275 Über Liebe und Treue
Hannah Arendt, in späteren Jahren eine einflussreiche politische Philosophin, war schon als junge Studentin in ihren bedeutend älteren Philosophie-Professor Martin Heidegger heftig verliebt. Heidegger war verheiratet und hatte bereits zwei Kinder. Die Beziehung war platonisch und beidseitig, und sie hat zumindest von der Seite Hannah Ahrends ein ganzes Leben lang gehalten. Ihr Tod am 4.12.1975 war nur ein halbes Jahr früher als Heideggers Ableben.
Auch Arendt heiratete und verlor zeitweise ihren Liebhaber aus den Augen. Dennoch blieb sie ihm treu, treu in Liebe. 1926 schreibt sie von dieser „grausamen Liebesbeziehung“ („Realität“) auch mit Rücksicht auf Heideggers Ehe und Familie, die sie nicht stören will und dies auch trotz ihres Wunsches, „intensiv zu leben“:
„Ich hätte mein Recht, intensiv zu leben, verloren, wenn ich meine Liebe zu Dir verlieren würde.
Aber ich würde diese Liebe (auch) verlieren und ihre grausame Realität,
wenn ich mich der Verantwortung entzöge, zu der diese Liebe mich zwingt” (nämlich Heidegger aus dem Weg zu gehen und den Studienort zu wechseln).
Viel später stellt sie fest, „dass Du (Heidegger) der Mann warst, dem ich die Treue gehalten habe und nicht gehalten habe, und beides in Liebe”.
Heidegger antwortet in diesem 2002 veröffentlichten Briefwechsel:
“Warum ist die Liebe über alle Ausmaße anderer menschlicher Möglichkeiten reich und den Betroffenen eine so süße Last?”
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Ich denke, weil der Philosoph den abstrakten Begriff von Liebe, der in seiner mehrdeutigen Vielfalt doch schon ebenso viel Unglück wie Glück in die Welt gesetzt hat (Entschuldigung), nicht genügend differenziert hat: In geistige Liebe (Verantwortung, Gemeinschaft, Familie, Treue, Agape), als Verlieben (ein prae-sexueller emotionaler Zustand der körperlichen und geistigen Anziehung wie Verwirrung) und in körperliches Begehren (Sex), ein tierischer Zustand (sic!) der Natur, die, durchaus positiv gesehen, leben und sich fortpflanzen will. Sex macht Spaß, nicht wahr, und Sex sells. Das lehrt sogar die Psychoanalyse.
Wenn heute von Liebe geredet wird, in der Popkultur die Männer brünstig jaulen dürfen nach der „Geliebten“ (und manche Frauen halten das auch noch für Liebe oder zumindest für Verliebung), wird meist die letzte meiner drei angeführten Möglichkeiten darunter verstanden. Nämlich Sex und Orgasmus. Während das Verlieben eher eine Domäne der Frauen m.E. ist und nicht den schnellen nüchtern-egoistischen One Night Stand (ONS) anstrebt. Männer, die sich tatsächlich und wirklich wie etwa im Zeitalter der Romantik emotional verlieben können, also Herzklopfen, Freude, Sehnsucht, Sinnlichkeit ohne Erektion und schnellen Orgasmus etc., gibt es eher selten. Und wenn ja, dann sind es solche Menschen mit vielen weiblichen Anteilen in ihrer Seele, die zum soldatischen Mann und Besamer in Gegensatz stehen. Ich gehöre vielleicht auch dazu.
Sex ist die egoistische Domäne des Mannes. Sie ziehlt nur auf Besamung, Orgasmus. Die im Anschluss daran einsetzende und mehr oder weniger lang andauernde „Liebe“, im Idealfall beidseitig, ist nur ein kurzzeitiges Danke-Sagen für das erlebte körperliche Vergnügen und die scheinbare Nähe, ein Trick der Natur, sich selbst zu erhalten. Ich wiederhole mich. Auch in der Natur ist also leben gleich lieben. Doch jedes Tier ist nach dem Koitus traurig, schreibt schon Aristoteles (omnis animal post coitum triste). Etwas fehlt immer noch. Oder hat gefehlt.
Wenn die Frauen gegenwärtig unter dem Einfluss der feministischen Gender-Ideologie das Sexualverhalten des Mannes nachahmen wollen, also es auch bei ihnen eine permanente Sex-Brunft-Zeit geben soll, die nur den Orgasmus, also die Selbsterhaltung der Natur im männlichen Sinne, und den Spaß gleich Ejakulations-Lust anstrebt, so ist das m.E. eine weitere einseitig-traurige Verirrung der Natur. Ich rede manchmal bösartig vom schnellen “Austausch der Körperflüssigkeiten”.
Begehren und Sex kennen genau ihr Ziel; das Verlieben oft noch nicht. Die geistige Liebe, weil sie sich häufig im Abstrakten bewegt, pendelt in der gedanklichen und emotionalen Verwirrung ebenfalls hin und her (“süße Last”).
Allein jetzt und in dieser meiner Gedanken-Spur gibt es schon drei Möglichkeiten der Begriffs-Definition, Liebe zu definieren, Liebe zu verstehen!

