraßenBahn – neugierig beobachte ich die vielen Menschen um mich herum. Wie sehr fällt mir das Andersartige auf, fasziniert mich das Abwegige, Seltsame, Ungewöhnliche in Kleidung, Sprache, Gestik. Es hat mich immer schon und in jeder Hinsicht fasziniert. Es verspricht Abenteuer, Abwechslung, Ausbruch aus der Monotonie des Alltags, des Lebens. Es motiviert mich zum künstlerischen Schaffen und Gestalten. Es gibt mir neue Ideen, lenkt meine Zu-und Abneigungen Menschen gegenüber und meine große Sehnsucht auch nach dem Fremden, Fernen. Sogar ganz direkt und örtlich verstanden beispielsweise als meine Liebe zu Schiffen oder dem Ausland mit seinen fremden Sprachen und Verhaltensweisen.
Andere Orte, andere Lebensformen, andere Menschen – was könnten sie einem zeigen, versprechen, deutlich werden lassen? Ob es besser, ob es schlechter werden wird, wenn ich mich dem anschlösse?
Ich denke, meinen Weg, für den ich sehr dankbar bin und den ich in ähnlicher Art und Weise (auch manchmal gerade der Weg durch das Fremde hindurch) genauso noch einmal gehen würde, bin ich gleichwohl ganz ohne mein Zutun gegangen. Ich bin also eher „gegangen worden“ im Sinne einer Passivität. Der Faden war gesponnen mit meiner Geburt. An seiner Beschaffenheit und Konsistenz konnte meine Familie, konnte ich nicht sehr viel verändern. Seine Länge bestimmten und steuerten darüber hinaus die Umstände meines Lebens, Glück, Zufall, Begegnungen, die ich manchmal mehr, manchmal weniger mit gestalten konnte.
Das Durchschneiden eben dieses Fadens erledigt ebenso wie seine Erfindung und das WeiterSpinnen das Schicksal. Ich selbst habe nicht mitbestimmen dürfen, in diese Welt eintreten zu wollen. Ebenso bleibt mir wenig Mitspracherecht beim Austritt aus dieser Welt und dem Durchschneiden des LebensFadens, den die Moiren, die Parzen und Schicksalsgöttinnen, gesponnen haben.
Schicksal ist ein metaphysischer Begriff, mit dem viele Menschen heute nur noch sehr wenig anfangen können. Schicksal ist für mich eine Struktur, die mich lenkt, leitet, beherrscht. Sie setzt sich aus vielen, ja vielleicht sogar unerkennbar und unendlich vielen Einzelteilen zusammen. Sie lässt sich in geistigen Begriffen formulieren, die weniger an Zeit und Kultur gebunden sind in ihrer Abstraktion, als wenn ich von Genen, Arterienverkalkung, Alterungshormon etc. reden würde.
Aber Schicksal ist mehr. Vor allem beinhaltet dieser Begriff auch die Zukunft: Was man einmal in einhundert, in fünfhundert Jahren unter Schicksal verstehen wird, ist jetzt bereits eingeschlossen (sub specie aeternitatis) in diesem Begriff und muss nur ent-wickelt, ent-deckt, ge-funden werden. Ähnlich dem Begriff Gott. Auch er dehnt sich und wächst, entwickelt, ändert sich, verschwindet gelegentlich ganz aus unserem sprachlichen Blickfeld, taucht wieder auf in Träumen, Trümmern, Märchen, Berechnungen und Interpretationen der Menschheit.
Aber es gibt bei diesen meinen morgendlichen Fahrten und Beobachtungen durch Stadt und Gesellschaft gleichwohl auch eine notwendige Antithese zur Vielfalt: Ankomme ich jeden Morgen in der Waldeseinsamkeit, in der Stille. Die Natur, die Bäume, Berge, die Vögel, die Tiere um mich herum – alles setzt mich in eine ruhige Zufriedenheit und gelassene Gleichgestimmtheit („Ataraxie“ nannten es die Römer), die mich den Tag mit seinen vielfältigen Antithesen, mit seinen Isosthenien und Aufgaben meist immer wieder gut gelaunt beginnen lässt.
Auch die Straßenbahn auf dem Rückweg nach Hause ist immer voll besetzt, voll mit Andersartigem, Seltsamem, Fremdem und Faszinierendem. Ein richtiger Schatz an Eindrücken und Erkenntnissen. Mit Graffiti an den Wänden draußen: … nur tote Fische schwimmen mit dem Strom… her mit dem schönen Leben… Oder auch (früher im Gerberviertel) Bonjour Jacques Paris und (ebenfalls dort früher) … Ulrike (Meinhof) lebt. Das ist vergessen, überstanden, vorbei.
Doch andere und neu-alte Monster stehen bereits wieder vor den Toren der Stadt mit ihrer Aggressivität, ihrer mentalen und emotionalen Beschränktheit, Fremdheit und Andersartigkeit. Sie versprechen nur Gutes. Aber immer, wenn das Paradies zu heftig angestrebt worden ist, ist die Hölle dabei heraus gekommen. Das sagt der Philosoph und deutsch-englische Szientist(googeln!) Karl Popper und meint damit nicht nur Platon.
„Memento mori“, hat gestern Pater JR., ein Freund, im Gottesdienst mit der christlichen Aschermittwochs-Brille die Stoiker und damit auch einen der Hauptsätze Senecas zitiert, den dieser immer wieder anführt. Unter Nero hat er genug Terror und Brutalität erleben müssen. Ein Spruch, der aus dem antiken Rom stammt. Bei Triumphzügen nach einer gewonnenen Schlacht wedelte ein Sklave, der neben dem siegreichen Imperator, der sich selbstbewusst von der Menge feiern ließ, auf dem Wagen stand, mit Palmzweigen Kühlung zu. Gleichzeitig musste er dem gefeierten Helden aber immer wieder zu flüstern: „Denke daran, dass auch du nur ein Mensch bist…“
Im letztjährigen Aschermittwochs-Gottesdienst hat ein Priester aus Ghana (die „Sonne Afrikas“, die dann doch nicht so sonnig gewesen sein mag) diesen mahnenden und wenig aufbauenden Memento-Spruch kurzerhand beim Austeilen des Aschenkreuzes in ein freundliches „Gott liebt dich!“ umgewandelt. Sehr zur Überraschung und Freude von uns allen, die wir doch eher eingeschüchtert da auf das dunkle Zeichen an der Stirn gewartet haben.
Der Memento-Spruch ist auch einer der Zentral-Sätze der existenzialistischen Philosophie. Er will uns nur immer wieder daran erinnern – um noch einmal Seneca zu zitieren – jeden Tag wie einen letzten anzugehen, zu gestalten, zu genießen. Ob im Wald beim Spaziergang, in der Bahn, beim Arbeitsplatz oder in der Begegnung mit dem Du, dem Ich und dem Wir.
Pater R. hat gleichwohl im eben angesprochenen Gottesdienst auch das französische „Man sieht nur mit dem Herzen gut“ von Saint-Exupery in die Waagschale geworfen, so dass auch hier im Wettstreit der Ideen und Begriffe eine Gleichwertigkeit, eine Isosthenie hergestellt werden kann. Ein Patt der Sprüche und Philosophien: An den Tod zu denken und gleichwohl im Umgang mit Menschen, so andersartig sie auch sein mögen, das Herz nicht zu vergessen. Womit bildlich zu allen Zeiten schon die emotionale Begegnung gemeint ist. Dass eine solche Begegnung vielleicht weiter, tiefer geht und sieht „als jede Vernunft“.
1 Seneca, Briefe an Lucilius Nr.85
Diesen Text habe ich im Stil Michel de Montaignes abzufassen versucht, der mir in mancher Hinsicht im Schreiben dieses Blogs schon von Anfang an ein Vorbild war. Die Überschrift umfasst gerade nicht das Ganze. Abschweifungen führen weg vom Grundgedanken. Es gibt Zitate aus der Vergangenheit (Antike) wie Gegenwart, die autobiographische Ich-Perspektive wird beibehalten. Das Kreuz-und quer-Springen mag den Leser verwirren und ein roter Faden scheint kaum vorhanden. Assoziationen, Bilder, Abstraktionen wechseln scheinbar willkürlich mit realistischen Beschreibungen von Gott und Welt und der eigenen Befindlichkeit. Kriterien also, die in einem Deutsch-Aufsatz am besten nicht angewendet werden sollten.
Lesetipp: Michel de Montaigne, Essays