261 Über Seneca (1)
Einführung
I
Dem Schriftsteller Lucius Annaeus Seneca, einem der wenigen römischen Philosophen vielleicht, der sogar über die Zeiten hinweg internationale Bedeutung erlangt und behalten hat, bin ich seltsamerweise immer aus dem Wege gegangen. Beeinflusst war ich dabei vor allem von der Lektüre der zwei römischen Geschichtsschreiber Tacitus und Sueton, die beide an Seneca kein gutes Haar gelassen haben.
Er sei ein Heuchler. Als einer der einflussreichsten KabinettsMitglieder an Neros Kaiserhof habe er immer Wasser gepredigt, selbst jedoch Wein getrunken. Als ein angeblicher Vertreter der stoischen Philosophie habe er Weisheiten propagiert, die er im Grunde gar nicht einzuhalten bereit war.
Sein unermesslicher Reichtum, den er nur seinem Chef und Zögling Nero zu verdanken habe, wurde ihm ebenso vorgehalten wie auch sein stillschweigendes Dulden der Verbrechen des Kaisers, der seine Mutter, seinen Bruder und auch noch zwei seiner Ehefrauen hat umbringen lassen. Neros „Ehefrau“ Sporus, ein kastrierter Sklave, überlebte den Kaiser als Frau und Geliebte(r) des nachfolgenden Kaisers Otho nur kurz.
Dennoch ist mir Seneca gerade wegen dieser Zwiespältigkeit und “Imperfektion” irgendwie doch sympathisch. Er stand genau wie wir alle heute auch zwischen den beiden in Rom dominierenden Zeitströmungen von exzessiver und egoistischer Lustorientierung (“Genuss-Sucht” nennt er das) und sozialer Verantwortung dem Menschen und der Natur gegenüber. Ich will Spaß, ich will Spaß (und hemmungslos genießen), sagen die einen. Denke an deine Mitmenschen, die Natur und die Zukunft, was daraus wird, sagen die anderen. Sexuelle Verfallenheit und ein Bindungsleben mit Nachkommenschaft werden zukünftig immer weiter auseinander driften.
Ein weiterer Aspekt, der mich an Seneca gefesselt hat, ist der Aspekt der Zeitenwende. Seneca steht geradezu und mehr noch als etwa Cicero, der den Bruch zwischen Republik und Monarchie nicht überlebt hat, zwischen einem alten und neuen Denken, einem alten und einem neuen Zeitalter. Er erlebt die Übergangsschwierigkeiten hautnah bis hin zu seinem erzwungenen Freitod.
Er kennt sich in der antiken Philosophie-Geschichte sehr gut aus, schätzt die Philosophen der Vergangenheit. Er steht aber auch mitten drin in einem Zeitalter des Umbruchs und der radikalen Veränderungen. So wie wir auch.
Unsere Werte ändern sich wieder einmal ebenso. Wie mit den alten Menschen umgehen, diese still in ihren Käfigen auf das Ende hin wartenden Gestalten? Und mit “Käfig” meine ich noch nicht einmal die allgemeinen VerwahrAnstalten, sondern die eigene Gebrechlichkeit und Hinfälligkeit.
Wie mit den Neugeborenen, den Kindern und Jugendlichen umgehen, deren “Aufzucht” keine Erziehung mehr sein kann, sondern auch nur noch reine Verwahrung? – Wie mit Liebe und Sexualität umgehen, wenn die Nachkommenschaft immer mehr designt, geklont, gezüchtet werden kann und die Lust frei flottieren darf in einem pansexuellen Pluriversum, welches auch digitale “Unterstützer” bereits einschließt?
Wie mit dem gesellschaftlichen Ganzen umgehen, wenn Begriffe wie Demokratie oder Diktatur beliebig gedehnt und gewendet werden können und sich ein Volk mehrheitlich für die Abschaffung von Demokratie und Freiheit in einem “Stahl-Staat” jenseits jeder Entwicklung, Mitbestimmung und Dynamik ausspricht?(1)
Seneca war in einer solchen Zeitenwende ein Prototyp und herausragender Protagonist, ein Mitspieler, ein Opfer. Er lebte ein Leben, das man sich abenteuerlicher und verzweifelter fast nicht mehr vorstellen kann. Aufgewachsen als ein spanischer junger Mann, dessen Vater in der Oberschicht als Redner und Advokat einigen Erfolg hatte, emigrierte er mit seiner Familie sehr früh zu den anderen spanischen Emigranten nach Rom in die Hauptstadt der Welt, um dort Fuß zu fassen. Was ihm auch gelang.
Zeitlebens litt er an lebensbedrohlichen AsthmaAnfällen, die ihn in seiner Verzweiflung im Jugendalter fast zum Selbstmord getrieben haben. Diese Todeserlebnissse sind wohl auch mit ein Grund dafür, dass er sich schon sehr früh und vor allem dann im Alter als ein in Ungnade gefallener „Pensionär“ so intensiv mit dem Tod auseinander gesetzt hat. Quasi eine weitere Kompensation frühkindlicher Traumata, wie die Psychoanalyse Alfred Adlers jetzt interpretieren würde.
In seiner Anfangszeit in Rom ist er acht Jahre lang nach Korsika wegen Ehebruch vom Kaiser Claudius in die Verbannung geschickt worden – eine sehr schwere Strafe damals, die Seneca sein ganzes Leben lang beklagte und die ihn scheinbar sogar ebenso sehr traumatisiert hat wie seine körperliche Labilität.
Sein Aufstieg nach seiner Begnadigung am Kaiserhof des jungen Nero und der Kaiser-Mutter Agrippina (sie hatte ihren Gatten, Kaiser Claudius, ermorden lassen), war danach anschließend jedoch kometenhaft. Seneca wurde zum Erzieher und Redenschreiber des 12ährigen Nero, später des 17jährigen Kaisers, den er insgesamt 15 Jahre lang betreute und begleitete. Das heißt fünf Jahre lang war Nero sein Schüler, zehn Jahre lang danach begleitete Seneca den Kaiser als „Coach“. Nero starb mit 31 Jahren.
Seneca war neben Petronius, dem Minister für Kunst, Design und guten Geschmack, würde man heute wohl sagen, derjenige, der den Kaiser in weltanschaulichen Fragen am meisten beeinflusste. Mit dem Ergebnis, dass die ersten fünf Jahre der NeroRegentschaft mit eine der besten überhaupt im römischen Weltreich gewesen sein sollen.
Nero hat von Seneca dessen Liebe zu Kunst und Literatur, zum Theater, nicht zuletzt aber auch zur Philosophie übernommen. Er war gerade kein Militär und hat sich zeit seines Leben als Herrscher weitgehend nur als Künstler betätigt und feiern lassen. Dennoch hat er seinen alten Lehrer zum Freitod gezwungen, weil dieser an einer Verschwörung zum Umsturz des Reiches angeblich beteiligt war. Was nach neueren Erkenntnissen nicht ganz abwegig gewesen ist, weil man bereits Seneca als Nachfolger von Nero ins Auge gefasst hatte.
II
Nach seinem freiwilligen Abschied vom Kaiserhof, Seneca war jetzt 62, vielleicht ist ihm der immer stärker werdende Wahnsinn Neros zu unerträglich geworden, zog er sich auf seine Landgüter zurück und arbeitete unentwegt als Schriftsteller. In seinen Lucilius-Briefen, dem um einiges jüngeren Adressaten seiner Erkenntnisse, auf die ich mich im Folgenden oft berufen werde, setzt er, der Stoiker, sich immer wieder mit Epikurs Philosophie der Freude und des angenehmen Lebens auseinander. Ohne diesen von Lucilius so sehr geschätzten Denker jedoch gänzlich abzulehnen; im Gegenteil – die Wahrheit, sagt Seneca, gehört keiner einzigen philosophischen Schule. Sie gehört allen.
Doch die harte Linie der Stoa, Trauer, heftige Gefühle, Leid und Unglück als ein Nichts anzusehen (“Uber das Unabänderliche soll man sich keine Gedanken machen”), unterstützt er nicht: Er gestattet den Mitmenschen den Ausdruck und das Empfinden von Gefühlen, weil sie zur menschlichen Natur gehörten wie alles andere auch. Nur eine Übertreibung lehnt er ganz im Sinne von Aristoteles ab.
Anders als seine dogmatischen Schulgenossen der Stoa, mit denen sich Sextus Empiricus so intensiv auseinander gesetzt hat (vgl. im Blog Nr. 236, 237, 242), beschäftigte er sich in den Briefen jedoch weniger mit Sprachphilosophie, Logik oder Erkenntnistheorie. Im Mittelpunkt seines Denkens steht immer nur die eine Frage: Wie soll, wie kann ein Leben lebenswert gelebt werden. D.h. in fast allen seinen Texten stehen Fragen der Ethik und Moral immer im Vordergrund.
Warum dieses große Interesse so ausschließlich nur noch an der Moral seiner Zeit?, fragt man sich heute. – Ich denke, weil Seneca am Kaiserhof Neros die heftigste Grausamkeit und Lustverfallenheit hat mit erleben müssen. Es wird ihm in seiner Ambivalenz gefallen haben, dass sein Zögling auch wie er ein Künstler war, der sich sogar trotz seiner jungen Jahre für philosophische Fragen geöffnet hatte. Dass ihn der Kaiser immer wieder mit Villen und großen Parkanlagen beschenkte, warum nicht? In den Briefen deutet er verschlüsselt nicht seine Zustimmung, aber doch sein Interesse an solchen Dingen an. Auch wenn er alles gegen Ende seines Lebens als überflüssig wieder an den Kaiser zurückgeben wollte (vgl. seinen zeremoniellen Disput darüber mit Nero im Blog Nr.165).
Seneca kümmert sich jetzt in seiner freiwillig gewählten Verbannung nur noch um Fragen der Ethik, um das tugendhafte Leben, welches das Laster verhindern und bekämpfen will wie später das Christentum die Sünde. Das macht ihn in dieser seiner Hartnäckigkeit aber auch wieder verdächtig: Wie wenn er eine Schuld abzuarbeiten, zu kompensieren hätte, nachdem er so viele Jahre am Kaiserhof Grausamkeit, Mord und Verbrechen hat “übersehen” müssen. Er kümmert sich um Tugend (wer von uns weiß noch, was das ist?), um Weisheit und Philosophie. Kein Wort mehr über Staatslehre und Milde, kein Theaterstück wird mehr geschrieben – nur noch Briefe an Lucilius sind überliefert aus diesen letzten zwei Jahren.
Dass es den Adressaten Lucilius gegeben hat, ist wenig umstritten. Er war ein angesehener Provinz-Gouverneur im heutigen Sizilien und etliche Jahre jünger als Seneca. Ob dieser aber wirklich alle und so viele Briefe erhalten hat (innerhalb von zwei Jahren wurden 124 mehr oder weniger umfangreiche Briefe, eher Abhandlungen, geschrieben), jede Woche also wenigstens einen Brief, das ist umstritten. Ich denke auch, dass etliche fingierte Briefe darunter sind, die nur den Namen tragen, ohne an Lucilius als Adressaten abgesendet worden zu sein (2).
III
Das Christentum hat mittlerweile, von Judäa kommend und intellektuell stark gepuscht vom Apostel Paulus aus Kilikien, als eine Untergrundbewegung Fuß gefasst im römischen Reich. Unterschwellig scheinen sogar seine Ideen bereits an die Oberfläche zu gelangen und sie scheinen auch Seneca beeinflusst zu haben. Denn nirgendwo sonst bei den antiken Philosophen, selbst bei Aristoteles oder Cicero, finden wir eine so große Annäherung an das christliche Weltbild von Gott und Liebe, der Humanität, der Gleichheit aller Menschen wie bei Seneca. Auch Senecas Katalog der Tugenden und Laster, der nicht zuletzt auch auf der Ethik des Aristoteles fußt (sie gilt immer noch und fast weltweit bis in die Gegenwart hinein), ist fast widerspruchslos vom Christentum übernommen worden.
Das ging sogar soweit, dass man schon in der Antike einen Briefwechsel des Apostels Paulus mit Seneca entdeckt zu haben glaubte, so dass auch Seneca als einer der wenigen von der christlichen Geschichtsschreibung samt ihrer dogmatischen Brille akzeptiert wurde, ja fast ohne Zensur bis in die Gegenwart hinein überliefert und diskutiert werden konnte. Tatsächlich hatte Paulus als ein römischer Staatsbürger das Recht, vor einer Verurteilung zum Tode noch vor dem römischen Kaiser gehört zu werden. Also wurde Paulus von Jerusalem, wo er gerade wirkte, nach Rom geschafft, musste dort aber lange Monate, wenn nicht sogar Jahre auf seinen Prozess warten, bis er schließlich im Rahmen von Neros Christenverfolgung ähnlich wie auch der Apostel Petrus hingerichtet wurde.
In dieser Zeit davor soll er mit Seneca einen Austausch gehabt haben, was aber, wie sich später heraus stellte, nur erfunden war. Trotzdem findet man im Werk Senecas, vor allen Dingen im Spätwerk seiner Lucilius-Briefe zahlreiche überraschende Übereinstimmungen sowie Andeutungen und Vorwegnahmen der christlichen Weltanschauung, insbesondere seiner Menschenlehre und Moral. Auch der Gott der Liebe und Barmherzigkeit wird von Seneca eingesetzt, quasi “inthronisiert”.
IV
Ein letzter Punkt ist mir noch und wieder wichtig: das Thema der Geschichtsschreibung. Ich komme immer mehr zur Überzeugung, dass die Geschichtsschreibung über die Antike, wie sie uns überliefert worden ist, durch einen Filter der Zensur, der kritisch-subjektiven Betrachtung, auch der Zerstörung und Zurechtbiegung hat gehen müssen. Dieser große Zensor war tatsächlich relativ stark vom frühen Christentum, auch von seinem Fanatismus beeinflusst.
Denn auch nach der Zeitenwende wurde auf christlicher Seite weiterhin und sofort kurzer Prozess gemacht mit allen Gegnern, Staatsfeinden oder „Heiden“, mit dem alten Denken und mit allem, was an die schlimme Antike der olympischen Götter und des sündhaften römischen WohlLebens erinnern konnte. Nero wurde spätestens im Mittelalter zur Inkarnation des Bösen schlechthin, Kaiser Julian, der die olympischen Götter nur versuchsweise und auf freiwilliger Basis wieder neben die christliche Lehre hat stellen wollen, wurde zu einem Apostat, einem Abtrünnigen, einem Verbrecher. Das bedeutet, dass alle Schriften, die überliefert werden durften, bis in die Gegenwart hinein immer sehr stark den Zulassungs-Stempel der christlichen Dogmatiker und ebenso auch die christlich geprägte Terminologie seiner Übersetzer, seiner Interpreten tragen, während die Antithese nicht berücksichtigt wird beziehungsweise auch ganz verboten, gebannt, also verbrannt worden ist.
Von voluptas, Lust, Genuss, wird oft in der römischen Antike gesprochen. Denn Genuss ist nicht nur Sex, sondern ebenso häufig auch Essen und Trinken und Unterhaltung. Daraus wird dann im Mittelalter einseitig Wollust, später dann Unkeuschheit, schließlich wurde daraus Spaß, dann auch wieder sinnlicher Genuss etc. – Was ist amor, Liebe? In der Antike gibt es fast nur den Sex, körperliche Anziehung durch Schönheit, Erotik, weniger geistige Liebe oder romantische Zärtlichkeit und (neuzeitlich gedacht) Verantwortung für das Ich und das Du. Geschweige denn die Nachstenliebe, dass man sogar seine Feinde lieben soll.
Auch aus dieser überaus vielfältigen amor wird in den Jahrhunderten später und meist dann eher negativ Begierde, wieder Wollust, dann Erotik, dann das geistige Begehren und so fort. Selbst Platon wird einseitig interpretiert: Als “platonische Liebe” geistert sie durch die Jahrhunderte. Lust dient nur der Fortpflanzung, so will es das Gesetz. Einen Mann ganz offiziell zu heiraten (wie Nero), sich von diesem vielleicht sogar im Sinne der griechischen Kyniker vor aller Welt vergewaltigen zu lassen (wie Nero), das geht nicht.
Soviel zu den Sprach-Brillen, die man auch als Übersetzer oder Interpret in den verschiedenen Zeitaltern zu tragen gezwungen ist.
Im Folgenden werde ich meiner allgemeinen Zielsetzung entsprechend Teile aus Senecas Originaltexten in der Übersetzung von Otto Apelt zitieren und vorstellen(3). In anderen BlogBeiträgen habe ich bereits über Senecas Tod (Blog Nr.162), über die zeremonielle und künstliche Sprache am Kaiserhof berichtet und das Verhältnis von Nero und Seneca als Erzieher untersucht(Nr.161); ebenso auch Senecas negative Einstellung zur Grausamkeit und Brutalität der Zeit zitiert (Nr.265) und den großen Brand Roms anhand von Originaltexten dokumentiert (Nr.163).
In den Textausschnitten jetzt wird es jedoch mehr um ethische Fragen gehen, wie man leben soll, um die Auseinandersetzung mit der stoischem sowie epikureischen Philosophie, die auch heute noch eine Auseinandersetzung mit den christlichen Werten darstellen kann. Darin zur Auflockerung eingeschlossen („Auflockerung“?) sind einige Randbemerkungen wieder zum Alltagsleben in der Antike, das in der Oberschicht nichtsdestotrotz ein WohlLeben war, wie man es sich auch heute wieder gönnen oder zumuten kann („zumuten“?). Nicht zuletzt ist fast jeder von uns angesprochen, der diese Zeilen Senecas in ihrer Übersetzung und auch meine Zeilen zu lesen im Stande ist.
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Beginnen wir, um die Sache zeitaktuell modisch und schmackhaft werden zu lassen („schmackhaft“?), mit Senecas Ausführungen zum Body-Building, einer fast überlebens-notwendigen Pflichtübung im Militär-Staat der damaligen Zeit. Seneca selbst hat noch im Alter von 62 Jahren zusammen mit seinem persönlichen Trainer, einem Haus-Sklaven, täglich trainiert, meist das Laufen (vgl. im Blog die Nr. 259).
Fitness and Body-Building (4)
(Senecas Brief an Lucilius Nr.15 a.a.O. S.50/51)
Daher sorge vor allem für die Gesundheit der Seele. Dann an zweiter Stelle erst für die des Leibes, die dir nicht teuer zu stehen kommen wird, sofern es dir auf nichts weiter als auf gute Gesundheit ankommt. Denn, mein Lucilius, einseitig nur seine Arme zu üben, seinen Nacken geschmeidig zu halten, seine Brust zu kräftigen ist eine törichte und am wenigsten für einen geistig tätigen Mann angemessene Beschäftigung.
Denn magst du auch noch so kunstgerecht dich mästen und deine Muskeln kräftigen, du wirst doch weder die Kräfte noch das Gewicht eines feisten Bullen erreichen. Nicht zu vergessen, dass durch die stärkere Körpermasse der Geist beeinträchtigt wird und an Beweglichkeit verliert. Daher halte den Körper mit deinen Übungen nach Kräften kurz und schaffe dem Geiste Raum.
Es gibt leichte und kurze Übungen, die den Körper alsbald ermüden und keinen Aufwand von Zeit erfordern, auf die vor allem Rücksicht zu nehmen ist: Laufen, Armbewegung mit Hanteln, Sprünge verschiedenster Art, sei es in die Höhe, sei es nach vorne hin oder nach Art der Salier, um diese zu nennen. Oder, gröber gesprochen, Übungen auch nach Art der Wasch-Männer (Walker). Triff deine Wahl nach Belieben, aber neige eher zu ungekünstelter leichter Übung.
Wie du es damit halten willst – kehre jedoch immer wieder schnell vom Körper zum Geist zurück: Übe ihn des Nachts und des Tages.
Wer seine Sorge einseitig nur der körperlichen Ausbildung widmet, für den sind große Beschwerden unvermeidlich: Erstens die Übungen, deren anstrengender Betrieb den Geist erschöpft und unfähig macht zu anhaltender und ernster GeistesArbeit. Sodann wird die Schärfe des Denkens durch übermäßig einseitige Nahrung beeinträchtigt. Ferner sind es Sklaven der schlimmsten Sorte, die man dabei als seine Lehrmeister anstellt. Menschen, die keine andere Beschäftigung kennen als die mit Öl (also Sauberkeit und Hygiene, heute das Duschen) und Wein. Menschen, denen der Tag nach Wunsch vergangen ist, wenn sie gehörig geschwitzt haben und wenn sie die ausgesetzte Menge an Schweiß durch reichlichen Genuss von Wein wieder eingebracht haben. Zu viel Wein und Schwitzen ist das Leben eines Kranken.
1 Vgl.im Blog meine Erzählung “Die Stahl-Stadt”
2 Ich mache es gelegentlich ebenfalls so.
3 Seneca, Philosophische Schriften. Vollständige Studienausgabe (Otto Apelt 1922). Neu herausgegeben bei Meiner 1993, nachgedruckt im Marix Verlag 2004.
4 Auch in Rom gehörte es zum guten Ton, zweisprachig, also Griechisch und Latein lesen, schreiben und sprechen zu können. Selbst die letzten Worte vor seinem Tod soll Caesar in Griechisch gesprochen haben: Auch du mein Sohn Brutus...(gehörst zu meinen Mördern).
Mit dem Unterschied zu heute freilich, dass nützliche Sklaven zum Erlernen der Sprache sofort und immer zur Stelle waren. Außerdem musste man in der Oberschicht, also mit römischem Bürgerrecht, nicht so viel arbeiten wie heute – nur vom Sonnenaufgang bis zur Mittagshitze.