283 Platonische Liebe (Griechische Lektüre II)
Sokrates und Alkibiades
In Platons „Symposion“ geht es um die Liebe. Um die Liebe im Sinne von Sex und um Liebe im geistigen Sinne. Nicht im christlichen Sinne der Nächstenliebe (Agape), denn diese entwickelt sich aus einer demografischen Notwendigkeit heraus erst 400 Jahre später. Sondern im Sinne eines eher besonnen-zurückhaltenden Umgangs mit dem Sex, der ebenso wie die Aggression in dieser “Achsenzeit”(Jaspers), diesem Frühstadium der menschlichen Kultur, erst noch domestiziert, kanalisiert, sublimiert werden musste fast schon wie im Sinne Freuds.
Zumal das Pro und Contra eines pädagogischen Sex mit jungen Männern auch im Athen um 400 vor Christus durchaus kontrovers diskutiert worden ist. Die Knabenliebe (Päderastie) wurde nur in der aristokratischen Oberschicht aus erzieherischen Gründen gepflegt und für gut befunden. Die meisten antiken Schulen lehnten außerdem die Lust um der Lust willen auch in späteren Zeiten ab. Selbst wenn ein Großteil der Bevölkerung sich nicht daran hielt. Wie heute auch.
Stattdessen propagierte man Zurückhaltung, Askese oder zumindest einen besonnenen Umgang damit. Lust und Sex standen also immer unter dem Diktat der Vernunft. Und die Vernunft strebt nach dem Guten für das einzelne Individuum wie für den Staat. Platon hat zwei Bücher über Staatsverfassung geschrieben. Im späteren Alterswerk „Die Gesetze“ war die Lust eigentlich nur noch für die Fortpflanzung und den Staatserhalt im Sinne von Züchtung eingeplant. Während Platon im frühen „Phaidros“ sogar die Homosexualität noch toleriert hat.
Im Folgenden habe ich Platons „Alkibiades“-Szene am Ende seines „Symposions“, die die abendländische Sexual-Moral so sehr beeinflusst hat bis auf den heutigen Tag, etwas umgeschrieben, die altertümliche Übersetzung verbessert und den heutigen Lesegewohnheiten angepasst. Dass dabei wieder einiges an Subjektivität dennoch hat mit einfließen müssen, war zwangsläufig. Eine Subjektivität meinerseits, die mehr Gegenwart und Zukunft immer wieder im Auge behält als die “korrekte“ Darstellung der Welt und der Ideen Platons, die nicht mehr rekonstruierbar sind.
Alkibiades, wie Platon ein junger Mann aus der führenden Athener Oberschicht, charismatisch, in jeder Hinsicht erfolgreich und begehrt, muss man wohl sagen, bewundert Sokrates. Dessen Weisheit, sein Wissen, die Unabhängigkeit und Bedürfnislosigkeit. Mit diesem Guru zu schlafen – das war sein größtes Ziel. Im Sinne der Knabenliebe-Ideologie seiner Zeit wird man nur so zu einem „tüchtigen Mann“, behauptet Alkibiades in eigener Sache und sagt dies Sokrates geradewegs ins Gesicht.
Er setzt alles daran, den Älteren zum sexuellen Kontakt zu bringen. Doch Sokrates, obgleich „Knabenliebhaber“ einschließlich Frau und Kind, lehnt seinen Grundsätzen gemäß ab. Es gibt wichtigere Dinge im Leben als Sex. Seine Liebe Alkibiades gegenüber verzichtet auf den körperlichen Kontakt, bleibt unkörperlich und eher geistig. Eine Liebe also ohne Sex. Damit war die platonische Liebe geboren.
Beide treffen sich zu einem Abendessen im Hause Agathons in Athen. Jeder muss eine Lobrede auf Eros, den Gott des Begehrens, der Zeugung und Kreativität halten. Alkibiades und Sokrates lieben sich. Doch jeder auf seine eigene und andere Weise. Sokrates rettet Alkibiades sogar später in einer Schlacht das Leben. Und Alkibiades wird zu einem führenden Staatsmann und Militär sowohl in Athen als auch in Sparta. Beide verehren sie Eros als Gott, weil dieser Kinder des Körpers und Kinder des Geistes zu zeugen vermag.
I
Alkibiades trifft später erst zu dem Gastmahl ein. Er setzt sich neben Agathon und umarmt ihn zur Begrüßung.
Aber wen haben wir hier denn als dritten Trinkgesellen neben uns, fragt Alkibiades. Und zugleich dreht er sich um und erblickt Sokrates.
Bei seinem Anblick springt er auf und ruft aus: Beim Herakles, was ist das? Sokrates schon wieder da? Hast du dich schon wieder hier gegen mich auf die Lauer gelegt, so wie du immer plötzlich da zu sein pflegst, wo ich dich am wenigsten vermute? Und wozu bist du jetzt hier? Und wozu nimmst du wiederum gerade hier deinen Platz ein und nicht bei Aristophanes oder wem auch immer, der ein angenehmer Gesprächspartner ist oder sein will? Warum hast du es wieder so einzurichten gewußt, daß du neben Agathon, dem schönsten von allen Anwesenden, deinen Platz bekommst?
Sokrates wendet sich an Agathon: Sieh doch zu, lieber Agathon, ob du mir nicht diesen Menschen vom Leib halten kannst. So viel Not macht mir seine Zuneigung! Denn von der Zeit an, als ich ihn zu lieben begann, darf ich keinen einzigen anderen interessanten Menschen mehr ansehen, geschweige denn mit ihm sprechen. Sonst begehrt dieser da aus Neid und Eifersucht die seltsamsten Dinge, schimpft mit mir rum und hält sich kaum von Handgreiflichkeiten zurück. Sieh also zu, daß er nicht auch jetzt wieder so etwas unternimmt, sondern versöhne uns. Oder, wenn er Gewalt gebrauchen will, so halte ihn zurück. Ich habe die größte Angst vor der Raserei, in welche ihn seine Liebe und Anhänglichkeit mir gegenüber versetzt.
Nein, antwortet Alkibiades, zwischen mir und dir gibt es keine Versöhnung. Doch ich will hierfür dich später bestrafen. Jetzt aber, Agathon, gib mir einige von deinen Schmuck-Bändern zurück, damit wir auch diesen Mann hier bekränzen. Damit er nicht mich tadeln kann, daß ich dich bekränze, ihn aber, der mit seiner RedeGewalt alle Menschen – und nicht bloß gestern, sondern immer – besiegt, hinterher unbekränzt gelassen habe!
Und zugleich nimmt er einige von den Bändern, schmückt mit ihnen den Sokrates und setzte sich dann wieder hin.
Eryximachos belehrt daraufhin Alkibiades: Wir haben, bevor du kamst, die Übereinkunft getroffen, es solle ein jeder der Reihe nach eine so schöne Rede, als er nur immer kann, auf den Gott Eros halten und ihn verherrlichen. Wir andern nun haben alle bereits gesprochen. Du aber, da du noch nicht geredet hast und doch schon den Becher mit Wein ausgetrunken hast, bist jetzt verpflichtet zu reden.
Dein Vorschlag ist ganz schön, mein Eryximachos, entgegnet Alkibiades, doch es ist unfair, daß ein angetrunkener Mann wie ich in einen Wettstreit mit den Reden Nüchterner eintreten soll. Und überdies, du Hochehrenwerter, glaubst du dem Sokrates irgend etwas von dem, was er soeben gesagt hat? Und weißt du nicht, daß vielmehr genau das Gegenteil davon wahr ist? Denn er würde ganz gewiss, wenn ich in seiner Gegenwart irgend jemanden, sei es einen Gott oder einen anderen Menschen als ihn, loben wollte, Hand an mich legen.
Frevle nicht! sagte Sokrates.
Nein, beim Poseidon, wende mir nichts dagegen ein, erwiderte Alkibiades. Ich werde doch in deiner Gegenwart nie einen andern preisen.
Nun, dann mache es doch so, schlägt Eryximachos vor. Halte eine Lobrede auf Sokrates!
Ja, was sagst du dazu? antwortet Alkibiades. Meinst du, ich soll es tun, Eryximachos? Soll ich mich an den Mann heran machen und mich hier in eurer Gegenwart an ihm rächen?
Hey Freund, beginnt Sokrates, was hast du denn eigentlich für ein Problem? Willst du mich in deiner Lobrede lächerlich machen oder was willst du sonst?
Die Wahrheit will ich sagen, antwortet Alkibiades. Überlege also, ob du mir das gestattest.
Gewiss, erwidert Sokrates. Die Wahrheit gestatte ich nicht bloß, ich gebiete sie dir sogar.
Ich werde nicht zögern, antwortet Alkibiades. Und mache du es dabei so: Wenn ich etwas Unwahres sage, dann unterbrich mich, wenn du willst, und strafe mich Lügen! Denn mit Absicht werde ich nichts Falsches berichten. Wenn ich jedoch das eine hier und das andere dort anführe, so wundere dich darüber nicht, denn in meinem Zustand ist es nicht leicht, deine Besonderheiten, Sokrates, logisch und in geordneter Reihenfolge aufzuzählen.
Ich will dich gleich zu Beginn schon direkt ansprechen. Du bist doch ein übermütiger Schalk. Oder bist du es nicht? Wenn du es leugnest, will ich dir Zeugen beibringen. Und weiter: Du bist doch ein Musiker, ein Flötenspieler, ein Verführer. Sogar ein noch viel bewundernswürdigerer als Marsyas. Denn mit Hilfe von Instrumenten bezauberte dieser die Menschen, nur durch die Gewalt seines Spiels. Und ebenso auch jetzt noch einen jeden, der seine Melodien spielt.
Du aber unterscheidest dich von ihm dadurch, daß du ohne Instrumente durch dein bloßes Reden das bewirkst. Bei uns jungen Männern wenigstens geht es einem jeden gar nicht zu Herzen, wenn wir einen andern und auch noch so guten Redner hören. Wenn wir aber dich oder den Vortrag deiner Reden durch einen andern hören, und mag der Vortrag auch noch so schlecht sein, so fühlen wir uns hingerissen und gefesselt.
Ich jedenfalls, ihr Männer, wenn ich nicht fürchtete, ganz betrunken zu erscheinen, würde vor euch schwören, was ich bei des Sokrates Reden empfunden habe und noch jetzt empfinde. Denn wenn ich ihn höre, dann pocht mir das Herz stärker, als wenn ich von einem heftigen Taumel ergriffen wäre, und Tränen entströmen meinen Augen bei seinen Reden. Ich sehe aber, daß es auch sehr vielen anderen Männern so geht.
Wenn ich dagegen den Perikles und andere gute Redner hörte, so schienen sie mir zwar gut gesprochen zu haben. So tief jedoch habe ich nie dabei empfunden, noch war meine Seele dabei in Aufregung oder klagte mein eigenes Herz mich an, daß ich mich in einem Zustand befinde, wie er eines freien Mannes unwürdig ist. Aber von diesem Marsyas-Flötenspieler hier bin ich oftmals in eine solche Stimmung versetzt worden, so daß mir das Leben unerträglich erschien, wenn ich so bliebe, wie ich bin.
Und hierbei, Sokrates, wirst du nicht sagen können, dass ich lüge. Und auch jetzt noch bin ich mir dessen bewußt, daß, würde ich Sokrates mein Ohr leihen, ich nicht Kraft genug zum Widerstand ihm gegenüber haben würde. Sondern daß mir von Neuem dasselbe passieren würde. Denn er würde mich zwingen zu gestehen, daß ich, während mir selber noch so Vieles fehlt und ich meine eigenen Angelegenheiten vernachlässige, dass ich stattdessen immer nur einseitig die der Athener Bürger betreibe. Mit Gewalt verstopfe ich mir daher die Ohren und gehe ihm aus dem Weg, damit ich nicht doch nur wieder fasziniert bei ihm sitzen bleibe und so bei ihm zum alten Mann werde.
Und was mir niemand zutrauen würde, daß ich mich nämlich vor irgend jemandem schäme – das ist mir auch schon in der Tat bei ihm allein unter allen Menschen passiert: Vor ihm allein schäme ich mich wirklich.
Denn ich bin mir bewußt, daß ich ihm nicht zu widersprechen vermag, wie wenn ich das unterlassen dürfte, wozu er mich ermahnt. Daher laufe ich vor ihm weg und fliehe ihn. Und wenn ich ihn erblicke, dann schäme ich mich, dass ich seine Empfehlungen nicht eingehalten habe. Und oft möchte ich wünschen, ihn gar nicht mehr unter den Lebenden zu sehen. Wenn aber dies einträte, dann bin ich überzeugt, daß ich einen noch viel größeren Schmerz darüber empfinden würde. Und so weiß ich nicht, wie ich mich diesem Mann gegenüber verhalten soll.
Vernehmt aber noch andere Dinge von mir, um zu erfahren, wie ähnlich er denen ist, mit welchen ich ihn verglichen habe, und welche wunderbare Gewalt er ausüben kann. Denn dessen seid gewiß, daß niemand von euch diesen Mann wirklich kennt. Durch mich aber sollt ihr ihn kennenlernen, da ich nun einmal damit angefangen habe ihn zu beschreiben.
Ihr wisst nämlich, dass Sokrates in junge Männer verliebt sein kann, sie umschwärmt und auch außer sich gerät vor Entzücken. Und ferner, daß er sich das äußere Ansehen eines Unwissenden und Unkundigen in allen Dingen gibt.
Ist er dabei nun nicht ganz wie ein Silen? Wenigstens ist dies durchaus nur die äußere Hülle an ihm, gerade wie jene geschnitzten Halbgötter. Wenn man ihn aber öffnet, so glaubt ihr es gar nicht, meine Tischgenossen, von wie großer Besonnenheit sein Inneres voll ist. In Wahrheit legt er nicht das geringste Gewicht darauf, ob jemand schön oder reich ist oder irgend eine andere Auszeichnung von all denen an sich trägt, die von der Menge gepriesen werden. Dies alles verachtet er so sehr, wie niemand es glauben sollte. Alle diese Besitztümer hält er für wertlos. Auch uns alle achtet er gering. Das hütet er sich aber freilich zu sagen, vielmehr Ironie und Verstellung übt er sein ganzes Leben lang gegen alle Menschen und treibt mit ihnen sein Spiel.
Ob irgend ein anderer als ich, wenn er ernst macht und sein Inneres aufschließt, die in ihm verborgenen Götterbilder erblickt hat, weiß ich nicht. Aber ich habe sie gesehen, diese Bilder, und sie erschienen mir so göttlich und golden, so reizend schön und bewundernswert, daß ich ohne Zaudern tun zu müssen geglaubt habe, was Sokrates von mir verlangt hat.
II
Da ich nun vermutet habe, daß er ernstlich nach dem Genuss meiner Reize strebt, so hielt ich dies für eine herrliche Möglichkeit und einen wunderbaren Glücksfall für mich. Ich glaubte dabei, daß mir, wäre ich dem Sokrates sexuell zu Willen, alles zur Verfügung stehen würde, was er selber wüßte. Ich bildete mir nämlich auf meine Reize besonders viel ein.
Während ich daher bisher nicht ohne Gegenwart eines Dieners mich traute, allein mit ihm zu bleiben, schickte ich deshalb jetzt jenen fort und blieb mit ihm ganz allein. Denn ihr sollt jetzt die volle Wahrheit hören. Passt also auf! Und wenn ich irgend etwas Unwahres sage, Sokrates, so erhebe du dagegen Einspruch!
Ich blieb also ganz allein mit ihm, Freunde, und erwartete nun, daß er sofort zu mir sprechen würde, wie ein Liebhaber wohl zu seinem Geliebten spricht, wenn sie ohne Zeugen sind. Ich freute mich schon darauf. Aber es geschah von alledem gar nichts, sondern er sprach mit mir ganz wie sonst gewöhnlich auch. Und nachdem er den Tag mit mir zugebracht hatte, ging er nach Hause.
Darauf lud ich ihn andern Tags ein, das übliche Sporttraining mit zu machen, und ich richtete es tatsächlich so ein, um dabei ans Ziel zu kommen. Wir trainierten also ohne Kleider und er rang mit mir ohne jemandes Beisein. Und was bedarf es weiterer Worte? Auch hierbei richtete ich ebensowenig etwas aus.
Da ich nun auf keinem dieser Wege meinen Zweck erreichte, so glaubte ich dem Manne stärker zusetzen zu müssen, zumal ich nun einmal damit angefangen hatte. Ich wollte endlich nun erfahren, wie es denn eigentlich mit der Sache stände. Ich lade ihn also ein, mit mir zu Abend zu essen, indem ich ihm gerade wie ein Liebhaber seinem Geliebten nachstellte.
Er aber sagte mir dies nicht einmal sogleich zu. Mit der Zeit indessen ließ er sich überreden. Als er nun das erste Mal zu mir kam, wollte er nach dem Essen wieder weggehen, und ich ließ ihn diesmal aus Scham auch noch wirklich fort. Das zweite Mal aber machte ich meinen Angriff. Nachdem er gegessen hatte, hielt ich ihn mit Gesprächen bis in die Nacht hinein auf, und als er endlich gehen wollte, sagte ich ihm, daß es schon zu spät wäre, und nötigte ihn zu bleiben.
So legte er sich denn auf dem Lager zur Ruhe, das an das meine stieß, und auf dem er auch zu Tische gelegen hatte. Kein anderer schlief in dem Zimmer als wir. Bis hierher nun könnte ich die Sache wohl noch jedem erzählen. Was aber nun folgt, würdet ihr schwerlich jetzt von mir hören, wenn nicht erstens der Wein die Wahrheit sagen würde, selbst wenn Sklaven dabei sind. Es wäre auch unfair von mir, eine so stolze Tat des Sokrates zu verschweigen, nachdem ich es nun einmal übernommen habe, eine Lobrede auf ihn zu halten.
Außerdem geht es mir dabei wie den von einer Schlange Gebissenen. Denn man sagt, daß der, welcher einen solchen Biss erlitten hat, es keinem andern sagen wolle, was er dabei empfunden habe. Nur dem selber einmal Gebissenen will er es erzählen, weil nur dieser allein imstande ist, es zu begreifen und es verständlich zu finden, wenn er vor Schmerz im Reden wie im Tun zum Äußersten getrieben wird.
Ich aber bin von etwas gebissen, was einem noch weit größere Schmerzen macht, und gerade an dem empfindlichsten Teil. Denn ins Herz hinein oder in die Seele – oder wie soll ich es sonst nennen? – bin ich getroffen und gebissen worden von seinen Worten. Worte der Weisheit, welche, wenn sie auf ein junges, begabtes Gemüt treffen, sich grimmiger im Herzen festbeißen als eine Schlange. Sie können einen solchen Menschen wie mich bis zum Äußersten treiben in Rede und Tat.
Indem ich nun also solche Leute wie Phaidros, Agathon, Eryximachos, Pausanias, Aristophanes vor mir sehe… Kurz, ihr alle seid wie einst ich auch von dem Wahnsinn und der Schwärmerei der Liebe gegenüber Sokrates ergriffen worden. Darum sollt ihr alle es auch hören. Denn ihr werdet mir verzeihen, was ich damals tat, und daß ich es jetzt euch erzähle. Die Dienerschaft aber, und wenn sonst ein Ungeweihter und Ungebildeter unter uns ist, die mögen sich die Ohren zustopfen.
Als nun nämlich, ihr Freunde, das Licht ausgelöscht war und die Sklaven das Zimmer verlassen hatten, da ging ich ohne weitere Umschweife gerade heraus mit der Sprache und über meine Absichten.
Ich stieß ihn daher an und fragte ihn:
Sokrates, schläfst du?
Nein, erwiderte er.
Weißt du, was ich beabsichtige?
Nun, was denn? fragte er.
Es will mir scheinen, erwiderte ich, als ob du der einzige meiner Liebhaber bist, der es zu sein verdient. Und als ob du dich scheust, mir deine Wünsche zu gestehen und sie zuzulassen.
Ich aber denke so: Es wäre, wie ich meine, dumm von mir, wenn ich dir dabei nicht ebenso zu Willen wäre, als wenn du sonst irgendwie mich nötig hast. Sei es in Bezug auf meine Fähigkeiten oder auf meine Freunde.
Denn mir liegt nichts mehr am Herzen als ein möglichst tüchtiger Mann zu werden. Hierzu kann ich aber, so glaube ich, keine bessere Hilfe finden als dich. Und ich will den Tadel vermeiden, der unweigerlich käme bei allen vernünftigen Menschen, wenn ich einem solchen Manne wie dir seine Wünsche versagen würde. Diesen Tadel möchte ich mehr vermeiden als jenen Tadel, welchen die Menge der unverständigen Leute wegen meiner Gewährung solcher Wünsche erheben wird.
Er aber, als er dies vernommen, antwortete wiederum ganz mit seiner gewohnten Ironie:
Mein guter Alkibiades, du scheinst mir wirklich gar nicht so dumm zu sein, wenn es so mit dir steht, wie du meinst. Ich also wirklich eine solche Kraft besitze, dich besser und edler und zu einem tüchtigen Mann zu machen. Denn wirklich, eine wunderbare Kraft und Kunst würdest du dann in mir sehen, welche die Wohlgestalt und Fähigkeit von dir weit übertrifft.
Wenn du also den Genuss deiner Schönheit gegen den der meinigen auszutauschen wünschst, so machst du es dabei ziemlich richtig, daß du mich nicht nur übervorteilen willst. Du suchst vielmehr um den Preis des bloßen Scheins von Schönheit die wahre Schönheit und das Gute zu erwerben. Also eine goldene Rüstung für eine eiserne einzutauschen. Aber, mein Verehrtester, siehe doch erst genauer hin, damit dir meine Wertlosigkeit nicht entgeht! Beginnt doch das Auge des Geistes erst dann scharf zu blicken, Wahrheit und Schönheit zu erkennen, wenn das Auge des Körpers sein Begehren und seine Schärfe zu verlieren beginnt. Davon aber bist du mit deiner Jugend noch weit entfernt.
Wie es meinerseits steht, entgegnete ich, hast du gehört. Ich habe dabei kein Wort anders gesagt, als ich denke. Überlege also nun, was dir für mich und dich das Beste zu sein scheint.
Gut gesprochen, erwiderte Sokrates. Laß uns also im Folgenden und nach diesem Gespräch so handeln, wie es uns beiden in diesem Theaterstück und in allen noch folgenden andern Komödien mit dir und mir als das Beste erscheint.
Nachdem ich nun in dieser Wechselrede gleichsam meine Pfeile gegen ihn abgeschossen hatte, glaubte ich ihn getroffen zu haben.
Ich stand daher auf und ließ ihn nicht weiter sprechen, sondern warf mein eigenes Obergewand über ihn – es war nämlich gerade Winter – und legte mich unter seinen Mantel und schlang meine Arme um diesen wahrhaft dämonenbeseelten und wunderbaren Mann. Und so lag ich die ganze Nacht neben ihm. Und auch hierin, Sokrates, wirst du mich wiederum nicht der Unwahrheit beschuldigen können.
Als ich nun dies alles tat, da zeigte dieser Mann seine Überlegenheit in einem staunenswerten Ausmaß. Er verachtete und verspottete, ja verhöhnte sogar meine blühende Schönheit, auf welche ich mir doch so viel eingebildet hatte, ihr Richter – denn Richter sollt ihr mir sein über den Hochmut des Sokrates. Denn bei allen Göttern und Göttinnen, ihr könnt es glauben, nachdem ich mein Lager mit Sokrates geteilt hatte, stand ich wieder auf, ohne dass irgend etwas Weiteres vorgegangen wäre, ganz so, als ob ich bei meinem Vater oder einem älteren Bruder geschlafen hätte.
Wie glaubt ihr aber wohl, daß jetzt meine Stimmung war, da ich mich für verschmäht hielt, aber zugleich den Charakter dieses Mannes und seine Besonnenheit und Seelenstärke bewunderte? Dass ich tatsächlich einen solchen Mann gefunden hatte, wie ich ihn an Weisheit und Festigkeit niemals zu finden erwartet hätte?
So konnte ich ihm denn weder böse sein noch und seinen Kontakt aufgeben. Es bot sich mir aber andererseits auch kein Mittel dar, ihn an mich zu fesseln. Denn das wußte ich wohl, daß er durch Geld und Gold noch viel unverwundbarer sei als Aias durch Eisen. Das einzige Mittel, durch das ich ihn in meine Gewalt zu bringen hoffte, den Sex, hatte er soeben vereitelt. Ratlos also blieb ich und weiterhin in der Gewalt dieses Mannes, wie wohl niemals sonst ein Mensch in der eines andern gewesen ist.
Dies alles hatte sich schon unter uns zugetragen, bevor wir gemeinsam den Feldzug nach Poteidaia mitmachten, dort Tischgenossen waren und er mir das Leben gerettet hat.
Solches ist es, ihr Freunde, was ich zum Lobe des Sokrates vorzubringen habe. Ebenso habe ich Tadel eingemischt, den ich gegen ihn führen muß, und ich habe euch erzählt, wie übermütig er mich behandelt hat. Und doch ist er nicht mit mir allein so umgegangen, sondern auch mit Charmides, dem Sohne des Glaukon, und mit Euthydemos, dem Sohne des Diokles, und mit gar vielen anderen. Diesen allen hat er vorzuspiegeln gewußt, daß er ihr Liebhaber wäre, während er sich vielmehr selbst immer aus dem Liebhaber zum Geliebten zu machen weiß.
Das laß nun auch dir gesagt sein, lieber Agathon, damit du dich nicht von ihm täuschen läßt, sondern, durch meinen Schaden belehrt, auf der Hut bist und nicht erst nach dem Sprichwort wie die Dummen erst durch eigenen Schaden klug wirst.
III
Als nun Alkibiades so gesprochen hatte, ist ein allgemeines Gelächter über seine Offenherzigkeit entstanden, zumal daraus deutlich zu werden schien, daß er noch immer in den Sokrates verliebt war.
Sokrates aber antwortete:
Du scheinst mir doch noch ganz nüchtern zu sein, Alkibiades. Obwohl du dein Glas Wein schon ausgetrunken hast. Denn sonst würdest du es wohl nicht so geschickt durch allerlei Tricks zu verbergen gesucht haben, zu welchem Zweck du dies alles gesagt hast. Als ob du das Ganze nicht bloß deshalb nur gesagt hättest, um mich mit Agathon zu entzweien. Mit dem falschen Glauben, ich dürfe bloß dich allein lieben und keinen anderen, Agathon aber dürfe bloß von dir allein geliebt werden und von keinem anderen. Damit liegst du falsch und du bist nicht damit durchgekommen. Dein Satyr- und Silenen-Schauspiel ist entlarvt worden. Darum, lieber Agathon, lass ihn keinen Gewinn davon haben, sondern kümmere dich darum, dass niemand uns beide entzweie!
Agathon aber erwiderte:
Ich glaube, du hast ganz recht, Sokrates. Ich schließe dies auch daraus, daß er sich zwischen uns beiden niedergelassen hat, um uns so auch räumlich zu trennen. Das soll ihm aber nichts helfen, sondern ich werde zu dir rüber kommen.
Vortrefflich, sagte Sokrates. Nimm hier unterhalb von mir dicht an meiner Seite Platz!
O Zeus, rief Alkibiades aus, was habe ich schon wieder von diesem Menschen auszustehen! Überall will er mir seine Überlegenheit zeigen. O nein doch, mein Lieber, wenn es nicht anders geht, so lass wenigstens den Agathon in der Mitte zwischen uns Platz nehmen!
Das geht nicht, sagte Sokrates, denn du hast eben eine Lobrede auf mich gehalten. Ich muß also wieder eine solche auf meinen Nachbarn zur Rechten halten. Wenn nun Agathon unterhalb von dir Platz nimmt, so kann er mich doch wahrlich nicht noch einmal preisen, bevor er vielmehr von mir gepriesen worden ist. Darum laß ihn gewähren, du Vortrefflicher, und mißgönne dem jungen Mann meine Lobrede nicht, zumal da ich selber höchst begierig darauf bin, sie ihm zu halten!
Bravo, rief da Agathon aus. Alkibiades, nun hält mich nichts mehr zurück, sondern nichts ist mir jetzt lieber als meinen Platz zu wechseln, damit ich von Sokrates in einer Lobrede nur Gutes zu hören bekomme.
Ja da haben wir wieder das alte Spiel, war die Antwort des Alkibiades. Wenn Sokrates da ist, dann kann kein anderer zum Mitbesitz eines interessanten Menschen gelangen. Und wie leicht hat er auch jetzt wieder einen so scheinbaren Vorwand gefunden, weshalb Agathon neben ihm sich niederlassen muß!
Agathon ist daraufhin aufgestanden, um neben Sokrates Platz zu nehmen. Da ist plötzlich eine Menge von Nachtschwärmern vor der Tür erschienen. Da sie diese geöffnet fanden, weil gerade jemand hinausgegangen war, sind sie zu der Tischgesellschaft eingedrungen und haben sich bei ihnen niedergelassen.
So hat sich alles mit Lärm erfüllt, alle Ordnung hat sich aufgelöst und man war genötigt, sehr viel Wein zu trinken. Eryximachos, Phaidros und mehrere andere haben sich deshalb, wie Aristodemos erzählt, verabschiedet. Alkibiades selbst aber hat der Schlaf überwältigt. Er hat recht lange geschlafen, da ja zu dieser Jahreszeit die Nächte lang waren, und er ist erst mit Tagesanbruch erwacht, als schon die Hähne krähten.
Da hat er bemerkt, daß alle anderen teils schliefen, teils fortgegangen waren. Nur Agathon, Aristophanes und Sokrates waren noch wach und hielten aus einer großen Schale nach rechts herum noch einen Umtrunk.
Sokrates hat mit den beiden andern noch ein Gespräch geführt. Der übrige Inhalt desselben ist Aristodemos nicht mehr gegenwärtig, denn er hat den Anfang nicht gehört und ist auch zwischendurch wieder eingenickt. In der Hauptsache sei es darauf hinausgelaufen, daß Sokrates im Gespräch beide einzuräumen gezwungen hat, es sei Sache eines und desselben Künstlers, des Komödien- wie des Tragödienschreibens kundig zu sein. Der kunstgerechte Tragödiendichter müsse auch zugleich Komödiendichter sein.
Während Sokrates beide Gesprächspartner nun dies einzuräumen nötigte, und da sie ihm dabei nicht ganz zu folgen vermochten, sind sie eingenickt. Und zwar zuerst Aristophanes, dann aber, als es schon heller Tag war, auch Agathon.
Sokrates aber ist, nachdem er sie so in den Schlaf geredet hatte, aufgestanden und fortgegangen. Dann hat er sich in das Lykeion begeben und ist dort, nachdem er ein Bad genommen hatte, ganz wie sonst den ganzen Tag geblieben. Er ist erst nach einem so verbrachten Tag zu Frau und Kind nach Hause und zur Ruhe gegangen.
Platon, „Symposion“ (Schluss)
(Bearbeitet nach der Übersetzung aus dem Griechischen von Franz Susemihl, Stuttgart 1855 – Wikipedia)
Griechische Lektüre I: Platons Liebesgedichte (Nr.23)
Vgl. Auch Nr.310, den Nachtrag zum Phaidros Nr.22