287 Vorwort „On Seduction“(2)
Lieber Andrew Walsh,
Hier ist das Vorwort zu unserem jetzt fertig gestellten zweiten Band „On Seduction“. Mit der Bitte um Übersetzung. Schreibe auch wieder ein Nachwort zum ganzen Buch. Es wird 15 Kapitel haben.
Folgende Reihenfolge der Aufsätze schlage ich vor:
Index
Preface
1 On Encountering Antiquity I
2 On Encountering Antiquity II
3 On Encountering Antiquity III
4 On Encountering Antiquity IV
5 On Living in the Roman Society
6 On Jacques Derrida and something in Trochtelfingen /
7 On Logocentrism
8 Achim Kubinski
9 On Thinking (Interview with Jean François Lyotard)
10 On Truth and Science
11 On Love and Desire (Interview)
12 Plato‘s Phaidros
13 Greek Reading: Phaidros
14 Satyricon
15 On Happiness (Interview)
Afterword of the Translator
„On Encountering Antiquity“ oder „Encounter with Antiquity“ – was findest du besser? Es macht schon einen Unterschied!
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Vorwort
In einer Bibliothek ist mir vor vielen Jahren ein Cicero-Band in die Hände gefallen, die „Briefe an Atticus“[1]. Ich blätterte darin herum, neugierig geworden von etlichen Passagen, die so gar nicht meinem seit der Schulzeit gebildeten Vorurteil von den ach so langweiligen Lateinern entsprach. Ich entdeckte dort einen sehr menschlichen, sehr lebendigen, interessanten Zeitgenossen mit Vornamen Marcus Tullius, der sich in diesem Buch aufrichtig, detailliert und universal gebildet mit seinem besten Freund über tagespolitische, weltanschauliche und private Themen austauschte.
Das war nun wirklich keine starre und über die Zeiten erhabene Marmor-Büste mehr, die mich da von oben herab anschaute.
Von Ciceros Werken ausgehend tastete ich mich langsam in Richtung der weiteren römischen Literatur vor, zuerst zu den Lyrikern Catull und Juvenal, dann zu Horaz und dem Literatenkreis um Maecenas und Augustus. Ich entdeckte in den römischen Werken Verwandtschaften im Zustand der damaligen und gegenwärtigen Zeit, um nicht zu sagen auch der Gesellschaftsformen. Sogar der „dekadenten Abarten“, wie man es so schön auch heute wieder und vor allem in den USA beklagt.
Jedenfalls war mir die römische Antike lange nicht mehr so fremd, wie ich geglaubt hatte – im Gegenteil. Imperialismus, Machtstreben, Unterdrückung und Ausbeutung armer Völker, Multi-Kulti, Orientierungslosigkeit, Luxus und “Alles geht”. Ich verstand jetzt plötzlich auch den so heftig geführten Streit über den “Untergang des amerikanischen Imperiums“ und das teuer erkaufte und so problematische „Wohlleben“ in Antike wie Gegenwart.
Systematisch durchforstete ich nun die ganze römische Literatur, um nur einige Werke zu nennen. Von den Briefen Ciceros, Plutarchs oder Plinius‘ über die zeitgenössische Lyrik, den Roman (Petronius), die Geschichtsschreibung (Tacitus, Sueton) kam ich schließlich auch, ob ich wollte oder nicht, zu den philosophischen Schulen. Sie spielten als Lebensform wie weltanschaulich-moralische Instanz eine überaus wichtige und heute noch weitgehend unterschätzte Rolle im zeitgenössischen Leben der Römer und Griechen. Auch unsere Gegenwart ist immer noch – ebenso wie die christliche, jüdische oder islamische Religion – weitgehend von den intellektuellen Auseinandersetzungen in der damaligen Zeit geprägt.
Im vorliegenden Buch geht es also wesentlich um antikes Denken, das mich bis in die unmittelbare Gegenwart hinein immer wieder beschäftigt.
Umgekehrt beschäftige ich mich aber ebenso sehr auch mit der Gegenwartsphilosophie. Postmoderne wird dieses Denken nicht nur in den USA immer noch als Ausdruck und Begriff zur Bezeichnung einer Änderung, eines Wechsels der Zeit, ja sogar des Zeitalters genannt. Unter dem Einfluss der Postmoderne hat eine weltumfassende Relativierung und Kritik des abendländischen Denkens, der Kommunikation, von Moral und Lebensziel, Lebenssinn eingesetzt.
Wohingegen und andererseits eben dieser Begriff der „Postmoderne“ in Europa und hier insbesondere in Großbritannien und Deutschland eher nur noch negativ verstanden und auch abgelehnt wird. Stattdessen redet Jürgen Habermas von der „Aufklärung über die Aufklärung“, andere von einer „ Revision der Moderne“ etc.
Tatsächlich hängen die gegenwärtigen Verwirrungen und Konfusionen im Denken mit den französischen Philosophen zusammen, welche die Vordenker dieser Entwicklung und Auflösungs-Erscheinung waren. Ihre Zersetzungs-Manöver, was das sozialistische und kapitalistische Wirtschaftssystem und Weltbild betrifft, sowie ihre allgemeinen und alles umfassenden Relativierungen (Alles geht), die argumentativ in direkter Nachbarschaft zu den antiken Skeptikern stehen, kommen auch noch in einem faszinierend ästhetischen oder sogar theatralischen Event-und Performance-Gewand daher, etwa bei Derrida. Letztlich wieder also eine Ästhetisierung von Denken und Sprechen, wofür unsere französischen Nachbarn immer bereits eine große Schwäche besaßen. Ich nenne nur Namen wie Voltaire, de Sade, Rousseau, Camus, Sartre, Baudrillard…
Nicht zuletzt hat aber auch der Linguistic Turn der anglo-amerikanischen analytischen Schule, die eine überaus einflussreiche wissenschaftstheoretische Richtung in der Nachfolge Ludwig Wittgensteins war, sich selbst ein Grab geschaffen. Die analytische Philosophie, auch Philosophy of Science genannt, mag zwar im Bereich der Wissenschaftstheorie eine plausible „wertneutrale“ und effektive Philosophie der Naturwissenschaften und der Informationstheorie sein. Also eine Philosophie des Rechnens und Messens, der Digitalisierung und Sprache der Computer und Roboter untereinander. Wobei wir Menschen vielleicht letztlich ebenso sehr zu Robotern werden müssen, wenn dieses Denken bereits als einzig wahr und selbstverständlich angesehen wird. Und wir sogar bereit sind, Begriffe wie Humanismus, Menschlichkeit oder Verantwortung dem Menschen wie der Natur gegenüber im Namen dieses neu so benannten „Trans-Humanismus“ ganz aufzugeben.
Aber einflussreich ist die Analytische Philosophie, die als Theorie und Praxis sogar weite soziale und politische Bereiche wie Werbung, Manipulation, Steuerungstechnik nicht nur der Maschinen, sondern ganzer Gesellschaften tangiert – einflussreich ist sie weder in den universitären Zirkeln noch in der Politik. Man hat sich außerdem so gegen jede Kritik außerhalb des eigenen Sprachspiels (Diskurses), ja sogar außerhalb der ökonomistischen Dogmatik immunisiert, dass sich m.E. auch ein Einflussnehmen-Wollen, wie es die deutschen Philosophen der Frankfurter Schule versuchten, indem sie mit Horkheimer, Marcuse, Habermas und Apel in die Höhle dieser Löwen einzudringen versuchten, gar nicht mehr möglich ist, sich gar nicht mehr lohnt.
Doch wo stehen wir jetzt, am Ende des humanistischen Denkens, am Ende vielleicht sogar der aristotelischen Logik und Argumentation? Stichwort „VerTrumpung“ von Sprache und Denken mit seinen „ Alternativen Wahrheiten“. Wo nur noch Nietzsches Wille zur Macht, das ist zum „kreativen“ ökonomistischen Gestalten, wenn nicht sogar Ausplündern, überlebt hat im Reich der Philosophie? – Wo überall und lärmend von der Herrschaft der Künstlichen Intelligenz(KI) geredet wird, die ein Philosophieren überflüssig werden lässt? Dies sogar als ein notwendiger Schritt der Evolution zur Überwindung und Abschaffung der traditionellen Vorstellung vom Menschen angepriesen wird? Vielleicht sogar des Menschen als eines freien und selbst bestimmten Tieres?
Wohin geht dieser Weg des abendländischen Denkens, in welche neue Zukunft?
Die Antike hat in ihren heterogenen weltanschaulichen Schulen mehrere ganz unterschiedliche Vorschläge über die Notwendigkeit des philosophischen Denkens und einer verallgemeinerbaren Lebenstechnik gemacht, die immer noch bedenkenswert sind, wenn man das Denken in Begriffen der allgemeinen Philosophie noch nicht ganz vergessen, verdrängt oder abgeschafft hat.
Ohne Wahrheit gibt es die Lüge nicht. Also muss es auch metasprachlich eine überzeitliche Vorstellung von Wahrheit, Gerechtigkeit, auch von Schönheit geben. Und die Idee von Menschlichkeit, von Humanität und Hilfe wird ebenso notwendig weiter existieren müssen, wenn wir nicht zu Sklaven von neuen, „trans-humanen“, das heißt auch wieder übernatürlichen Mächten werden wollen.
Lübeck, 4.7. 2018
1 Cicero, Atticus-Briefe, Heimeran München 1980
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Aufsätze im Blog zum Thema Antike und antikes Leben (Archiv):
Begegnung mit der Antike I – VI (im deutschen Blog die Nummern 13, 14, 15, 26, 27, neu 288; als Übersetzungen im englischsprachigen Blog die Nummern 17, 18, 19, 30, 31)
Philosophische Schulen im alten Rom: Lukian 1 Einführung (149), 2 Kyniker (151), 3 Hedonismus (152), 4 Platon, Sokrates (153), 5 Aristoteles (199), 6 Skepsis (242), 7 Demokrit und Heraklit (243) – es fehlt noch die Stoa
Römische Lektüre: Satyricon (25), Caesar und Cicero (32), Catull 1-9 (die Nummern 71, 72, 73, 75, 76, 77, 79, 80, 179), Martial (114, 113), Juvenal (126, 125, 256), Germanicus (129), Caesar (131), Augustus (271)
Tacitus (158, 160)
Seneca und Nero (161), Senecas Tod (162) Der große Brand Roms (163) Vom Töten (164)
Horaz 1-7 (224, 225, 226, 227, 229, 230, 272)
Sextus Emprikus (236, 237, 267)
Seneca (261, 263)
Griechische Lektüre: Platons Phaidros (22, 23, auch in Englisch), Platons Symposion (180, auch in Englisch), Platons Themen (198), Platon und Alkibiades (283)