26 Begegnung mit der Antike (IV)
Römischer Alltag
Im Rom der Antike hatte man kein Fernsehen, kein Radio, keine Massenkonzerte, meist auch keine Bücher – für den Mann auf der Straße waren die Papyrusrollen zu teuer und er konnte nicht lesen. Die römische “Informationsgesellschaft” übermittelte ihre Nachrichten mündlich. Etwa im Bad. Jeden Tag ging der begüterte Römer nach getaner Arbeit ( etwa nach 14h) in eine der vielen großzügig angelegten und streng nach Frauen und Männern getrennten Thermen der Stadt. Dort blieb man längere Zeit bei Sport und Spiel, Klatsch und Tratsch. Dann ging man nach Hause zum längeren Abendessen.
Höhepunkte waren gelegentliche Gastmähler (“Gelage”, man lag nämlich statt zu sitzen) mit Freunden, bei denen auch Kunst-Reden und poetische Rezitationen vorgetragen wurden. Es gab Table-Dance und Musik, Erotik mit klug-gebildeten Edel-Prostituierten, auf die man stolz war, dass sie einen besuchten (Hetären), und all dies trotz der weiblichen “Hauptbeziehung” im Hinterhaus und den Lieblingssklaven beiderlei Geschlechts.
Ich denke man muss sich die antike Welt trotz aller Film-Bilder, die uns in den Kopf gesetzt worden sind, eher vorstellen wie heutzutage ein islamistischer Staat. In juristischen Angelegenheiten vergleichbar auch mit der Brutalität der Scharia (Handabhacken bei Diebstahl, Steinigung bei Ehebruch der Frau, vom Felsen stürzen etc.) und wohl in Rom noch eine deutliche Stufe häufiger und schärfer. Antonius, der neue Machthaber nach Caesars Tod, ließ Ciceros Haupt und rechte Hand nach dessen Ermordung öffentlich in Rom ausstellen. Peitschenhiebe waren allgegenwärtig, Auspeitschungen selbst der Hausbediensteten und andere Grausamkeiten waren ohne Gerichtsprozess oder Eingreifen einer Polizei erlaubt. Das für die Weltgeschichte und Weltkultur so wichtige in Rom entwickelte Rechtssystem fand seine Anwendung nur in der Oberschicht für die wenigen Bürger mit “Bürgerrecht”.
Den Tod hatte man permanent vor Augen, war quasi an ihn gewöhnt. Mit einem fast immer währenden Krieg innerhalb und außerhalb der Landesgrenzen war man gleichsam aufgewachsen. Lebenserwartung der Männer um die 30 Jahre. Man lebte in einem Militärstaat, meist auch in einer Diktatur, militärische “Tugenden” waren wichtige Erziehungsziele. Ringen, Speerwerfen, Laufen waren die Hauptsportarten der Jugend schon in Griechenland und bei kriegerischen Auseinandersetzungen bedeutend nützlicher als – sagen wir einmal wie heutzutage Golf oder Tennis. Bodybuilding war angesagt – mens sana in corpore sano (ein gesunder Geist in einem gesunden Körper), auch wenn der Geist schon zu Juvenals Zeiten meist dabei zu kurz kam. Man machte in den öffentlichen “Spielen” oder Hinrichtungen mit den grausamsten Verstümmelungen und Tötungsarten Bekanntschaft. Die Seele hatte man ebenso wie den Körper schon seit frühester Jugend hart, stählern und unsensibel machen müssen, mit Erfolg. Selbstmord (die Pulsadern aufschneiden) war eine allgemein bewunderte Heldentat.
In Sparta, das lange Zeit Vorbild für die griechischen Stadtstaaten war, dauerte der militärische Drill bis zum 30.Lebensjahr. Die Männer mussten permanent in Kasernen und Kleingruppen zusammen leben. Zu ihren Frauen durften sie nur dann und wann. Die ganze Hauptstadt soll ein riesiges Männer dominiertes Heerlager gewesen sein. Das bemerkten sogar benachbarte Zeitgenossen mit einer gewissen ambivalenten Bewunderung. Platon gehörte auch dazu. Denn Sparta war lange Zeit militärisch erfolgreicher, auch wenn die Kultur des Landes auf unterstem Niveau verkümmerte. Aber wen kümmert schon in Zeiten des Krieges Kultur? – Das ganze Altertum war eine einzige Zeit des Kämpfens, bis ein neuer jüdischer Prophet auftrat und seinen Jüngern das gewiss Unglaubliche empfahl: Liebet eure Feinde! Was für eine unverständliche und absurde Forderung!
Ideen von Liebe und Zärtlichkeit oder Anleitungen dazu waren selbst in der Literatur oder bei den Intellektuellen deutlich in der Minderzahl. Auch Ovids Liebesgedichte enthalten einen Liebesbegriff, der nicht unserem heutigen entspricht. Das brünstige Zwitschern der Männer wollte selbst bei Catull immer nur das Eine. Wir verbinden mit bestimmten Worten von Zärtlichkeit und Liebe heutzutage ganz andere Konnotationen als die Menschen damals.
Auch Nachwuchs stellte sich in den oberen Schichten der Gesellschaft nicht mehr oder nur noch schwer ein. Cicero ließ sich von seiner ersten Frau scheiden (die Oberschicht-Frauen waren in einem solchen Fall sehr gut abgesichert), mit der er einen Sohn hatte, und nahm sich als 60jähriger ein 15jähriges Mädchen für kurze Zeit noch zur Frau. Über diese Verbindung hat sich Cicero in seinen Atticus-Briefen sehr vorsichtig und auch skeptisch geäußert. Sein Sohn Marcus hat die Verfolgungen nach dem Caesar-Attentat als einziger überlebt, während sein Vater auf der Flucht getötet worden ist. – In Ciceros Umkreis zu nennen wäre auch Tiro, sein (gebildeter) Lieblingssklave und Sekretär, würde man heute sagen, dem er alle seine Briefe und Bücher diktiert hat, bevor sie auf Papyrus “gedruckt” worden sind. Die meisten Schriftsteller der Zeit haben nicht geschrieben, sondern diktiert.
Die Kleidung in Rom muss man sich ähnlich wie gegenwärtig in Arabien oder in den katholischen Gottesdiensten mit lang wallenden Gewändern vorstellen. Wegen der südlichen Hitze waren auch die Häuser in der Stadt als schattiger Schutz gebaut. Die Frauen lebten in abgezirkelten Bereichen mit ihren Kindern und Bediensteten. Das öffentliche Leben spielte sich ganz ohne Frauen ab und war reine Männersache. Sogar in den sich nach und nach entwickelnden und mit erst zwei, dann auf mehrere Personen sich erweiternden Theaterstücken wurden Frauenrollen nur von Männern gespielt mit Masken (lateinisch persona). Selbst das Christentum hat diese Frauenrollen lange Zeit übernommen: “Mulier tacet in ecclesia“, die Frau schweigt in der Kirche (sogar beim Chorsingen), heißt es noch bis in die Neuzeit hinein.
Die großzügigen Villen der Reichen auf dem Land sind mittlerweile in Gallia cis- und transalpina, also auch hierzulande, nachgebaut worden und sie stellen mit ihren Heizungsanlagen, Bädern, Kunstwerken und Gärten ein gutes, ja fast schon vorbildliches Beispiel für Architektur dar.
Sport war ein wichtiger Faktor der Unterhaltung, auch der Politik. Es gab den Circus Maximus mit seinen großen Wagenrennen und den meist vier gegnerischen Parteien, die auch politische Auswirkungen hatten. Das Colosseum in Rom fasste 300.000 Zuschauer. Der Eintritt wurde gelegentlich vom Kaiser als Geschenk an sein Volk nach einem gewonnenen Krieg gespendet. Ebenso auch Getreiderationen, die bis heute noch, die harten Körner in Milch und Honig über Nacht eingeweicht, ein schmackhaftes Frühstück in Ägypten ausmachen.
Schwerverbrecher, die zum Tode verurteilt waren, wurden im Colosseum vor aller Augen von wilden Tieren zerfleischt, die man hat hungern lassen, um zu seinem Ziel zu gelangen. Es gab Gladiatorenspiele mit gut ausgebildeten Profis und Superstars und sogar Kämpfe per Schiff – das Colosseum konnte für diese Zwecke unter Wasser gesetzt werden. Am Himmel gab es ein riesiges aufrollbares Zeltdach gegen die Sonnenhitze.
Seltsam genug und ebenfalls ganz ausgestorben heutzutage waren Rede-Wettbewerbe (“Konzert-Reden”), wie überhaupt der Redner (Orator) und sein Auftritt vor Gericht, in der Volksversammlung oder zur Unterhaltung der Massen ein hohes Ansehen hatte. Rhetorik war ein bis ins Mittelalter hinein gepflegtes wichtiges Hauptfach in der Schulausbildung. Bis heute ist nicht klar, ob diese Reden nicht eher im Sprechgesang vorgetragen worden sind.
Nach dem Entstehen einer Diskurs-Rationaliät in Griechenland, hier insbesondere in Athen, scheint die Weiterentwicklung der Intellektualität allgemein einen hohen Stellenwert besessen zu haben. In spielerischer Form musste zum Beispiel ein Profi-Redner Open Air und vor einer großen Menge Isosthenien entwickeln und zu überzeugen versuchen, warum z.B. die Maus nützlicher als ein Hund, eine Glatze schöner als üppiger Haarwuchs sei und dgl.mehr.
Ähnliches, obgleich auf einer anderen Ebene, spielt sich auch in Platons Phaidros ab. Bewiesen wird, dass man nur mit einem Nichtverliebten Sex haben (“sich hingeben”) soll. Aber auch das Gegenteil wird als sinnvoll bewiesen, und Sokrates bemerkt:
“Alles, was ich zu Ungunsten des Verliebten vorgebracht habe, lässt sich nun umgekehrt zugunsten des Nicht-Verliebten verwenden. So sei über beide genug gesagt”.
Alles soll und kann scheinbar überzeugend bewiesen werden, und je überzeugender selbst das Unglaublichste und Aberwitzigste dargelegt wird, umso besser und erfolgreicher für den Redner.
Dass bei den Zeitgenossen durch solche “Redeschlingen” eine “greuliche Verwüstung im Kopf entstehen musste”, so der antike Schriftsteller Lukian, und dass man nicht mehr wahr und falsch zu unterscheiden wusste, versteht sich von selbst. Es gab sogar innerhalb der stoischen Schule, die sich ganz besonders und auch ganz besonders dogmatisch mit der Rhetorik befasste, Sprachspiele (rhetorische “Fallen”) und eine glänzende Rabulistik, die sich in Gerichtsprozessen bis auf den heutigen Tag gehalten hat. Es traten auch sogenannte Peisithanatoi auf, Menschen, die zum Selbstmord überredeten – gegen ein üppiges Honorar natürlich.
Zuflucht suchte und fand man angesichts einer derartigen Desorientierung und intellektuellen Konfusion in den orientalischen Religionen mit ihren geheimnisvollen Mysterien-Kulten, den ausgelassenen Festen (Bacchanalien) und traditionellen Opfer-Feiern. Auch die Theaterfestivals, Sport-Olympia und alle anderen Massenveranstaltungen waren zuallererst religiöse Opfer-und Kult-Feste. Dann erst Belustigung und Ablenkung für die Massen.
Dennoch ist mir die forcierte Begeisterung für sprachliche Dialektik, für das gesprochene und gehörte Wort immer noch sympathischer als das Gegenteil, die Sprachlosigkeit. Man glaubte trotz aller intellektuellen Kunstfertigkeit und Sophistik, trotz aller Verwirrung und Vielfalt der Schulen und Wahrheiten an den Geist, an das Denken, an die Findung von Wahrheit mittels Argumentation, Widerstreit und Einigung (“Einsicht” heißt es immer wieder bei Platon).
Philosophie war das angesehenste Fach überhaupt. Die Frage nach dem guten Leben in einem gerechten Staat, um glücklich zu werden, schien neben der imperialen Eroberungspolitik im öffentlichen Diskurs das Wichtigste bei weitem. Selbst der Ober-Krieger Caesar wollte mithalten und schrieb Bücher nicht nur über seine Kriege in Gallien, sondern sogar über sprachphilosophische Probleme in einer Kontroverse mit Cicero.
Doch Philosophen konnten auch zu Staatsfeinden werden. Gelegentlich wurden sie sogar des Landes verwiesen oder man wollte sie mittels Umarmungstaktik an sich binden, etwa als Erzieher der Kinder. Seneca war der Lehrer des späteren Kaisers Nero und Aristoteles wirkte einige Jahre als Paedagogus von Alexander dem Großen am Hofe Philipps von Makedonien. Auch richtige Philosophen-Kaiser hat es gegeben.
Lesenswert sind bis heute die Selbstbetrachtungen des Kaisers Marc Aurel (stoische Schule) oder auch die Briefe von Kaiser Julian Apostata, der als letzter der Mächtigen des römischen Reiches die Übermacht der Christianer (er nannte sie “Galiläer”), die keine Rebellen mehr sein mussten (Nero hatte sie noch massenweise ans Kreuz schlagen lassen) mit friedlichen Mitteln zurückdrängen und die alten griechisch-römischen Götter noch einmal einsetzen wollte – vergeblich. Ein Orakel war ihm 360 gestellt worden, eine Botschaft aus dem bereits sterbenden Olymp:
“Lass es, Julian! Das schön gefügte Haus ist gefallen, die Zuflucht Apollons dahin, der heilige Lorbeer verwelkt. Der Seherin Stimme verstummt, die Quellen schweigen für immer”. – Die Götter sind im Exil.