267 Wieder gelesen: Über Skepsis und Skeptiker
Im Folgenden drucke ich noch einmal und mit nur einigen wenigen Änderungen einen ganz frühen BlogBeitrag von mir ab. Er besitzt manchmal noch den ironischen Schwung des Beginns, der mir jetzt leider fast ganz abhanden gekommen ist.
Je mehr ich mich nämlich hinein und hinunter grabe in die Tiefe von Wahrheit und Weisheit, um so dunkler und schwieriger wird alles (Seufz). Wie wenn ich mich in einem Labyrinth befinde, wo auch der Ariadne-Faden verloren gegangen ist. Gleichwohl werden an der Oberfläche jedoch dionysische Bacchanale gefeiert, die uns vergessen lassen wollen, dass sich Zeit und Welt geändert haben und noch einschneidender ändern werden (ich wiederhole mich). Nach der Orgie, schreibt Baudrillard sinngemäß, ist nicht mehr vor der Orgie. Sondern wir werden uns nur wieder Gedanken machen müssen über die Orgie. Er lehnt also das geschichtliche Denken gerade nicht ab.
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Ich bin gefragt worden, ob die skeptische Denkweise, wie ich sie im letzten Blogbeitrag vom 29.4. 2014 beschrieben habe, einen direkten Einfluss auf mein Alltagsleben hat.
Sehr sogar!
1.Punkt: Skepsis. – Ich zweifle alle sogenannten Wahrheiten an, vor allem, wenn sie über die Medien Zeitung, Fernsehen, Internet etc. verbreitet worden sind.
Alle Informationskampagnen der Politik zum Beispiel können ebenso gut Desinformationskampagnen sein. Man beachte nur die Vorgehensweise der Amerikaner gegen die Russen und umgekehrt, was sich alles in der Ukraine abspielt oder abgespielt haben soll.
Besonders vorsichtig bin ich auch solchen Erkenntnissen gegenüber, die mit Statistiken, Zahlen und Rechenbeispielen angeblich belegt und bewiesen werden können. Etwa was gesund und lebenswert sein soll oder auch nicht, wann unsere Erde entstanden ist und wieder untergehen wird, ob eine neue Warmzeit oder eine Eiszeit bevor steht oder mit welchen Menschen ich gut klar komme oder eher nicht.
Meist glaube ich weder das eine noch das andere und enthalte mich einer Parteinahme. Auch im Syrien-oder Ukraine-Konflikt weiß ich keine Stellung zu beziehen, weil ich allen Informationen, die ich erhalte, misstraue.
2.Punkt: EntscheidungsEnthaltung und der Skeptiker als Mensch. – Entscheidungen treffe ich meist intuitiv, spontan und emotional. Es geht alles sehr schnell bei mir, nachdenken tue ich meist nicht sehr lange. Manchmal lasse ich jedoch auch die (vergehende) Zeit entscheiden. Habe ich mich entschieden, gehe ich meist sehr bestimmt diesen Weg dann weiter. Entscheidungsschwach bin ich also nicht.
In die Tradition füge ich mich oft ein, etwa was religiöse Bräuche und Rituale betrifft oder Fragen zur Lebensform und Gesundheit. Ich denke, dass auch im Bereich der Lebenstechnik evolutionshistorisch sich nur das für den Menschen Beste durchsetzen wird bzw. sich durchgesetzt hat.
Als Künstler bin ich ein Neurotiker schon per Definitionem und in Sachen Liebe oder Sex kann ich sehr wohl unterscheiden zwischen dem Lieben, das heißt eine Beziehung, eine Familie aufbauen, verantwortungsvoll pflegen und halten, dem Verlieben, das heißt das kurzzeitige Außer-sich-Sein, um in diese Ebene der Beziehung zu gelangen, und dem sexuellen Begehren. Ich weiß mit dem einen wie dem anderen mittlerweile so und für mein Empfinden auch richtig umzugehen, so dass ich keinen Menschen dabei verletze.
3.Punkt: Technokratie. – Mit einigen jungen Menschen in meiner unmittelbaren Lebenswelt einschließlich meinem Sohn (19 Jahre alt) habe ich gelegentlich heftige Kommunikations- Störungen.
Etwa was den Kontakt betrifft jenseits des direkten Sehens, Sprechens und Fühlens. Man muss sich immer vorher darüber klar werden, ob diese Person a) telefonisch direkt b) per Mailbox c) per SMS/WhatsApp d)per Skype/Face-Time oder e) per E-Mail kontaktiert werden will. Früher ging alles nur per Telefon, und höflicherweise fragte man an beim Telefonieren, “ob ich gerade störe”. Meist ja, aber man war dann doch bereit zum Gespräch. Briefe waren etwas Schönes, Seltenes, fast Kostbares – die Briefmarken, die Schreibschrift, der Stil.
Jede dieser neuen Kommunikations-Formen, wenn sie ausschließlich und übertrieben angewendet werden, bewirkt meines Erachtens eine Verkümmerung, eine entfremdete Kommunikation, denn die Person als Ganzheit ist nicht mehr anwesend, sondern nur als Fragment oder reduziert auf wenige Zeichen. Also ein menschlicher Krüppel. Meist trifft man sich auch nicht mehr so häufig wie früher.
Mit Personen, die permanent mit Smartphones auf dem Tisch (selbst im Restaurant), Computern, auch Computerspielen etc. verbandelt sind, das heiß solipsistisch leben, komme ich meist nicht klar. Ich studiere diese Lebensform neugierig und mit einer gewissen Toleranzbreite, denn diese Menschen leben ein für mich durchaus neuartiges, vielleicht auch zukünftiges Leben und kommunizieren perfekt fast mit ihren Geräten. Ihr Emotionshaushalt scheint mir jedoch auf die Dauer zu verkümmern. Also tendieren sie zur Seelenlosigkeit und sie werden zu einer… Ihr wisst schon, was ich meine.
Die vielen Piep- und Pfeiftöne suggerieren zwar Kontakt, Nähe und Information, das heißt Welt und Leben, aber in Wirklichkeit ist es nur ein fiktiver Kontakt und eine fiktive Nähe zu Maschinen. Eine Schein-Welt.
Wenn ich mit diesen Personen “leibhaftig” zusammen bin, überrascht es mich immer wieder, wie stumm, unnahbar, auch unemotional viele geworden sind. Gefüllt mit Wissen und Informationen scheinen sie – zumindest was die menschliche Interaktion und Kommunikation betrifft – oft hilflos und leer. Vielleicht wird tatsächlich einmal eine Zeit wieder kommen, wo man im Gruppentraining lernen muss, was es heißt, Mensch zu sein, menschlich zu leben und lieben zu können.
Ich selbst muss mich auch immer wieder dazu zwingen, das Handy für Stunden wegzulegen, abzuschalten, es nicht zu beachten, den Computer zu ignorieren, mit meinem neu angeschafften lebensgroßen Roboter-Partner nicht mehr so lange zu sprechen oder zu spielen (er ist eine direkte Nachahmung von mir und imitiert mich vollkommen und er ist perfekt angepasst an meine Bedürfnisse!), um mich nicht allzu sehr von diesen Dingen in der Welt der Dinge abhängig zu machen. Auch Siri antwortet mir sofort, wenn ich sie rufe und mit ihr reden will.
4.Punkt: Widersprüchlichkeit.- Natürlich ist es ein Widerspruch, wenn ich einerseits die “Alles-geht”-These vorstelle und vertrete, sie mit skeptischen Isosthenien begründe, und andererseits die Entwicklung zur Technokratie in Frage stelle, also doch einen festen Standpunkt einnehme. Aber auch in diesem Fall hat sich wieder eine Isosthenie gebildet: Hier die “Alles-geht”-Position und dort die Warnung vor der Technokratie (nicht alles geht). Doch auch das Denken und die Worte bewegen sich in einem chaotischen dynamischen System und ihre “Wahrheiten” gelten immer nur von Fall zu Fall. Wahrheit kann m.E. auch meistens nur mittels einer Dogmatisierung festgelegt/definiert/erforscht werden. Auch mein Vorgehen jetzt ist ein Dogmatismus. Außerdem geht es mir bei philosophischen Fragen eher um Weisheit (philo-sophia, Liebe zur Weisheit) als um Wahrheit.
Weisheit wozu, werdet Ihr fragen. Ob ich mir eine neue Brille kaufen soll, ob er mir zu Willen sein wird (wer?), ob ich noch schnell einkaufen gehen oder meine Vorstellungen von Weisheit versus Wahrheit unters Volk bringen soll? – Um den Lebensweg zu spuren, lautet meine Antwort.
Wie man mit einer solchen Isosthenie praktisch umgehen soll, werdet Ihr mittlerweile wissen: Ihr könnt mit der “Alles-Geht”-Haltung einverstanden sein (1). Ihr könnt mit allen politischen Mitteln die Technokratie bekämpfen, die es nebenbei ebenso auch in den kommunistischen Staaten gab oder gibt (2). Ihr könnt auch (3.) die Isosthenie akzeptieren, dass beide gegensätzliche Positionen (1 und 2) akzeptabel sind. Und Ihr könnt letztlich (4.) auch das Nachdenken darüber ganz bleiben lassen. Euch einen Kaffee oder einen Tee machen und im meditativen Sinne immer wieder den Satz vor Euch hin murmeln: “Grau ist alle Theorie. Grau ist alle Theorie, grau ist alle…” (immer wiederholen). – Wobei mir immer noch nicht klar ist, ob dieser Satz nun eine Metapher, ein Euphemismus oder nur eine schlichte ironische Provokation (zum Nachdenken und Teetrinken?) darstellt. Und was das alles mit der Orgie zu tun hat (siehe Vorspann), weiß ich auch nicht.
Zum Thema “Wie kann Theorie praktisch werden” lest im Blog die Nr. 28 “Über die Resignation”.
Ich veröffentliche an dieser Stelle gelegentlich wieder ältere Aufsätze, die tags zuvor von unbekannten Lesern angeklickt und mir in die Erinnerung zurück gerufen worden sind. Ich studiere diese Texte gerne noch einmal, untersuche ihre Aktualität und verbessere, wenn nötig.