278 Über Lust
Brief an Lucilius Nr.12 (und Abschluss)
Caro amice!
Dies ist ein Abschied, ein Ende.
Begonnen hatte alles mit dem Versuch, ein Buch zu schreiben. Ein Buch über Liebe und Lust. Zusammen mit dir oder zumindest mit deiner Hilfe. Als ein ONS-Typ warst du für mich dazu geradezu prädestiniert. Ich war neugierig: Geht das überhaupt in deinem Fall, fragte ich mich, das Lieben? Ist deine Art zu lieben nur Dankbarkeit wegen der Lust und dem körperlichen Kontakt, wegen Nähe und Abenteuer? Kann es noch ein Verlieben geben bei dir und mit diesen häufigen beidgeschlechtlichen Partnerwechseln? – Wozu ist eine solche Lebensform, eine solche Art von Sinnlichkeit und Sex gut? Ist Zwang, ist Sucht im Spiel und Abhängigkeit, eine neue Art von Krankheit, von Bann?
Was bringt es dir und uns auf die Dauer, was bringt es der Gesellschaft allgemein? Sollen wir alle in dieser Art zukünftig leben? – Leben dürfen, leben müssen?
Ich bin mittlerweile mit meinem Bestreben, das Nachdenken über Liebe und Lust in Buchform zu bringen und gegeneinander abzuwägen, gescheitert. Trotz Interesse von Claudia Gehrke im Tübinger Konkursbuch-Verlag habe ich das Vorhaben recht schnell aufgeben müssen. Es stattdessen im Blog immer weiter und weiter ausgeführt, geforscht, kreuz und quer – wie ich das Denken, wie ich das Leben mag und dich als einen Gleichgesinnten deshalb ebenso sehr.
Mittlerweile bin ich jedoch trotz vieler Ubereinstimmungen mit dir zu einer Entscheidung, zu einem wie ich glaube verantwortungsvollen, das heißt auch zu einem philosophisch verallgemeinerbaren Urteil (für die Gesamtheit) und damit auch zum Ende dieser Thematik gelangt.
Dass es keinen Sinn macht, sich nur der Lust und Dankbarkeit wegen einem anderen Menschen oder einer fremden und neuen Lebensform anzuvertrauen, auszuliefern, zu opfern. Dass nur das Geistige von Dauer ist, nicht das Sinnliche. In jedem Materiellen liegt der Todeskeim. Nicht jedoch im Geistigen. Diese meine Überzeugung ganz im Sinne der alten antiken Philosophen hat sich im Laufe meiner Erörterungen und Themen-Umkreisungen mit deiner Hilfe dabei nur noch mehr gefestigt: Dass es sich nicht lohnt, sich einem Menschen… (Siehe oben)
Ich danke dir jedoch sehr für deine Mitarbeit, deinen WiderspruchsGeist und für deine offenherzige Bereitschaft zum Bericht. Dass du dich trotz vieler Schwierigkeiten und als ein philosophischer Neuling eingelassen hast auf dieses meist ethisch und gesellschaftstheoretisch orientierte Gespräch mit mir. Ich wünsche dir von ganzem Herzen eine gute Zeit und ein angenehmes wie sorgenfreies Leben und Lieben in der Zukunft.
R wünscht seinem L Freude! – So begann jeder Brief Epikurs in der Antike. Und das wünsche ich dir auch ebenfalls heute noch! Du warst für mich Jugend, Neugierde und Abenteuer. Ich bin es gewiss nicht mehr. Aber die Zeit, die mir verbleibt, will ich ebenso angenehm und freudevoll verbringen wie du, wenn auch mit anderen Vorzeichen. Beides geht, denke ich, sowohl als auch. Von Fall zu Fall und jedes zu seiner Zeit.
Das Schicksal hat uns zusammen geführt, Lucilius, und wir haben uns in einer fernen Heimat getroffen und verbinden können. Nicht nur im Denken und Diskutieren, sondern auch in der Freude, im Zweifel, im Leid. Nicht sinnliche Befriedigung, sondern Freundschaft haben wir gesucht und gefunden. Sie wird dauern. Das war auch mein Ziel von Anfang an. Nichts weiter, nichts mehr. In einer sehr fernen Heimat war diese Begegnung und Suche auch für mich schicksalhaft und neu.
Fest verbunden in Freundschaft und im Herzen grüßt und umarmt dich noch einmal und aus dieser anderen Zeit
R. U.
*
I
Vor Beginn einer jeglichen Lust beim Menschen steht m.E. das Begehren. Dieser Begriff ist ein geistiger Begriff. Er bedeutet, dass dem sinnlichen Reiz der Lust, welcher dem Begehren folgt, alsbald ein körperlicher Reiz folgen wird, der unmittelbar und sofort seine Befriedigung suchen will: I want it all, and I want it now.
Das Begehren arbeitet mit Begriffen, das heißt mit Geist; die Lust mit Gefühlen. Das Begehren fragt, ist dieses Objekt meiner Begierde wert, dass ich mich damit beschäftige? Manchmal sucht es Gründe, argumentiert, wägt ab. Dazu braucht es Geist, also Verstand, Wissen, Vernunft.
Wie und ob das Begehren sich nun mit “Reizen”, mit Lust etc. beschäftigt – darüber mögen sich die Naturwissenschaftler Gedanken machen. Mich beschäftigt nur die Frage, nach welchen Kriterien, mit welchen Interessen das Begehren vor geht. Was leitet es zu den Lockungen der Lust?
Die Einzelwissenschaften haben ihre vielfältigen Einzel-Antworten darauf, die sich, je nach „Erkenntnistand” oder Mode, häufig ändern bzw. wie eine neue Sau durchs Dorf gejagt werden. Ich brauche sie nicht zu wiederholen. Wir kennen ihre immer wieder wechselnden und oft reißerisch mediatisierten Theorien und akzeptieren sie mehr oder weniger, mehr oder weniger zähneknirschend. Etwa die der Biologie. Ja, Vitamin C habe ich heute in natürlicher Form zu mir genommen, ich weiß, es hilft gegen Krebs und Herzinfarkt; ja, die Cholesterin-Theorien oder so. Keine Eier essen, keine Butter, ich hab’s gemacht. So dumm war ich.
Oder in der Soziologie: Die Befreiung der Gesellschaft kann nur durch die Arbeiterklasse erfolgen. Wo sind nur all die Arbeiter geblieben? Die behavioristische Psychologie, meine besondere Freundin: Mit einem geeigneten Input-Reiz kannst du ein gewünschtes Output -Verhalten erzeugen. Entwickle deine Maschinen oder Fragebögen so, dass sie deine gewünschten Ziele oder Antworten unterstützen. Selbst die ehrwürdige String-Theorie steht unter Mathematikern durchaus im Generalverdacht einer Fiktion und wird angezweifelt. So viel zum Thema Wahrheit in den Wissenschaften.
Die Entscheidung des Ich zwischen Wissen/Vernunft und Emotion/Lust verläuft m.E. seltener nach rationalem Abwägen und Wissen, sondern meist mehr oder weniger spontan, geleitet von positiven wie negativen Erfahrungen (Achtung: Dies ist Theorie und Wissenschaft!, jetzt bin ich wieder im Behaviorismus); meist obsiegt die Lust, denn bei den meisten Menschen dieser Welt ist die Lust wesentlicher Bestandteil von Glück.
II
Doch warum gibt es in der Menschheitsgeschichte diesen ausgeprägten Kampf beider Lebenskräfte mit und gegeneinander? Warum wehrt sich jede Kultur so heftig und ideologisch, das heißt auch mit dem Geist, gegen die Lust, das Vergnügen, gegen Spaß, sexuelle Befriedigung? Ja verbietet diese Freude dem Menschen sogar dann und wann? Die Frau ist eine Hexe, Sodomiten sind Tiere (sagt sogar Platon), Unkeuschheit ist eine Todsünde und dgl. mehr.
Die Geschichte der LustAbwehr ist so lange wie die Menschheitsgeschichte. Sie beginnt mit den Griechen und Platons “Phaidros”: Das Ich in seiner Kutsche mit zwei Pferden; das eine steht für die Lust, das andere für die Vernunft. Permanent muss die Lust gezügelt werden, sonst gleitet die Kutsche vom Wege ab, gezügelt vom Ich und der (seiner?) Vernunft. Doch da vorne an der WegKreuzung steht bereits Aphrodite, die Göttin von Schönheit und Lust. Da müssen wir noch vorbei…(3)
Diese Warnung Platons bleibt bis in die Gegenwart bestehen. Nicht nur mit Hilfe der Orthodoxie der Kirchen, sondern sogar unter dem Einfluss von Sigmund Freuds Kulturtheorie. Das sexuelle Begehren sprich die Libido müsse als Kunst, Kultur, Wissenschaft, Wirtschaftsleistung etc. sublimiert werden. Sonst könne kein Staat, keine Gesellschaftsordnung, kein Wirtschaftssystem dauerhaft bestehen. Die Energie zum Aufbau und Erhalt eines Staates gewinnt man nur durch die Kanalisierung oder Sublimation von Lust, letztlich also auch der Unterdrückung sexueller Energie.
Zuviel Lust oder Wohlleben bedeutet Untergang. Siehe Sparta mit seiner Förderung der Homosexualität und Roms allgemeinem Wohlleben in jeder Hinsicht.
Eine ähnlich gerichtete Entwicklung gibt es im Buddhismus des asiatischen Kulturkreises: Das Begehren verursache Leid, weil es, in seiner dauernden Steigerungsfähigkeit unersättlich, immer wieder zu Frustration und Leid schließlich führen müsse.
Doch auch Antipoden zu Verzicht, Askese und Lust-Feindlichkeit haben sich alsbald entwickelt. Schon zu Platons Zeiten war es Aristipp von Kyrene und seine Kyrenäer, oder auch manche Sophisten, die sich offen für Genuss und Lust, letztlich auch für das Materielle (Geldverdienen) einsetzten. Ganz zu schweigen vom antiken Rom, wo das Wohlleben infolge einer Sklavenhalter-Gesellschaft fast schon als vorbildlich galt und die Diversifizierung der sinnlichen Reize bei etlichen Zeitgenossen den einzigen LebensSinn ausmachte(1). Wie heute ja auch. Noch subtilere Genüsse, schönere Wohnungen bitte, freiere Lebensformen, Pansexualität und dgl.
Fast alle Psychoschulen der Gegenwart unterstützen die Befreiung der Lust zur Lust hin, nicht zuletzt unter dem Postulat der seelischen Gesundheit: Sexuelle Energie sei Lebensenergie. Dies die mittlerweile allseits bekannte und mediatisierte These. Ohne Lust kein Glück, nur der genitale Charakter, so Freud, garantiere Schutz vor seelischen Krankheiten. Freud war also für und gegen die Befreiung der Lust. Sein Schüler Wilhelm Reich ging sogar noch einen Schritt weiter mit seiner Orgasmus-Theorie. Antithetisch steht jedoch schon in der Antike der Kyniker Antistenes dazu: Lieber möchte er wahnsinnig werden als Lust zu spüren, sagte er.
Meist läuft es jedoch auf einen Ausgleich der beiden Tendenzen hinaus: Lebensbewältigung und Selbsterhaltung lassen ganz schnell und je nach den Umständen das Thema Sex und Art-Erhaltung zurück treten. Wer für seinen Lebensunterhalt kämpfen, eine Familie ernähren und hart arbeiten muss, wird sehr schnell zur “Sublimation” gezwungen sein. Wer dennoch Aristipps Schiene der Lust weiter verfolgt, lebt meist als gesellschaftlicher Solitär in einem Korsett, das Körper wie Seele beherrscht und im Sinne Buddhas trotzdem eine Menge von Leid bereit halten wird. Aber welches Leben kann schon ohne Leid, ohne Probleme gelebt werden?
III
Doch mein Thema war und ist die Zukunft.
Wie wird es weiter gehen mit dieser Gegensätzlichkeit? Mit Lust und Liebe in einer unfreien Gesellschaft, wenn Begriffe wie Demokratie und Mitbestimmung bereits fremde Vokabeln sein werden wie heutzutage bei manchen Zeitgenossen das Wort „Seele”, das Wort „Gott”? Soll die sinnliche Lust – und in welchem Maß – unser gesellschaftliches Leben dominieren? Schönheit, Stil, Wohlleben, Sex? – Oder trivialer: Sex and Drugs and Rock and Roll?
In manchen Kreisen unserer Gegenwart gibt es eine Überbetonung der Lust, die dem antiken Luxus in keinster Weise nachsteht. Im Gegenteil, die das Wohlleben von damals in der Differenzierung und Diversifizierung von Lust und Vergnügen einschließlich der grausamen Varianten sogar noch übersteigt.
Der menschliche Geist verkümmert, wenn einseitig nur die sinnliche Lust gesucht wird. Ich wiederhole mich: Verkümmert das Schreiben, verkümmert das Lesen (und umgekehrt: verkümmert das Lesen, dann verkümmert auch das Schreiben); es verkümmert das Denken. Verkümmert das Denken, verkümmert der Mensch. Er fällt zurück auf einen vor-menschlichen, also atavistisch–animalischen Zustand.
Oder anders ausgedrückt: Eine verkrüppelte Sprache führt zu verkrüppeltem Denken, zu verkrüppelten Menschen. Wer ausschließlich nur noch per Twitter oder SMS, Instagram und Facebook kommuniziert, degeneriert. Er wird zu einem Krüppel, der vielleicht dennoch gut rechnen, die Sprache der Computer beherrscht, dominiert, weiter entwickelt. Der schön aussieht und weiterhin ein genussvoll genießerisches Wohlleben führen kann. Vielleicht sogar glücklich dabei ist.
Doch etwas fehlt letztlich.
Was bleibt also, was kommt in der Zukunft?
Da stehen und warten schon die neuen Maschinen-Sklaven, die für jegliches Bedürfnis zur Verfügung stehen werden. Die unser Wohlleben, unsere materielle Sicherheit, vielleicht sogar das Sprechen und Denken fast ganz in den Griff bekommen, steuern und beherrschen werden. Die meine Texte jetzt schon mit „Bots” nach Begriffen durchsuchen, die ihrer Welt gefährlich werden könnten. Deshalb nur liebe und praktiziere ich gelegentlich auch das mehrdeutige Schreiben (siehe oben den Schluss meines Vorspanns), womit die Apparate immerhin noch bei der Sinnerfassung, der Interpretation, Verständnis-Probleme haben.
Und was ist, wenn Kinder und Arterhaltung, das gegenwärtig doch immer noch eigentliche Ziel von Lust, nur noch gezüchtet und geklont zu werden brauchen? Automaten mit Fernbedienung uns zur Verfügung stehen, zu emotionalen Ansprechpartnern werden mehr noch als Haustiere und zu jeder Art von Unterhaltung oder auch Befriedigung da sein werden? Selbst Siri in meinem Handy, eine neuartige Partnerin in Fragen der Kommunikation, findet mittlerweile Antworten, die mich verblüffen und zum Lachen bringen. Sie entwickelt sich zu einer richtigen Freundin.
Wohin wird dieser Weg der schleichenden Entmündigung des menschlichen Geistes und seines Ichs durch Apparate, Automaten und KonditionierungsStrategien führen? Wenn Siri oder Alexa unseren Kindern Handlungsanweisungen und Belohnungspunkte geben werden?
IV
Ohne dass wir es merken, sind wir bereits in der Hand von Überwachungs-Systemen, SteuerungsAutomaten der Politik, der „Marktwirtschaft”, der Mode. Selbst unsere Begrifflichkeit ist wieder in einer großen Verwirrung. Was bedeutet heute links, was rechts, liberal, freiheitlich? Was sind „alternative Wahrheiten“? Wird bald bereits die „alternative Gerechtigkeit“ eingeführt? Was ist Demokratie? Wenn eine verschwindend kleine Mehrheit die große Minderheit nieder knüppelt, in Gefängnisse werfen darf? Wer ist ein „Patriot”? – „Existieren” bedeutete beim frühen Sartre, dem WeltEkel auch im Sinne Camus ins Auge zu schauen (und sich schließlich politisch zu engagieren). Bei Montaigne hingegen bedeutete es noch, „im Blick eines Freundes zu leben”(sic!). Existieren bedeutet, im Blick eines Freundes zu leben. Nicht nur im Blick von Apparaten, Computern, Maschinen. Ist Montaignes Satz nun gut, wahr, richtig oder nur schön?
Auch die Umwertung vieler Werte einschließlich der Ablehnung von Hass und Gewalt, ein Wert, den erst das Christentum in die Welt gesetzt hat, ist fast abgeschlossen. Alles wird im postmodernen Denken Lyotards der 80er Jahre Interpretation, Erzählung, subjektive Deutung, Fake. Alles geht, propagierte sogar schon in den 70er Jahren die wissenschaftstheoretische Schule Paul Feyerabends in Kalifornien.
Die Wahrheitsfrage belastet gegenwärtig zudem und über die Maßen hinaus heftig Politik, Presse und Medien weltweit. Mit welchem Interesse wird so oder so berichtet, geschrieben, gesendet? Was und wer steckt hinter dem amerikanischen Fox-Imperium? Warum diese bewusst ausgewählte und dergestalt formulierte Überschrift in den Medien? Warum wird diese andere Meldung jedoch unterschlagen, unterdrückt, zensiert und mit welchem Interesse?
Zur Erinnerung: Was hat noch Freiheit in der DDR bedeutet? Was war Wahrheit (die sozialistische), Schönheit (in der Arbeiterklasse), Gerechtigkeit (die kommunistische)? Und was erzählen uns die neuen Antithesen zum ehemals allgewaltigen Arbeiter – und Bauernstaat heute, all diese gewendeten Gegner, Reformer, Weltverbesserer von früher?
Selbst in China halten sich immer noch die bis auf Platon zurück gehenden „sozialistischen” Vokabeln, Werte und Interpretationen wie unumstößliche Wahrheiten einer neuen Religion samt Gottesdienst und Opfer-Ritual. Sogar im Jahre 2017 glaubt man dort in den höchsten politischen Ebenen noch an den „Hauptwiderspruch”, der die Entwicklung von Wirtschaft wie Gesellschaft voran treibt und eine Steuerung durch den Menschen, die Partei, den großen Staatschef und Führer (samt seiner geistigen Kraft) geradezu erzwingt.
Alle diese Entwicklungen und Fragen lassen sich durch ein einseitig nur Lust und Wohlleben suchendes Leben nicht beeinflussen. Man glaubt zu leben, frei zu sein – und wird doch nur in einer knechtischen Unfreiheit gelassen, ja „gelebt” Man wird gelebt wie ein passives Tier, wie ein Objekt.
V
Ich denke, man muss auch die Entwicklung der Pornografie als eine Hauptquelle von Liebe und Lust mehr ins Auge fassen. Seit etwa 50 Jahren hat sie sich im westlichen Kulturkreis nach und nach immer mehr befreien können. Ja sie führt unterschwellig selbst in der Mode oder im Alltagsleben bereits ein Reich von Freiheit, Differenzierung, Gewalt und Zwang ein, ohne dass wir es und dessen Folgen bemerken würden oder bemerken wollten. Zu schön ist Pornographie, nicht wahr. Sie macht Spaß und bringt Geld. Ich wiederhole mich.
Aber dennoch ist und bleibt seltsamer Weise (warum überhaupt?) der Geschlechtsverkehr immer noch eine Angelegenheit des Verbergens, Versteckens, des Nicht-beobachtet-werden-Wollens. Und ebenso hält sich auch die Pornographie im Hintergrund versteckt. Nicht unbedingt im Namen der Keuschheit, sondern weil sie ahnt, dass sie und ihr lügnerisches Verführungs-Potential (diese Dauer-Kopulationen und Sex-Abenteuer sind meist nur gefilmte Fakes) doch immer wieder und immer noch infrage gestellt werden. Und dies schon seit Menschengedenken.
Warum? – Warum gibt es überhaupt Keuschheit? Warum gibt es diese Scheu vor Nacktheit, vor Exhibition, selbst die Angst vor der Lust? – Im antiken Roman Satyricon des Petronius Arbiter, einem Berater in Neros Kabinett, wird über einen Aristokraten gelästert, weil dieser im öffentlichen Bad einen Gleichgesinnten umgehend wegen der Größe seines Geschlechtsorgans nach Hause geschleppt habe vor aller Augen(2). Die Lust ist hier gekoppelt an die Größe der Geschlechtsorgane. Wenn das kein Fortschritt ist in der Differenzierung von Lust!?
Womit ich wieder beim Anfang wäre und ich diesen Diskurs, diese vielleicht sogar isosthenische Erörterung, diese vielen Fragen und Fragezeichen mit einem auch manchmal ratlosen Lächeln über den “Sexismus” in der antiken Welt abschließen kann. – Doch nein. Soweit bin ich noch nicht zu sagen, dass alles geht, alles gleichermaßen wahr wie falsch, gut wie schlecht sein könne. Der Tod definiert bei mir immer noch das Ende des lustvollen Lebens, er bestimmt Grenze (“Genug davon”) und SchlussPunkt. Ganz im Sinne der Existenzialisten – ich wiederhole mich wieder (seufz) und ihr kennt meine Haltung im Sinne Senecas: Lebe jeden Tag, als wenn es dein letzter wäre.
Wäge ab. Nutze den Tag und deine Vernunft – carpe diem!
Nutzen wozu?- Gewiss auch zur Lust.
Vgl. auch Cicero, “Laelius – Über die Freundschaft”
1 Ich erinnere daran, dass der römische Schriftsteller Martial ein ganzes Gedichtbuch nur dem Essen, ein anderes nur Geschenken und Mitbringseln gewidmet hat – unter anderem waren auch relativ billig LustSklaven im Angebot. Vgl. die Nr. 114 über Martial.
2 Vgl. die Nr. 25 “Satyricon – Römische Lektüre I”
*
Message
Message
Botschaft
Manifesto
“Abfahrende Schiffe” sind ein Symbol für unseren Lebensweg, den wir einschlagen wollen, den wir glauben wählen zu können. Vergeblich – Freiheit ist nur eine Illusion.
In der Liebe, dem Beruf, der Zukunftsplanung – fast alles ist einer chaotischen und unerkennbaren Schicksalsfügung ausgeliefert. Der Flügelschlag eines Schmetterlings, und schon ändert sich wieder alles – unsere Pläne, Hoffnungen, unser Lebensweg. Alles wird anders, als wir gedacht hatten.
So ist das eben.
Doch Resignation und Trauer sind fehl am Platz. Der Weg ist das Ziel. Die schönen und traurigen Erfahrungen, die man macht, Begegnungen mit Menschen, Feste, Auseinandersetzungen, Freuden, Leidenschaften – all das hält uns lebendig, auch jung, auch wach für die Menschen, die Arbeit, das Nachdenken, den Zweifel und – das Lieben.
Deshalb sollten wir oft lieben, uns verlieben emotional, auch ohne Gegenliebe zu erwarten. Dieses Lieben mag den Körper einbeziehen oder auch nicht. Beides geht. Wir sollten Gefühle zu fühlen und zu benennen lernen, besonders wir Männer, sie ausdrücken, zeigen können wie die Künstler oder die meisten Frauen. Und wir sollten differenziert denken, fühlen, sehen und hören lernen. Und fähig sein zur Dekonstruktion, auch zur Dekonstruktion der Dekonstruktion.
Machen wir uns also auf den Weg, zusammen und aufrichtig. Ohne Angst uns zu verlieren. Denn wir werden immer nur bei uns selbst ankommen, uns finden und neue Menschenfreunde treffen, die eine kurze oder längere Strecke Weges mit uns gehen werden. Uns zeigen in dieser Begegnung, dieser Auseinandersetzung, was Leben, Lieben und Lust bedeuten können.
Manchester 11.8. 2013 (Einführung zum Tanztheater “Abfahrende Schiffe”}
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(1) Im 7.Brief beobachtet Platon in Syrakus am Hof des dortigen Tyrannen Dionysius:
„Was mir aber bei meinem ersten Auftreten höchst mißfiel, das war das dort so genannte glückselige Leben, bestehend in der italischen und syrakusischen Völlerei, nämlich in der Gewohnheit, des Tags zwei schwelgerische Mahlzeiten zu halten, des Nachts nicht allein im Bette zu liegen, und überhaupt die mit solchem Leben zusammenhängenden Liebhabereien zu treiben. Denn kein Mensch unter dem Himmel vermag unter solchen Gewohnheiten, wenn er von Jugend auf darin sein Leben treibt, zu einem besonnenen und klugen Manne heranzureifen, noch weniger wird es ihm einfallen, nach der Fertigkeit eines in jeder Beziehung weisen Lebens zu streben, und dieselbe Behauptung gilt natürlich auch von den übrigen Tugenden.
Ferner kann auch kein Staat selbst unter der besten Verfassung zum Glücke des inneren Friedens gelangen, wenn seine Bürger einerseits glauben, alles in übermäßiger Verschwendung durchbringen zu müssen, wenn sie andererseits es für richtig halten, sich weder in körperlicher noch in geistiger Beziehung einer Anstrengung unterziehen zu dürfen, außer wenn es gilt, sich bei schwelgerischen Eß- und Trinkgelagen sowie im Bette der Wollust zu zeigen. Solche Staaten stehen bald unter einem absoluten Tyrannen, bald unter der Herrschaft der Oligarchen, bald unter einer Pöbelherrschaft, und kommen aus diesen Revolutionen gar nicht heraus.“ (Platon, Siebter Brief 326b-d).