280 Über Verwirrung (1)
Wer sich den Zustand der gegenwärtigen westlichen Welt ansehen will, vor allem, wenn man bereits andere Zeiten und Zustände wo auch immer erlebt hat, ganz andere Zeiten, ein Zustand, der immer mehr dominiert wird vom US amerikanischen Kultur- und Wirtschafts-Imperialismus, der mag zu seiner Information über den Stand der Dinge nur zwei Phänomene betrachten:
a) die Architekturtheorie und
b) amerikanische Fernseh- Serien.
Beide Zeitströmungen spiegeln die gegenwärtige Verwirrung klar und einprägsam. Die Verwirrung des Denkens, wie es sich ausbreitet in der Politik, der Sprache, in Kunst und Kultur.
Vor allem zeigt sich hier auch der Zustand unserer gegenwärtigen Moral. Dass es scheinbar keine verallgemeinerbaren moralischen Wertmaßstäbe mehr gibt, trotz der vielen Beteuerungen und Versprechungen unserer SteuerungsMächtigen und Politiker. Was ein Unterschied ist. Sie demonstrieren uns weltweit immer wieder ihre Alles-geht-Haltung, wenn es nur meinem Ego und meinen machtpolitischen Interessen dient. Alles geht, sogar die Lüge und das bewusste Brechen von Vereinbarungen und Verträgen.
Dabei ist das Ost-Imperium russischer Prägung mit seinem östlichen Blick (in der Moral, im Sexualverhalten, in der Ästhetik, der politischen Wahrhaftigkeit etc.) durchaus anders, aber keinen Schritt weiter als der Westen. Im Gegenteil: Hierzulande kann man meist unliebsame und erfolglose Herrscher los werden, das heißt abwählen nach einer gewissen Zeit. Die östlichen Diktatoren, wozu ich auch Teile des Balkans sowie Nahost samt der Türkei rechne, müssen jedoch nach ihrer Abwahl befürchten, mit Bestrafung direkt im Gefängnis zu landen. Also werden sie mit allen Tricks und Mitteln um ihre Macht und Selbsterhaltung kämpfen. Ihr Ansatz der Verführung mittels Propaganda und Konditionierungstechniken wird scheinbar in einem großen Teil etwa Russlands sogar noch von der Bevölkerung unterstützt. So erfolgreich ist dieses Steuerungs-System bereits. Später erst, zu spät, werden die Wunden von Lüge, Verführung und Gewalt geleckt und ein Neubeginn gewagt. Es mag sein, dass es in Übergangsphasen, also auch in gesellschaftspolitischen Isosthenien, Notwendigkeiten gibt, “Härte zu zeigen”. Aber alles bezogen nur auf einen kurzen Zeitraum und eingeschlossen die Option von Zweifel, Selbstkritik, Korrektur, Scheitern.
Wir haben also gegenwärtig wieder, da die politischen Alternativen fehlen im Osten wie im Westen, ganz zu schweigen von Asien oder Südamerika, die Wahl zwischen Skylla und Charybdis, zwischen Pest und Cholera.
Teil I Architekturtheorie
Warum empfehle ich die Architekturtheorie?
Weil dort zum ersten Mal von Postmoderne, postmodernem Bauen und Denken gesprochen worden ist. Und: Weil wir dergestalt in einer “postmodernen” Gesellschaft leben, leben würden. Genau darüber gibt es aber immer noch Streit.
In den 60er Jahren des letzten Jahrhunderts ging von der Architektur-Theorie, und vor allem in den USA, eine Bewegung aus, die sich Postmoderne nannte. Oder, um James Stirling in Stuttgart zu zitieren, wo er wörtlich bei der Einweihung seines neuen Staatsgalerie-Gebäudes erklärt hat: Die Leute wollten die moderne Bauhaus-Architektur nicht mehr. Also musste ich mir etwas anderes ausdenken.
Von der Bauhaus-Kistenarchitektur war es nur ein kleiner Schritt zum dogmatischen Kisten-Denken, das keine Alternativen, geschweige denn Umwege oder Antithesen zuließ – das Vierecksdenken der Rationalisten, „Aufklärer“, Modernisierer, die nichts anderes akzeptierten als ihre eigene Rechthaberei und ihre geistigen Maximen.
Schnell war deshalb im weltanschaulichen Streit von den sich neu bildenden Anti-Modernen, Nach- und Postmodernen der anderen Seite auch die abendländische Geistesgeschichte in Frage gestellt und zum Müllhaufen der Geschichte geworfen worden. Es entstanden negative Begriffe wie Eurozentrismus, Logozentrismus, Phallokratie, die im Zuge eines immer aggressiver werdenden Feminismus ein Bündnis miteinander eingingen.
Keimzelle dieser Bewegung war die Universität Paris, wo sich bereits in den 70er Jahren Philosophen enttäuscht vom linken Dogmatismus östlicher Herkunft abgewendet hatten und einen philosophischen, auch weltanschaulichen Anarchismus verkündeten, der alles auf den Prüfstand von Skepsis und Ironie stellte – totalitäre Systeme des Ostens ebenso unerschrocken wie das doch so erfolgreiche kapitalistische Wirtschaftssystem des Westens eingeschlossen (“Konsum-Terror”).
Höhepunkt war das Jahr 1989. Nicht wegen dem Mauerfall in Berlin und dem offenkundigen Versagen der östlichen Ideologie und Gesellschaftsform. Sondern wegen der missglückten 200-Jahr-Feier der glorreichen Französischen Revolution und Mutter aller gewaltsamen Umwälzungen. Diese wurden jetzt ebenfalls mit Spott und Häme von den französischen Intellektuellen auf den Abfallhaufen der Geschichte geworfen. Was haben sie uns gebracht, all diese linken wie rechten Revolutionen?, lautete die Frage. – Nichts. – Mord und Totschlag, unfähige DiktatorenHerrscher und immer schlimmer werdend bis auf den heutigen Tag.
Doch ich habe bereits vorgegriffen. Gehen wir noch einen kleinen Schritt zurück. Auch in der Wissenschaftstheorie der Universitäten gab es sogar im ganzen letzten Jahrhundert, was immer wieder vergessen wird, diesen eigentümlichen Gegensatz zwischen Links und Rechts.
Kann es eine linke, sozialistisch orientierte Wissenschaft geben? Wozu ist Wissenschaft gut? Um Menschen dumm zu halten, sie zu steuern, zu manipulieren nach den Wünschen ihrer Herrscher und Mächtigen, die immer mehr aus dem Bereich der Wirtschaft kamen und sich nur diesem ökonomistischen Denken von Macht-Maximierung und permanenter Innovation verbunden fühlten?
Wo schon per definitionem nur das als wahr akzeptiert wurde, was nützt, was erfolgreich ist? Selbst wenn es falsch ist und der Unwahrheit dient?
In Deutschland führte der Freudo-Marxismus der Frankfurter Schule (u.a.Habermas und Apel) ein letztes Rückzugsgefecht im Namen einer aussterbenden Lehre. Ihr Begriff der “Emanzipation” wandte sich gegen blinde Autoritätshörigkeit und einseitige Wissenschaftsgläubigkeit. Das waren die linken Wissenschaftstheoretiker.
Im anglo-amerikanischen Bereich attackierte die rechtslastig-konservative Philosophy of Science demgegenüber ihre deutschen Gegner: Was ihr in euren Universitäten treibt und lehrt, ist keine Wissenschaft, keine Wahrheit. Es sei nur eine neo-linke Ideologie, fußend auf den Pseudo-Wahrheiten von Freud und Marx. Diese Theorien, Vorstellungen, Lehre könne man das gar nicht mehr nennen, seien wissenschaftlich falsch und vollkommen unglaubwürdig.
Stattdessen propagierte man die Herrschaft der Zahl. Alles, was sich nummeralisieren, später dann auch digitalisieren lasse, sei Wahrheit, sei nachprüfbare Wissenschaft und kein irrationaler Glaube oder subjektive Wunsch-Vorstellung. Wissen müsse beweisbar, also messbar sein. Geschichtsschreibung etwa im Sinne des dialektischen Materialismus und wie sie der Marxismus welcher Art auch immer darstellt, sei nicht beweisbar. Schon gar nicht messbar. Also ist sie nur Fiktion, Märchen. Ihre Interpretation von egoistischen Zwecken nur geleitetes Macht-Interesse.
Euer Wissen, so lautete prompt die Gegenthese der Frankfurter Schule, die bis auf die Linie Horkheimer, Marcuse und Adorno zurück ging, ist nützlich nur zur Herstellung von Industrie und industrieller Macht. Ausbeutung von Mensch und Natur,Tötungsmaschinen, Atombomben sind eure gewinnträchtigen Ziele, grausam einsetzbar auch zur Unterdrückung und Steuerung der machtlosen Bevölkerung, die ganz im Unklaren gelassen werde. Herrschaftswissen einer Technokratie sei das, nicht Verständigungswissen oder gar ein Wissen, das der Freiheit des Menschen und seiner Gesellschaft diene (“Emanzipation”).
Gegenseitig warf man sich in einer sehr elaborierten und verklausulierten Sprache Unwissenschaftlichkeit, ja Inhumanität vor. Und damit standen vor allem nicht nur der Gelderwerb durch Wissenschaft, sondern sogar Wahrheit und Wahrhaftigkeit auf dem Prüfstand.
In diesem auch sprachlich, fast schon privatsprachlich-hermetischen und hoch komplizierten „Positivismus-Streit der Soziologie“(so der Name einer wichtigen Publikation), der für Außenstehende nur schwer verständlich war, mischten sich schließlich als dritte Partei die Franzosen ein mit einer in den 80er Jahren vorgetragenen höchst provokativen These: Der Streit der beiden Lager sei typisch für die Moderne. Aufklärung, Emanzipation, Wahrheit, Wissenschaft versus Glaube und Meinung, das seien alles nur noch Vokabeln eines veralteten Lexikons.
Alles geht: Kunst wie Glaube, subjektive Meinung wie objektive Wissenschaft und Technik. Das ist die Postmoderne.
Wahrheit gibt es nur immer von Fall zu Fall und den Umständen entsprechend (Paul Feyerabend). Eurozentrisches Denken (Jacques Derrida) sei nicht mehr international verallgemeinerbar, könne nicht jeder Kultur aufgezwungen werden. Die zukünftige Technokratie der digitalen Maschinen und Systeme (Jean Baudrillard) sei ein viel dringlicheres Problem von Gegenwart und Zukunft als alle Verteilungs- und PsychoGesundheits-Streiteren im marxistischen oder freudianischen Sinn.
Und der Feminismus als letzte Ideologie der Befreiung (auch des Mannes) förderte nur noch, ganz im Gegensatz zu seiner eigentlichen Absicht, die Geschlechter-Differenz im Namen der (weiblichen) Emanzipation. Mit dem Ergebnis, dass immer mehr (junge) Männer ihre Artgenossen als Spielmänner der Lust entdeckten und sich die Homosexualität ausbreitete, das heißt „salonfähig“ wurde.
Die anarchische Auflösung aller Gewissheiten erfolgte bei diesen meist französischen “Anti-Aufklärern” mit spielerischem Spott, mit Phantasie und grenzüberschreitender Kreativität. Dass man sich in diesem auch sprachlich kreativen und höchst ambitionierten Diskurs(ein Begriff, der aus diesem Lager stammt) vor allem bei Nietzsche und den französischen Existenzialisten wieder fand, das kam nicht von ungefähr.
Lyotard fügte hinzu: Alles sei Interpretation, subjektive Deutung, Meinung, geleitet von eigensinnigen Interessen. Das postmoderne Wissen der Zeit schließe deshalb auch Irrationalismen, Paradoxien, Kunst und Dekonstruktion zur Lebensbewältigung und Sinnfindung mit ein, ja ergänze quasi komplementär das aufklärerische Denken um seine Leerstelle. Vor allem der Dogmatismus marxistischer wie auch neoliberaler Herkunft wurde endgültig ad Acta gelegt und in die Bibliotheken verbannt. Wobei der existenziell gefährdete einzelne Mensch (durch die Politik, die Bürokratie, die Moral, die Intoleranz, den Rassismus etc.) samt seiner so labilen Lebensformen mal wieder überstark in den Vordergrund rückte.
Dass auch die Wissenschaftstheoie von diesem radikalen Subjektivismus, der sich wieder einmal der Freiheit und der Freiheit des Individuums gegenüber dem Kollektivismus verschrieben hatte, nicht unberührt bleiben konnte, zeigt der heftige Aufschrei der Szientisten, der Anhänger der Philosophy of Science. Sie erklärten kurzerhand Philosophen wie Baudrillard und Derrida zu Scharlatanen im Reich von Wahrheit und Philosophie. Ich wiederhole mich, habe bereits immer wieder in diesem Blog darüber berichtet.
Der Desorientierung und Verwirrung war jedoch damit Tür und Tor geöffnet. Was in Moskau wahr ist, wurde alsbald in Washington als unwahr fest gelegt, erklärt, dogmatisiert und umgekehrt. Einschließlich Klimawandel und Bürgerkriege in der Art des Mittelalters, also in einem ideologischen Streit, wie er schon vor der Aufklärung ausgetragen worden ist.
Solche Isosthenien, die meist auch noch gut begründet waren, breiteten sich bis in die kleinsten Winkel unserer Gesellschaft und Kultur aus. Sie betrafen nicht nur die Wissenschaftstheorie, sondern sogar das Recht, die Moral, Demokratie-Vorstellungen, das Gesundheitswesen etc. Können im Mondschein hergestellte Heilmittel nützlicher sein als andere? – Wer ist im Syrien-Bürgerkrieg nun der eigentlich Böse, den es zu bekämpfen gilt? Was ist und wozu die Informations-Pflicht einer der Wahrheit verpflichteten Presse? Kann es eine “Ehe” unter Männern geben? Was meinen die Frauen mit ihrer Sexismus-Kritik? Wie demokratisch sind die Demokratien, wie vernünftig ist die Vernunft? Sind die Vorstellungen von Wahrheit in den Naturwissenschaften nun “wahrer” als diejenigen der Geisteswissenschaften oder der Kunst? Kann es überhaupt eine Steigerung von “wahr” geben? Sind „emotionale Wahrheiten“ wichtiger als „geistige“?
Dass die CIA bei solchen DestabilisierungsVersuchen des östlichen Imperiums und seiner orthodoxen Maximen, quasi eine neue Art von intellektueller Kriegsführung, allgemein die Hand im Spiel gehabt haben soll, besitzt eine gewisse Plausibilität. Auch wenn die CIA selbst mittlerweile Opfer ihrer eigenen Strategie der Verwirrung geworden ist. Verstärkt wird diese Vermutung der Verschwörungs-Theoretiker noch durch die Tatsache, dass die französischen Philosophen gern gesehene Gäste in den USA waren und vom amerikanischen Staat bezahlt worden sind. Ihre führenden Köpfe waren fast allesamt Gastprofessoren vor allem in Kalifornien (1).
Dass diese geistige Verwirrung in breiten Kreisen der Bevölkerung ankommt, bemerkt, nachgeahmt wird und auch eine weltanschauliche wie moralische Krise einschließt, ja geradezu auslösen muss, ist m.E. offensichtlich. Globalisierung und Weltkultur beschleunigen nur diesen Prozess der allgemeinen Relativierung. Selbst in den USA landet ein Mann im Gefängnis, wofür er im benachbarten Bundesland höchstens eine Verwarnung erhalten hätte. Während in den Darkrooms Kaliforniens gleichgeschlechtliche Orgien gefeiert werden (gefeiert?), landen die Propagierer einer solch Lust-betonten Lebensform in Russland und anderswo noch im Gefängnis. Ganz zu schweigen vom Zustand der Frauen, die in manchen Teilen dieser Welt noch nicht einmal den Führerschein besitzen dürfen.
Diese augenscheinliche Relativität der Sitten, Gesetze und Gebräuche hat schon sehr ausführlich Sextus Empirikus im 3. Jahrhundert nach Chr. in der Antike dokumentiert und philosophisch abgehandelt. Im Grunde war jedoch sein Vorgehen, anders als heute, rein philosophisch-immanent, also nicht politisch oder weltanschaulich ausgerichtet. Es wendete sich gegen den vorherrschenden autoritären Dogmatismus der stoischen Schule, der das intellektuelle Leben Roms beherrschte und dennoch ebenso unglaubwürdig war. Alles geht, hat auch Sextus schon damals feststellen müssen. Als Lösung dieses Problems hat er sich jedoch für die Einhaltung der jeweils örtlich festgelegten unterschiedlichen Gesetze wie Traditionen eingesetzt. Weniger der Wahrheit als der eigenen Selbsterhaltung zu Liebe.
Im Pluriversum der Unterschiede, Gegensätzlichkeiten und Heterogenitäten muss gleichwohl dennoch immer wieder über eine verallgemeinerbare Lebenstechnik nachgedacht werden. Der Begriff stammt bereits aus der Antike und sucht, um mit dem mittelhochdeutschen Lyriker Walther von der Vogelweide zu reden, eine Antwort auf die Frage, „wie man zur werlte sollte leben“. Wie und welche Modelle wollen wir der Jugend inmitten von Relativität, Ratlosigkeit und Verwirrung vorschlagen, damit sie einen Weg zu Glück, Wohlleben und Zukunft finden kann?
Zwar gab es auch in der Antike bereits existenzialistische Pessimisten, etwa die Trauer des Philosophen Heraklit, dem Begründer des dialektischen Denkens, über gerade diese Widersprüchlichkeit innerhalb von Leben und Welt. Aber neben solchen Untergangspropheten und Kassandristen gab es gleichzeitig doch immer wieder auch Optimisten, etwa Demokrit den Lacher oder den Schriftsteller Lukian, die nur noch alles nicht mehr für ernst halten und auslachen konnten.
Teil II: Amerikanische Fernsehserien
1 Einen guten Eindruck von den Erfahrungen eines französischen Intellektuellen in Kalifornien gibt Lyotards philosophisch-literarische Erzählung “Die Mauer des Pazifik” (Passagen).Wobei wir Europäer die neuen Sklaven sind, die im ambivalent schillernden Rom der Weltherrschaft und des Wohllebens Fuß fassen wollen.
Furore hat auch Jacques Derrida mit seinen Auftritten, muss man wohl sagen, in New York gemacht: Morgens in Paris einmal die Woche mit dem ÜberschallFlugzeug Concorde starten, nach der Vorlesung in New York noch am selben Abend schon wieder zurück in Paris.
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