281 Über Verwirrung (2)-Filmkritik 1
Amerikanische Fernseh-Serien
Um den geistigen Zustand einer Gesellschaft zu studieren, ist vor allem die Kunst nützlich. Sie ist der Spiegel ihrer Zeit, und ein Blick in diesen Spiegel, also die Begegnung mit und Interpretation von Kunst, lässt uns in geistigen Begriffen Welt und Wirklichkeit erkennen. Mittels Kunst haben wir sie zwar nur sinnlich emotional wahrnehmen können. Das ist schnell vorbei und wenig „nachhaltig“. Doch das ist letzten Endes m.E. ebenfalls die Aufgabe von Kunst: Durch das Wecken von sinnlichen Empfindungen und Gefühlen in uns geistige Überlegungen und Handlungs-Maximen entstehen zu lassen, die schließlich zur konkreten Praxis mit nachhaltigen, also länger andauernden Entscheidungen und Nachwirkungen werden können.
Ich denke, dass gegenwärtig nichts besser dazu geeignet ist als die Analyse und Interpretation amerikanischer Fernsehserien. Nicht kluge und gebildet-elaborierte Spielfilme (oder kluge und gebildet-elaborierte Blog-Beiträge) aus Europa. Nicht Oper oder Schauspiel, schon gar nicht die schockierenden Provokationen von akademischen, besser gesagt akademistischen Neuerern, die zu richtigen Neuerungs-Fetischisten geworden sind und das eigentliche Ziel von Kunst, ein Leben zu beschreiben, wie es ist, sein könnte oder sein sollte, ganz aus den Augen verloren haben.
Die fünf Fernsehserien, die ich nachfolgend vorstellen will, sind nicht öffentlich zugänglich. Das heißt sie kosten Geld und werden nur von Privatsendern gezeigt. Seit der Auflösung des Zentralismus im Fernsehen, die sogenannte Markt-Liberalisierung auch der öffentlich-rechtlichen Fernsehanstalten, hat sich auch in dieser so einflussreichen Welt ein Pluriversum an Möglichkeiten und Unmöglichkeiten breit gemacht, was die allgemeine weltanschauliche und geistige Verwirrung nur noch verstärkt. Jede Gruppe und jedes Grüppchen hat seinen eigenen Sender, posaunt lautstark die eigene beschränkt-begrenzte Meinung in die Welt hinaus ohne Steuerung, ohne Kritik und manchmal ganz ohne Korrektiv.
Im Wettbewerb um Zuschauerzahlen und Werbeeinnahmen haben sich mittlerweile vorwiegend amerikanische Sender-Imperien durchgesetzt, die ähnlich wie das Zeitungswesen unter einem enormen Konkurrenzdruck stehen. Was für uns Konsumenten im Sinne der reinen Lehre des Markt-Liberalismus den Vorteil hat, dass die Produkte infolge des Wettbewerbs dann und wann auch sogar besser werden können. Zwar angepasst an den Mainstream des Publikums (man muss immerhin aus nachvollziehbaren Gründen viele Zuschauer erreichen) und nicht so selbstmörderisch wie meine Person, die keine Rücksicht nimmt auf Verstehen und leichte Lesbarkeit der Texte. Aber dennoch mit manchmal guten Ergebnissen.
Mein Sohn, 19 Jahre jung und sehr americanophil, hat mich auf diese Serien aufmerksam gemacht und mir auch die entsprechenden Sender eingerichtet. Werbeunterbrechungen gibt es erfreulicherweise in Deutschland dabei nicht. Die Serien sieht man sich am besten ganz von vorne an und nur in beschränkter Auswahl. Gegen Ende verlieren sie meist ihre Stärke und Überzeugungskraft, bevor sie ganz schließlich erlöschen mangels Zuschauerinteresse. Nach und nach sind sie auch als DVD erhältlich.
Preacher (Amazon Prime)
Am spektakulärsten innerhalb meiner fünf ausgewählten Beispiele scheint mir gegenwärtig die Preacher-Serie aus dem Jahre 2016 zu sein. Hier hat die Wirklichkeit mittlerweile den Film eingeholt und der Film die Wirklichkeit. Es wird geballert und geschossen wie in den Abend-Nachrichten, Amokläufe, lang andauernde Gewalt-Exzesse der Personen, Explosionen, Schlägereien, Hysterien nehmen überhand. Selbst brutalste Schlägereien unter Frauen werden mittlerweile in das Handlungegeschehen eingebaut. Es ist eine Welt ganz ohne Liebe, aber voller Brutalität, Sex und Sucht wie auch immer.
In der Handlung von Preacher mischen sich Himmel und Hölle wortwörtlich, von der Bar oder Kirche in einer texanischen Kleinstadt geht es direkt in die Unterwelt und Hölle. Seltsam unfreundliche und unpassende Engel tauchen auf, und das Zentralmotiv des Filmes ist eine befremdliche Suche nach Gott, den es gleichwohl auf der Erde gar nicht mehr gibt, gar nicht mehr geben kann. Vor allem nicht in den USA.
Alle Gestalten einschließlich der Hauptdarsteller sind in ihrer Menschlichkeit verkümmert, degeneriert, ausweglos verloren (“broken“). Aber in ihrer Ambivalenz und in ihrem scheiternden Suchen nach dem Guten im Kampf gegen das Böse, was auch immer das sein mag, sind sie mir sympathisch.
Der Prediger-Held wechselt vom brav-bemühten Seelsorger zum brutalen Schlägertypen, vom Alkoholiker und Macho-Man zum religiösen Event-Organisator, „Messias“ und Show-Master mit magischen Kräften. Seine beiden atheistischen Mitstreiter auf der Suche nach Gott sind ein irischer Vampir, dem man es jedoch nicht so schnell ansieht. Zudem ist er wie die dritte im Bunde ein Krimineller, der es häufig mit einer korrupten Polizei zu tun hat.
Alles spielt sich in Texas ab, wo die zwanghaft geordnete Welt gerade nicht mehr in Ordnung ist. Es gibt im Film Szenen, deren Sinnzusammenhang mit dem Vorherigen kaum nachvollziehbar ist. Es gibt Sprünge, unvermittelte Rückblenden, Vorwegnahmen, Rätselhaftigkeit. Es gibt die plötzliche Einführung neuer Gestalten, ohne dass sie vorgestellt worden wären.
Schnelle Schnitte und insbesondere eine auffallend neuartige Filmmusik, das heißt erstmals werden ausgiebig auch Effekte der modernen Klassik, Atonalität oder auch Geräuschkunst verwendet, unterstreichen die Kunstfertigkeit dieser Serie. In jeder Hinsicht gut gemacht sind auch die Dialoge, der Filmschnitt, sind die Schauspieler-Besetzung oder die Szenarien.
Und dennoch haben wir einen vollkommen sinnlosen Film vor uns. Seine Botschaft lautet: Nichts geht mehr! Oder wie die Franzosen im Spielkasino sagen “Rien ne va plus”. Denn nichts geht mehr, wenn alles geht und wenn man schalten und walten kann, wie man will. Wenn nur noch Gewalt, Egoismus, Sex, Unwahrhaftigkeit, Gier, Pseudo-Religiosität und Irrationalismen dominieren. Ein Film durch und durch negativ, obwohl alle doch nur das Gute und für einen selbst Positive anstreben und unsere ganze Sympathie besitzen. Die absurde und ambivalente Sinn-Botschaft wird ins Nihilistische gewendet: Atheistisch in seiner Botschaft für Gläubige und nicht atheistisch für Ungläubige. Ambivalenz ist übrigens eines der Schlüsselbegriffe, um den gegenwärtigen Zustand in den USA zu verstehen.
Hier ein Dialogbeispiel zwischen dem Priester und seiner Hass-Geliebten:
Sie: Keine Sorge, Pater, ich werde dich nicht erschießen.
Sag mir, dass du an diesem Job kein Interesse hast und du es auch kein bisschen vermisst.
Er: Das hab ich getan. Zweimal.
Sie: Wir sind, wer wir sind, und das ist alles. Verstehst du?
Ich bin froh, dass wir uns noch hassen.
Er: Ich hasse dich nicht. Ich wüsste gar nicht, wie das geht.
Sie: Zwing mich nicht, dir das beizubringen.
Es macht alles so viel leichter.
Er: Es gibt kein alles, okay?
Sonst was?
Sie: Sonst irgendwas.
Er: Es tut mir leid.
Sie: Es tut mir auch leid.
Aber deswegen heul ich noch lange nicht rum.
Wir haben getan, was wir getan haben. Es ist wie es ist.
Das ist alles.
Verstehst du?
Warum Zeit verschwenden mit dem Wunsch, anders zu sein?
Er: Philosophie.
Sie: Wir sind, wer wir sind.
Ich hab null Hoffnung, und mir gehts fantastisch.
45′
Billions (Sky Atlantic)
In dieser Serie aus dem Jahr 2016 geht es um die uralte Auseinandersetzung zwischen Gesetz und Freiheit, um Recht, Moral und Macht. Wobei auch diese Menschen, die sich im Wirtschafts-Imperium der Wall Street durchsetzen, behaupten müssen, durchaus ambivalent gezeichnet sind. Sie besitzen finanziell nicht nur alles. Sie sind schlichtweg alles. Beide Hauptpersonen und Kontrahenten besitzen deshalb wieder, der Bundes-Staatsanwalt und der millionenschwere Aktien-Broker, die Guten wie die Bösen, unsere volle Sympathie.
Ein BundesStaatsanwalt, Vertreter des Gesetzes und auch eine mächtige juristische Instanz, die nur noch dem Justizminister in Washington direkt unterstellt ist, kämpft an der Wall Street gegen die Machenschaften des Kapitals und seiner gierigen (sagt man mittlerweile) Geldmacher. In unserem Fall gegen einen leibhaftigen Millionär, der ebenso wenig unangenehm ist wie sein Gegenspieler. Eher ebenso faszinierend. Beide beherrschen ihren Job, sind gut, einnehmend, erfolgreich. Beide haben aber auch ihre Schwächen und Tücken, verstricken sich in Machenschaften, die man von den russischen Oligarchen im Streit mit der Staatsmacht kennt, und beide scheitern auch letztlich wieder in ihren Siegen. Dass das Recht gebrochen wird selbst von den Gesetzgebern, dass das Kapital mitsamt dem Kapitalismus dann und wann ebenfalls sich bösartig und wider die menschliche Natur verschworen hat – auch diese Entwicklungen kennen wir aus den Abendnachrichten. Nur dass diese Konflikte so emotional heftig und fast schon neben dir und mir ausgetragen werden, das wussten wir noch nicht.
40‘
Big Little Lies (Sky Atlantic)
Doch selbst bei den Reichen und Schönen dieser blendenden US-amerikanischen Welt ist alles nur noch in Unordnung. Sie leben zwar in ihren schönen Häusern in schöner Umgebung und in einem freiheitlichen Sonnenstaat wie Kalifornien im Jahre 2016. Versuchen als Frau und Mutter ein vorbildliches Eheleben zu führen mit ihrem Herrn und Gebieter. Man ist klug und gebildet und frequentiert nur ausgewählte Privatschulen. Akzeptiert Thesen des Feminismus und die Gender-Trennung. Progressive pädagogische Modelle werden ebenso ausprobiert wie ausgefallene Sexualtechniken unter der Gürtellinie. Aber auch in dieser Welt ist etwas faul im Staate Dänemark. Wir wissen, was kommt, und haben deshalb keinerlei Mitleid mit den geplagten Personen. Geht es doch nicht zuletzt uns allen ebenfalls so (oder auch nicht).
60’
Archer (Netflix)
In Archer, einem gut gemachten Zeichentrickfilm, wird alles schließlich auf die Spitze von Ironie, bösartigem Sarkasmus und Persiflage getrieben. Der Film zeigt auch, wie selbstverständlich solcherart glückliche Menschen (in den USA muss man glücklich sein!) mittlerweile in einer Welt ganz ohne Liebe, aber voller Sucht und Zwang und seelischer Krankheiten mit diesen Abwegigkeiten und Verworrenheiten umgehen. Wir befinden uns im Büro einer erfolgreichen Geheimagenten-Agentur, wo der Alles-Geht-Haltung gar keine Grenzen mehr durch die Moral gesetzt wird. Schon gar nicht durch Polizei oder Gesetz. Jedes Verhalten, jede individuelle Eigenartigkeit wird als gegeben hingenommen, übersteigert, parodiert. Schlagfertige Dialoge fast schon in Kammertheater-Manier, die ebenfalls keine Grenzen kennen, zeugen von Hintergrundwissen mit deutlichen Anspielungen für Wissende auf die Welt der Gegenwart, der Filmkunst, der Psychoanalyse, der Politik.
Dauernd werden Tabus der politischen Korrektheit gebrochen, was Wortwahl, Diskriminierung, Geschlecht etc. betrifft. Normalität ist (wie in den anderen Serien mittlerweile auch) Sado-Masochismus, Homosexualität, Kokain, Sexsucht der Frauen, Sexsucht der Männer, Ess-Sucht, Alkoholismus und übersteigert narzisstisches Selbstbewusstsein, Selbstdarstellungs-Gehabe. Auch hier werden stilistisch und filmtechnisch Gattungen und Genres gemischt, etwa humorvolle Realitätsbeschreibung, Krimi- und Schlägerei-Episoden mit absurden Übersteigerungen oder sogar ScienceFiction-Episoden im Sinne eines Weltall-Abenteuers. Mit Hilfe einer futuristischen Technik werden alle Probleme der Agenten-Tätigkeit meist immer siegreich bewältigt.
Dem anfangs ob so vieler Tabubrüche sprachlosen Zuschauer bleibt schließlich nur noch ein gequältes oder auch befreiendes Lachen übrig angesichts dieser geistigen Verwirrung und menschlichen Verkrüppelung. Auch der Sexismus von Mann wie Frau wird locker akzeptiert, steckt doch jeder der Teilnehmer in der verführerischen Falle von politischer Unkorrektheit, die ausgiebig persifliert werden darf. Und den Zuschauer meist amüsiert. Ab Staffel 8 implodiert die Serie und sie gefällt sich nur noch in wüsten Übertreibungen und Stilisierungen.
Frauen muss ich vor diesem Film warnen, ohne jetzt rassistisch oder diskriminierend werden zu wollen. Er ist sehr stark vom männlichen Blick und männlichen Humor bestimmt. Ich glaube, dass es das gibt. Meine Frau konnte mit dieser Art von Humor wenig, eher sogar überhaupt nichts anfangen. Was schließlich alle amerikanischen Serienfilme einschloss, welche sie sich mir zu Liebe anzusehen versuchte.
20‘
Westworld (Sky Atlantic)
Meine Lieblings-Serie ist Westworld aus dem Jahr 2016. Ihr kennt meinen Blick in die Zukunft und dass ich diese bereits in den Händen selbständig operierender digitaler Systeme und ÜberwachungsMaschinen sehe. Einen Schritt weiter geht der Film: Wir sind in einem Reich, wo geklonte und reale Existenz nicht mehr auseinander gehalten werden können. Wo Parallel-Welten existieren, die sich mit Erinnerungen von früher und zukünftigen Visionen mischen. Wäre da nicht dann und wann uns ein Einblick gestattet in das Reich der realen Wissenschaftler und Ingenieure, die eine solche künstliche Welt nicht ohne Konflikte und Streitereien untereinander in ihrem Laboratorium entwerfen und bauen dürfen.
60‘
Eigentlich passt auch meine schon vor vielen Jahren geschriebene Vision einer “Stahlstadt”(Archiv) in dieses Reich und in dieses Denken. Nur dass ich mich mehr positiv von Skinners behavioristischen Träumen habe inspirieren lassen, wie sie in den universitären Vorlesungen unser geistiger Mentor (Hans Otto Apel) immer wieder warnend und ausführlich beschrieben hat (das angeblich positive Leben “Jenseits von Freiheit und Menschenwürde“). – Während Westworld ein Spielfilm der Kunst und nicht der Philosophie sein will aus Gründen, die ich oben schon beschrieben habe und womit ich diese beiden zugegeben etwas längeren Aufsätze über die Verwirrung jetzt auch beenden kann. Ohne hoffentlich meine geneigte Leserschaft in eine ebensolche Verwirrung getrieben zu haben. Trotz langer Sätze samt eingeschobener Nebensätze etc.(Seufz)
Wer mit solchen Filmen als junger Mensch aufwächst, antikes Stichwort „Lebenstechnik“, kann nur noch ratlos und desorientiert in die Welt und Zukunft schauen. Die verkrüppelt positive Botschaft vor dem Dauer-Fernseher lautet tagtäglich in der Sprache Senecas und der stoischen Philosophie nur noch: No Hope, no Fear – keine Hoffnung, dass es besser werden kann; aber auch keine Furcht davor. Tapfer bleiben, Gegensätze aushalten lernen und ausharren.
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