288 Begegnung mit der Antike VI (und Abschluss)
Warum ich ein Römer bin
Flaubert spricht an einer Stelle von der „existenziellen Not und Schwermut der antiken römischen Welt“ und dass sie nie wieder in dieser Stärke und Intensität erreicht worden sei. Ich füge hinzu: Weil Abertausende von jungen Männern immer wieder in blutigen Schlachten Mann gegen Mann ihr Leben lassen mussten, die geistige Welt, zerbrochen in zahlreiche Schulen, sich bekämpfte und der Himmel war leer. Ich denke, dass wir uns in einem ebensolchen Zustand befinden. Es braucht dazu: Wohlleben und Luxus, Gewaltherrschaft (Waffen, aggressive Kommunikationsformen, Militär); weltanschauliche Desorientierung, Gottlosigkeit; Ablenkung und Massensteuerung.
Jeder Mensch auf der Welt kann dergestalt ein moderner Römer sein.
Meine Betrachtung der Geschichte erfolgt meist von Unten: aus der Sicht nicht nur der Mächtigen, sondern auch der Ohnmächtigen. Auch aus der Sicht von Sprachmächtigen heraus. Jedoch in einer Zeit, wo diese meine und unsere Sprache fast schon ohnmächtig geworden sind. Die Sprache der Intellektuellen, Philosophen, Politiker – sie tut nichts mehr zur Sache. Die „Sachen“ haben sich verselbständigt, ja wir sind bereits Opfer dieser Dinge, Maschinen oder Objekte geworden und können sie fast nicht mehr beherrschen.
Meine ganze Blogarbeit lebt von dieser Überzeugung. Zahlen und automatisierte Berechnungen steuern fast ganz unser Wohlverhalten, unsere Kommunikation ebenso wie zweifelhafte Wahrheiten oder Prognosen. Sie bringen nicht zuletzt unsere mühsam erworbene Werte-Übereinstimmung und Kommunikationsfähigkeit erheblich ins Wanken und aus dem Gleichgewicht.
Das Denken, Lesen, Schreiben und Sprechen wird trotz einer umfassenden „Wikipedisierung“ immer reduzierter, floskelhafter, auch und gerade in den politischen Parlamenten der zur Mitbestimmung aufgerufenen Menschen und Völker. Die Sprache wird machtlos. Ich rede deshalb gern von einer Verkümmerung, wenn nicht sogar von einer Verkrüppelung dieser menschlichen Fähigkeit, vielleicht sogar des ganzen Menschen. Ich habe oft genug darüber geschrieben. Nur noch die Lust bleibt. Denn sie sucht Ewigkeit, tiefe tiefe Ewigkeit (Nietzsche). Selbst bei Putin und Trump.
„Satyricon“, die satirisch-überspitzte Zeitschilderung von Titus Petronius aus dem römischen Reich des ersten Jahrhunderts nach Christus, wird immer wieder und weiterhin im Blog gerne angeklickt (Nr.25). Vielleicht wird damit gewünscht, dass ich etwas zu dieser meiner These und Interpretation sage und weitere Erläuterungen hinzu füge.
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Wir sind im Zeitalter Neros, nur wenige Jahre entfernt von seinem Sturz und auch dem erzwungenen Selbstmord des Satyricon-Schreibers, einem Minister „für guten Geschmack“ in Neros Kabinett. Obwohl ein einflussreicher Intellektueller am Hof des Kaisers, wird dieser ebenso wie Seneca sein Leben bald mit Freitod beenden müssen auf Befehl Neros.
Vier Aspekte will ich in diesem Zeitalter heraus stellen, die dominierend waren und auch heute m.E. noch dominierend sind. Sie treffen und überschneiden sich jeweils mit den bereits zu Beginn vorgestellten Begriffen:
a)den Aspekt der Intellektualität
b) den Aspekt der Aggressivität
c) den der Sexualität (Lustorientierung) und
d) den der geistigen Desorientierung.
Alle diese vier Punkte sind in der Gegenwart ebenso wirksam geblieben oder wieder vorzufinden wie auch in der Vergangenheit. Denn sie sind mit dem Mensch-Sein fest, ja sogar strukturell fest verbunden. Abstrakt und überzeitlich, wie sie sind, bilden sie außerdem leicht Isosthenien: Je nach Kultur und Kontext können sie gleichermaßen positiv wie negativ, gut wie schlecht sein. Sie können und haben zu großem Glück wie Unglück beigetragen. Das heißt sie können außerdem so leicht nicht aus unserem Leben entfernt werden. Auch nicht, im Sinne Freuds gesprochen, mit einer Bewusstmachung durch Sprache wie eben jetzt und mit diesem meinem Versuch.
I Intellektualität
Es lässt sich am Beispiel Caesars und fast aller seiner Nachfolger leicht feststellen, dass es für eine öffentliche Person im antiken Rom absolut notwendig war, ein an der Tradition geschulter Intellektueller zu sein. Die Intellektualität hatte eine überwältigende Bedeutung. Sie war wichtiger als Reichtum, Einfluss und Macht oder ein langer Stammbaum im Sinne von Aristokratie.
Öffentlich, das heißt im Senat der Oberschicht, sprechen und diskutieren zu können, war eine Bedingung sine qua non. Am besten sogar ausgebildet als Jurist in allgemein zugänglichen Prozessen. Diese zogen die größte Aufmerksamkeit der Bevölkerung auf sich. Denn die Weiterentwicklung der Gesetzgebung, auf die man zu Recht besonders stolz war, und das Durchsetzen eben dieser Gesetze weltweit im großen Imperium durch Gerichte und die Staatsgewalt nur garantierten den Bestand und das Überleben des großen römischen Reiches.
Eine solch wichtige Person in der Öffentlichkeit zu sein bedeutete, zur Oberschicht und damit zur herrschenden Klasse zu gehören. Ich bin einer der wenigen römischen Bürger mit Bürgerrecht, bin kein Sklave, kein Ausländer, Migrant oder Zugewanderter; auch kein Freigelassener.
Das bedeutet: Nur eine kleine Anzahl von Menschen der Oberschicht sind im politischen Diskurs der Mitbestimmung angesprochen. In einer geschätzten Einwohnerzahl von einer Million Menschen in der Stadt Rom um 100 n. Chr. gab es schätzungsweise nur 30 000 wirkliche Römer. Nur diese kleine aristokratische Schicht hatte auch ein Anrecht auf juristischen Schutz vor Gericht, dem als letzte Instanz und bei schweren Verbrechen der Kaiser persönlich vorstand. Schwere Verbrechen waren Frevel gegen die Götter, Ehebruch und Umsturzversuch. Diebstahl wurde ebenso streng geahndet wie Mord und Totschlag. Gefängnisse gab es wenige. Meist wurde kurzer Prozess gemacht, zumal die Sklaven der willkürlichen heimischen Gerichtsbarkeit ihres Patrons unterstellt waren. Über Sklaven im Haushalt konnnte frei und willkürlich verfügt werden bis hin zur grausamen Bestrafung mit Auspeitschung, Folter oder Tod. Caesar als Konsul wurde im Senat vorgehalten, er habe einen (Lieblings-)Sklaven aus Eifersucht hinrichten lassen.
Die oberste Instanz war der Kaiser; der Senat unter Caligula hatte bis zu tausend Mitglieder und allesamt nur Männer. Man mag sich in vieler Hinsicht tatsächlich ein arabisches Emirat vorstellen. Dieser Senat hatte jedoch nur eine beratende Funktion.
Dennoch spielten sich im Parlament heftige Debatten auch intellektueller Art ab, über Gesetze etwa zur Leitung des Staates, die von Schreibern mit geschrieben und veröffentlicht wurden. Thema: Ein Staat der Republik, der Monarchie, der Diktatur soll gebildet werden wie und von wem? Die Staatsform der Demokratie war immer nur vorübergehend akzeptiert. Für diese Diskussionen in aller Öffentlichkeit musste man am besten zweisprachig gebildet und informiert sein, selbst weit zurück liegende Werke der griechischen Vergangenheit kennen, lesen und verstehen und diskutieren können. Caesar antwortete im Senat, historisch versiert, als seine Gegner ihm vorwarfen, er sei eine Frau (und damit auf seine Zeit als Mundschenk und puer delicatus des bithynischen Königs Nikomedes anspielten, heute Türkei): In der Vergangenheit habe es bereits mit den Herrscherinnen Penthesilea und Semiramis sehr starke und erfolgreiche Frauen als Staatslenkerinnen gegeben. – Also man musste ein universal gebildeter Intellektueller sein.
Auch geistige Kreativität gehörte mit dazu: Gern gesehen waren Staatsmänner als Reden-Schreiber, Theater-Schreiber (Tragödien im alten griechischen Stil), sogar als Lyriker. Ähnlich wie heute vielleicht nur noch in Frankreich. Ungern gesehen waren Politiker als Schauspieler, Musiker oder gar Sportler und Kämpfer in der Arena wie Nero. Caesar war ein richtiger Literat: Er schrieb Berichte über seine Feldzüge, diskutierte sprachphilosophische Probleme mit Cicero(„Über Analogie“) und war in vieler Hinsicht auch ein Schöngeist. Auf seinen Feldzügen musste immer ein ganz besonderer MosaikTeppich in seinem Lager und Zelt mitgeführt werden. Über seinen Spanienfeldzug, auf dem ihn der 17jährige Oktavian/Augustus auch als puer delicatus begleitete, hat er sogar ein langes Gedicht verfasst.
Wohingegen sein späterer Adoptivsohn nur einige wenige Zeilen zustande brachte (und sich vielleicht deshalb so eng an den Literatenkreis um seinen reichen Busenfreund Maecenas anschloss). Besonders literarisch berühmt wurde der Kaiser Marc Aurel, dessen philosophische Betrachtungen, geschrieben im Feldherrenzelt zahlreicher Kriege, die stoische Philosophie weltberühmt machten und die bis auf den heutigen Tag diskussionswürdig sind.
II Militarismus
Die Militärgewalt durfte nie und zu keiner Zeit in der vorchristlichen Antike angezweifelt werden. Das Militär samt seinen Eigengesetzlichkeiten bezogen auf Autoritarismus, Sexualität oder Strafbarkeit in Frage zu stellen war ein Tabu. In der antiken Literatur wird nichts dergleichen überliefert, selbst nicht in den abstraktesten Abhandlungen der Philosophen. Stattdessen wurden die jungen Männer zu „Mut“, „Tapferkeit“ und Patriotismus als höchsten Werten erzogen.
Über den Militarismus in der alten Welt braucht nicht viel gesagt zu werden. Ohne Militarismus keine Sieger, keine Weltherrschaft. Bekannt ist jedenfalls bis in die Gegenwart hinein, dass Macht und Herrschaft immer nur sich auf die Gewalt der Gewehre stützen und gestützt haben (MaoTseTung). Auch in der Gegenwart sind Sieger immer nur gewalttätig: Sie haben das meiste Geld für die besseren Waffen, und sie brauchen sich vor der Macht der Worte, der Resolutionen, der Gesetze in keinster Weise zu fürchten.
Im Gegenteil: Gegenwärtig gibt es eine noch nie da gewesen Zersetzung der Sprache und des intellektuellen Diskurses in der Presse oder in politischen Institutionen wie etwa der UNO in Folge von Lügen, Falschmeldungen, Desinformationskampagnen und der gleichen, wie es sie noch nie zuvor in Friedenszeiten gegeben hat.
Auch am Ende des Mittelalters war der Geist „zersplittert“ und in Gegensätze zerfallen. Zum Beispiel der unter Intellektuellen bis auf den (Duell-)Tod erbittert ausgetragene Universalienstreit: Ob es Allgemeinbegriffe wirklich gibt und sie in der Realität existieren können (Universalia ante oder post rem). Aber das Fundament einer jeglichen geistigen Auseinandersetzung, das Argumentieren, logisches Denken und Wahrheitsanspruch, ist bei solchen Streitigkeiten doch nie aufgegeben worden. Während heute sogar jeglicher Wahrheitsanspruch sofort mit “alternativen Wahrheiten” in Frage gestellt und angezweifelt wird und nur noch die Macht des Geldes und der Waffen, also des Militärs, das (sprachlose) Sagen haben.
Man beachte nur die Kommunikations(un)fähigkeit von Trump und Putin. Beide stehen sich quasi wie antithetische Gegner gegenüber, beide sind gleichermaßen, was die Moral betrifft, schlecht im Umgang mit Wahrheit und gut in Sachen Lüge, Verbergen und Schein. Ihre Schnittmenge in diesen Bereichen ist groß. Moral, Menschenrechte, Argumentation und dgl. mehr – was haben solche Fremdwörter in Zeiten einer geistigen Pest, die blindwütig und all umfassend sich ausbreitet, ausbreiten darf, zu sagen? Worte bleiben unverständlich, machtlos, schwach; auch verkümmert, verkrüppelt, reduziert auf sich immer wiederholende Schlagworte, Twitterbotschaften oder Geheimdienstarbeiten im Hintergrund von behavioristischen Steuerungsmethoden.
Dennoch hat sich gleichwohl wieder eine neuzeitlich marxistische Betrachtung dieses von Nietzsche eher resignierend so benannten Willens zur Macht mit neuer Fragestellung eingeschlichen. Die Frage nämlich, auf was stützt sich diese Gewalt der Gewehre? Die immer noch gültige marxistische Antwort lautet: auf das Gewinnstreben der Kapitalisten. Noch mehr und noch bessere Waffen, umso mehr Geld und Gewinn.
Die Kehrseite der Medaille lautet gleichwohl, also die Isosthenie der Waffenherstellung (sie ist gut und schlecht gleichzeitig): Ein Übermaß an Waffen führt zu einem selbstmörderischen Wettrennen in den Untergang. Ein übervolles Waffenarsenal erzwingt quasi die Anwendung von Waffen, so eine Theorie in der Militär-Wissenschaft (auch das gibt es) und Friedensforschung. Also müssen neue und noch todsicherere Waffen gegen diese alten Waffen erfunden werden. Im Idealfall löschen sich dann beide Systeme aus, was aber nicht angestrebt werden kann nach zwei selbstmörderischen Weltkriegen.
III Lebensform
Der dritte wichtige Aspekt im Leben eines Römers mit Bürgerrecht war die Tatsache, dass im Bereich von Lust und Sexualität alles ging, wenn auch nicht öffentlich, z.B. mit den Sklaven, die nur Objekte, also Dinge waren. Sexualität war zwar offen und frei. Ehebruch war jedoch aus Gründen einer eifrig gepflegten Genealogie pro forma und per Gesetz zu allen Zeiten streng verboten; nur haben sich vor allem die Männer nicht daran gehalten, beispielsweise Caesar.
Vorherrschend war die männliche Triebbefriedigung, der Sex. Das heißt es herrschte in dieser Welt, die immer gewaltbereit, also hyper-emotionalisiert war, der reine Sexismus. Wobei in meinem Denken jede Art von Emotion beim Mann den Sexualtrieb evozieren kann mehr oder weniger stark, wie es die Natur gerade individuell und unterschiedlich vor gibt. Der „soldatische Charakter“ voller Aggression (was Sexismus m.E. geradezu einschließt) wurde permanent trainiert, das heißt auch anerzogen, konditioniert etwa durch brutale Zirkusspiele (1). Liebe und lebenslange Eheversprechen im heutigen christlich-fürsorglichen oder romantischen Sinn gab es nicht. Ehepaare wurden vom Oberhaupt der Familien zusammen geführt aus welchen Gründen auch immer und konnten auch leicht wieder auseinander gehen zurück ins elterliche Stammhaus.
Alles war möglich, wenn auch nicht immer akzeptiert (wie heute auch). Verliebung gab es nicht oder nur selten in der Antike. Zwar gibt es eine Poesie der Liebe unter den Schriftstellern der Zeit. Aber sie bleibt mit wenigen Ausnahmen, als Beispiel sei die Griechin Sappho genannt, immer nur eine Poesie des männlichen Begehrens und die Suche nach Sex. Selbst in Ovids “Ars amandi”. Männliche Liebesgedichte sind und waren immer nur bis auf den heutigen Tag verdeckte oder – höflicher formuliert – sublimierte, das heißt verhinderte Orgasmus-Entscheidungen. Entschuldigung.
Im 1.Jahrhundert nach Christus haben es die Herrscher und Kaiser ihrer Bevölkerung vorgemacht (wie heute auch): Caesar war jedermanns Frau und Mann (sangen sogar seine Soldaten in einem Triumphzugs-Lied); der siebzehnjährige Oktavian/ Augustus verkaufte sich im Spanien-Feldzug unter Caesar für viel Geld an Hirtius, einen hohen General und späteren Konsul des römischen Reiches.
Caligula trieb es angeblich mit einem Pferd (zumindest musste man es wie ihn als Gottheit anbeten); Nero heiratete einen Lustsklaven und ließ sich als Frau von einem anderen vergewaltigen, um den verhassten Hofstaat mit dieser künstlerischen „Performance“ zu schockieren; Tiberius trieb es auf seiner Lustinsel Capri mit Kindern und General Galba, der spätere Kaiser im Dreikaiserjahr, „küsste leidenschaftlich seinen Geliebten und erbat sich augenblicklich seine Gunst“, als er in Spanien die Nachricht von Neros Tod erhalten hatte (2). Ganz zu schweigen von Domitian, der sogar das Abbrennen von Geschlechtsteilen seiner Opfer als neue Foltermethode erfand.Alles dies nachzulesen bei den Geschichtsschreibern Tacitus und Sueton.
Warum Sexualität und das diskursive Schreiben über das Sexualverhalten gar bis auf den heutigen Tag schon in der Antike später dann tabuisiert worden ist und immer noch tabuisiert wird, ist eine bis heute offene Frage. Selbst die Geschichtsschreibung scheint die Bisexualität Caesars immer noch ausblenden zu wollen. Dabei war gerade diese Bisexualität, wenn man den ideologischen Begriff aus dem 20.Jahrhundert einmal anwenden will, das Natürliche in der römischen Bevölkerung mit Bürgerrecht. Familie und Kinder waren eher eine notwendige Last. Zumal man auf den langen Feldzügen bis zu zwei Jahre lang unterwegs sein musste. So auch Kaiser Augustus trotz seiner so hoch gelobten „Friedenszeit“.
Das Christentum mit seiner revolutionären Lehre der Feindesliebe und Zurückhaltung in Sachen Lust bis hin zur Askese war angesichts solcher Exzesse (Baudrillard würde von einer Extase des Sexismus sprechen) eine Notwendigkeit, die sich nach den Gesetzen der demografischen Evolution oder auch denen einer isosthenischen Logik hat entwickeln müssen.
Auch bei den Frauen der römischen Oberschicht, selbstbewusst wie sie oft waren und finanziell gut abgesichert in einer Großfamilie mit dem allmächtigen Pater familias als Oberhaupt an der Spitze, gab es Sexismus, auch lesbischer Art. Männliche Sklaven waren immer und zu allem verfügbar. Abtreibungen konnten leicht vorgenommen werden, auch das Aussetzen der Kinder an eigens dafür vorgesehenen Plätzen war möglich.
Wichtig war aber vor allem, dass Nachkommenschaft gezeugt wurde. Unsterblichkeit, eine beeindruckende Genealogie, also einen langen Stammbaum in der Tradition zu besitzen, der vielleicht wie bei Caesar auf die Göttin Venus zurück ging, das war das höchste Ziel eines Römers(3). Es war neben dem Wohlleben in Luxus und Lust höchster Lebenssinn. Doch immer weniger Kinder kamen auf die Welt. Nachkommenschaft ließ sich in der Oberschicht fast nur noch durch Adoption sicher stellen. Selbst Caesar hatte keine direkten Nachkommen ebenso wie sein Nachfolger Augustus. Es gibt unter Historikern einseitig wie auch immer gefilterte Theorien, die sich mit der verbreiteten Homosexualität beschäftigen.
Die Work-Live-Balance, wie man heute sagt, war gleichwohl in der Oberschicht vorbildlich, wie ich meine. Arbeit von der Morgendämmerung bis zur Mittagshitze, dann Liebe und Lust (die“Stunde des Pan“) oder längerer Aufenthalt in den Bädern täglich; anschließend gesellige Abendstunden mit Gastmählern (Gelage), Spiel und Kunst. Zum diesem gesunden Wohlleben mit einem gesunden Geist in einem gesunden Körper gehörte neben der anspruchsvollen zweisprachigen Erziehung und umfassenden Bildung selbst noch im späten Erwachsenenalter auch eine vorbildliche Körperertüchtigung mit täglichem Sport. Seneca hatte noch bis zu seinem erzwungenen Tod mit 64 Jahren einen täglichen Privat-Trainer, der als Sklave zum Haushalt gehörte.
IV Religion
In religiösen Dingen glaubte man ab einem bestimmten Zeitpunkt an nichts mehr. Pro forma akzeptierte man religiöse Vorschriften und Rituale. Aber ansonsten hieß es auch im damals überaus liberalen Rom der Zeitenwende: alles geht! Nicht nur in der Moral. Zumal man allen besiegten Völkern und Stämmen die eigene Religion und Kultur ließ und sie nicht zwang, die olympischen Götter zu akzeptieren. Diese sind zudem immer unglaubwürdiger geworden und die heimischen Schriftsteller, etwa Lukian, machten sich sogar darüber lustig.
Exotische und fremde Gottheiten waren da schon interessanter. Ägyptische Tier-Gottheiten etwa, der Mitras-Kult der Kelten, indische Derwische oder die neue, gerade Sklaven und Frauen ansprechende Friedens-Mission eines jüdischen Propheten fanden zahlreiche Anhänger, zumal die Götter im Olymp auch keine Vorbilder mehr waren und schließlich zu einer absterbenden Gattung geworden sind.
Man glaubte unter den Intellektuellen gerade nicht mehr an die Allmacht oder Unfehlbarkeit der Götter. Es gab zwar Rituale, Gottesdienste, Opfer. Man erledigte diese Aufgaben. Denn wehe, wenn man dagegen verstieß! Die Wut der einfachen Bevölkerung war einem sicher. Also schlüpfte man sogar aus Opportunitätsgründen in die Rolle der geistlichen Führer. Sogar Cicero war sich nicht zu schade, als gewählter Pontifex Maximus, heute sagt man Papst, aus dem Vogelflug oder den Innereien geschlachteter Tiere die Zukunft zu deuten.
Aber an den allgewaltigen Zeus glaubte niemand mehr(4). Man wusste auch nichts Genaues von einer Auferstehung oder Wiedergeburt. Selbst wenn verstorbene Kaiser bei einer unter Eid im Senat bezeugten Auferstehung vergöttlicht wurden. Nach dem Tod musste der Normalsterbliche in die Unterwelt und dort verlief sich alles im weiten Reich der Märchen und Mutmaßungen. Nichts Gewisses war gewiss. Aber man glaubte an das Weiterleben in Form von geistigen Schöpfungen (Kunstwerken, Büchern) oder in Form von Kindern. Deshalb war Nachkommenschaft unbedingt notwendig. Auch wegen dem Erbe, das weiterzugeben war.
V Gegenwart und Zukunft
Wie steht es nun mit unserer Zeit im Vergleich zur Antike? – Wie lässt sich diese Art von Weltanschauung und Wohlleben, auch dieses Liebes-und Lustleben mit unserer Gegenwart vergleichen?
Alle die oben genannten Phänomene und Exzesse haben sich bis auf das Thema Päderastie gehalten, durchgesetzt. Sie werden im Zeitalter des Liberalismus, wenn auch achselzuckend, akzeptiert, geduldet. Es muss ja nicht unbedingt ein Pferd sein, mit dem man es gerade treibt.
Selbst die Sklavenhalter-Mentalität hat bis in die Gegenwart hinein überlebt, etwa in Form von Kreditkarten-Frauen : Frauen(keine Prostituierten), die sich des Geldes wegen mit Männern wie auch immer einlassen und sich an sie binden. Oder auch von Kreditkarten-Männern, also manchmal auch ganz junge „Pueri delicati“, die auf die Kreditkarten ihrer weiblichen wie männlichen Gönner angewiesen sind. Ganz zu schweigen von “niederen Arbeitsverhältnissen”, für welche mittlerweile trotz aller Schwierigkeiten Arbeitnehmer aus aller Welt in großer Zahl angeworben werden müssen und gerne eingestellt werden.
Ich denke, auch heute gibt es immer noch virtuell und idealiter die unumschränkte Priorität der Familie. Ja sogar Großfamilien werden eingefordert, um die Last der Familie auf breitere Schultern wieder zu legen. Die Ein-Kind-Familie in der kleinen HochhausSiedlung ist am Ende, irgendwie auch unzumutbar. Wenn es keine sozialen oder familiären Hilfen gibt, beide Elternteile mühsam genug arbeiten müssen und der Aufwuchs vor allem auch später allein gelassen werden muss – wer nimmt es den jungen Leuten übel, wenn sie sich nicht mehr für eine Familie entscheiden können? Sogar das solipsistische DahinVegetieren vor neuen Apparaturen oder technischen wie menschlichen Automaten wird dabei in Kauf genommen.
Neben dieser Welt der Familie gibt es zudem noch – und publizistisch sehr unterstützt – die immer größer werdende Welt von Neben-oder Parallelbeziehungen, die eben das, was ein Familienleben nicht immer und gerade auch nicht so leicht zu leisten vermag, ganz egoistisch und gewinnbringend einzulösen verspricht: Abenteuer, Rausch, Extase, Betäubung und Abwechslung; das heißt Ablenkung von der augenscheinlichen Langeweile und Sinnlosigkeit des Alltags. Denn diese Sinnlosigkeit, die bei den Existenzialisten so deutlich wie nie zuvor ihre Fürsprecher gefunden hat, lässt sich vielleicht tatsächlich nur mit gezielten Ablenkungsmanövern und Betäubungsmitteln welcher Art auch immer ertragen. Ablenkung durch harte Arbeit, durch KinderErziehung (sic!), Ablenkung auch durch Vergnügen, sexuelle Lust (um nicht von Sucht zu sprechen), Spaß, Lebensfreude aller Art und wie auch immer.
Zwei antagonistische Tendenzen innerhalb dieser vielfältigen Lebensformen sehe ich in der Zukunft, um nicht von Isosthenien sprechen zu müssen. Ich denke einmal
(a) dass die Lebensformen der Zukunft immer mehr dominiert sein werden von verkümmerten, animalisch dahin vegetierenden und vereinzelten Menschen, die quasi auf einen Früh-Zustand der Menschheit regredieren. Dieser Zustand wird ganz in der Hand von sich selbst steuernden Apparaten liegen samt einiger weniger Demiurgen, welche die Programmierer oder sagen wir besser die Beherrscher dieser Maschinen sein werden. Es mag auch zu Zweckbündnissen Mensch-Maschine kommen, auch zu gleichwertigen Kooperationen. Künstliche Intelligenz wird dabei eine große Rolle spielen.
Oder es wird sich
b) wieder eine neuartige Groß-Familie bilden müssen wie in der Antike : Vielleicht sogar wieder mit einem Pater oder einer Mater familias als den Führern solcher Lebensgruppen mit Groß und Klein, Alt und Jung, Krank und Gesund, mit Babys und Sterbenden, die eher in kleinen Wohngruppen oder auch Gehöften, wenn nicht sogar Dörfern leben werden. Es wird also wieder und im Gegensatz zur Gegenwart eine Stadt-Flucht-Bewegung einsetzen. Mit Menschen, die sich gegenseitig helfen und unterstützen werden bei der Bewältigung ihres Lebensweges ganz im Sinne der antiken Agape und des Christentums.
Ehen werden wie in der Antike geschlossen für eine kurze, lange, manchmal auch lebenslange Zeit, um Kinder in die Welt zu setzen und sie aufzuziehen. Gleichzeitig wird es aber in solchen Lebensgruppen auch parallel und ergänzend dazu andere Beziehungsmöglichkeiten geben, etwa Beziehungen auch gleichgeschlechtlicher Art, die der Sexualität und sexuellen Vielfalt des menschlichen Begehrens einen weiten Raum lassen werden. Sehr sexorientierte Männer werden sich ihre kurzzeitigen Partner und Partnerinnen aus der Menge der gleich Gesinnten wie in der Antike suchen und diese finden können.
Gleichzeitig werden sie jedoch auch ihrer Verantwortung als Familienvater und Ehemann gerecht werden wollen in dem Maße, wie es Familienleben und Ehe (selbst im Sinne einer matriarchalisch orientierten Mater familias) von ihnen verlangen. Das Problem der Eifersucht wird geringer werden, da das romantische Phänomen des Verliebens ausgestorben sein wird. Auch hierin werden wir uns wieder der Antike nähern und zu anderen Beziehungsmustern wie Ursprüngen zurück finden(5).
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Warum ich nun ein Römer bin? – Man mag zur Beantwortung dieser Frage meine Rede „Vom Wohlleben“ nachlesen, die ich auf Einladung des Kunstvereins Leonberg bei Stuttgart schon im Jahre 2002 anlässlich des Geburtstages von Prof. Dr.med. Erwin Fischer gehalten habe(6). Es geht darin auch über die antiken Schulen in Rom, die es allesamt auch heute immer noch gibt, wenn auch mit anderem Namen und manchmal nur virtuell.
Von fast all diesen auf die griechische “Vorzeit” um 400 v.Chr. zurück gehenden Schulen lassen sich in meinem Denken und in meinen Aufsätzen Einflüsse und Inspirationen nachweisen. Sei es von den Skeptikern im isosthenischen Denken und Argumentieren (Sextus Empirikus). Epikur und die Stoa haben mich in Fragen von Ethik und Moral beeinflusst. Die Ataraxie als Lebenssinn scheint mir ein gutes und bewährtes Modell zu sein dann und wann. Die platonische Akademie, jetzt steht sie in Rom bereits vor ihrem Ende, gefällt mir mit ihren ästhetizistischen Sprachspielereien, die auch gelegentlich ins irrational Mystische abdriften. Aristoteles gefällt mir, mit der Brille Thomas von Aquins gesehen, in Sachen Weltanschauung, Staatslehre und Religion.
Die konkrete Lebenspraxis, das römische Wohlleben, finde ich gültig und vorbildlich bis auf den heutigen Tag – ein gesunder Geist in einem gesunden Körper, Leben mit Kunst, Unterhaltung, Muße und Geselligkeit, unentfremdete Arbeit, die Wohn- und ErnährungsSituation etc. Auch ohne Sklaven im alten Sinn ist dieser Zustand in einem vollautomatisierten und autarken System eher leicht und für alle Menschen fast schon gegenwärtig erreichbar. Selbst in Fragen von Liebe und Lust teile ich einige Einstellungen der Antike bis auf den heutigen Tag, etwa was die (kostenlose) Prostitution betrifft. Auch wenn ich kein bedingungsloser Anhänger von körperlicher Lust, geschweige denn von Cyber-Sex, Päderastie oder Promiskuität etc. bin. Denn auch Askese oder Maß (Besonnenheit), Mitte und Mäßigung können sehr sinnvolle Lebensziele sein dann und wann.
Also leben wir weiter in unserem neuzeitlichen Rom! Weiter auch mit brutalen Herrschern, die die Welt mit ihren einseitigen Gedanken und seelischen Krankheiten beherrschen wollen und die militärisch immer, Stichwort Hiroshima, Stichwort Auschwitz, kurz vor dem allgemeinen “Weltenbrand” Heraklits stehen werden. Denn die Dummheit stirbt niemals aus.
Mit sozialen Medien und Manipulationsmethoden dieser Herrscher, die sehr subtil und gekonnt unser Verhalten, unsere Meinungen und Einstellungen verändern werden und bereits verändert haben. Mit leeren Berechnungen und Versprechungen also, mit allwissender „Wissenschaft“ und geistiger Unterwerfung eben dieser Wissenschaftler. Mit Fake-News, alternativen Wahrheiten und unterhaltsamen Lügen. Vivamus et amemus – leben wir also weiter in Liebe und Lust!
Als Zusammenfassung diktiert und geschrieben wieder im Heslacher Wald in Stuttgart bei einem längeren MorgenSpaziergang Frühsommer 2018. In der Erinnerung an AR und unsere gegenseitigen Forschungen wie Erkundungen über viele Grenzen hinweg.
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1 Diese Formulierung ist bereits eine neuzeitlich-christlich konnotierte Einschätzung und Wertung.
2 Standard-Lektüre bleibt weiterhin, wen auch in unterschiedlichsten Übersetzungen, was die Sache kompliziert macht bis auf den heutigen Tag: Tacitus (literarisch, dunkel), Sueton (leichter lesbar), Cassius Dio (sehr ausführlich, leichter lesbar). Alle drei Historienschreiber widersprechen sich selten. Das heißt: sie könnten sich alle drei auf eine einzige Quelle berufen haben. Zumal ihre Bücher mit den überlieferten Senats-Mitschriften bis zu 100 Jahre später erst geschrieben worden sind. Oder ganz einfach – wenn ihre Bücher unabhängig voneinander entstanden sind: Sie schreiben die Wahrheit!
3 Bei dem Juden Jesus Christus musste es kein geringerer als König David sein.
4 Julian Apostata, einer der späten römischen Kaiser, von allen Prototypen ist er mir der sympathischste, wollte noch einmal auf friedliche Art und Weise den olympischen Glauben der Vorväter samt seiner alt-ehrwürdigen Götter restaurieren – vergeblich. Das Christentum war mittlerweile zu stark geworden. (Darüber demnächst mehr).
5 Warum es keine Verliebung mehr geben wird? – Ich denke, dass Verliebung immer mit Bewunderung einher geht. In der Antike war die Bewunderung des männlichen Körpers sehr verbreitet, seiner Größe und Stärke und Kraft, wie sie in den antiken Statuen als Ideal dargestellt wird. Ein Körper, der notwendig war für den Krieg und die Schlacht Mann gegen Mann. Stärke, also körperliche Stärke und ebenso auch geistige Überlegenheit waren besonders wichtig, das heißt auch anziehend und begehrt. Ein solcher Körper ist jedoch in einem statischen Zustand einer technokratisch gesteuerten und befriedeten Gesellschaft, wie ich sie gerade als Zukunfts-Vision beschrieben habe, nicht mehr notwendig. Im Gegenteil. Zuviel Adrenalin und Testosteron schaden einer solchen Gesellschaft ohne Dynamik und Weiterentwicklung, wenn sie nicht sublimiert werden können.
6 Reinhold Urmetzer, „Vom Wohlleben“ – Rede zum 80. Geburtstag von Prof. Dr.med. Erich Fischer auf Einladung des Kunstvereins der Stadt Leonberg bei Stuttgart am 12.1.2002. Angelika Luz sorgte mit Werken von John Cage für die musikalische Umrahmung der Veranstaltung. Erscheint demnächst in einer Sammlung mit Gelegenheits- oder bestellten Reden von mir.
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Aufsätze im Blog zum Thema Antike und antikes Leben (Archiv):
Begegnung mit der Antike I – VI (im deutschen Blog die Nummern 13, 14, 15, 26, 27, 288; als Übersetzungen im englischsprachigen Blog die Nummern 17, 18, 19, 30, 31)
Philosophische Schulen im alten Rom: Lukian 1 (Einführung 149), 2 (Kyniker 151), 3 (Hedonismus 152), 4 (Platon, Sokrates 153), 5 (Aristoteles 199), 6 (Skepsis 242), 7 (Demokrit und Heraklit 243) – es fehlt noch die Stoa
Römische Lektüre: Satyricon (25), Caesar und Cicero (32), Catull 1-9 (die Nummern 71, 72, 73, 75, 76, 77, 79, 80, 179), Martial (114, 113), Juvenal (126, 125, 256), Germanicus (129), Caesar (131, 32), Augustus 271,
Tacitus (158, 160)
Seneca und Nero (161), Senecas Tod (162) Der große Brand Roms (163) Vom Töten (164)
Horaz 1-7 (224, 225, 226, 227, 229, 230, 272)
Sextus Empirikus (236, 237, 267)
Seneca (261, 263)
Griechische Lektüre: Platons Phaidros (22, 23, auch in Englisch), Platons Symposion (180, auch in Englisch), Platons Themen (198), Platon und Alkibiades (283)
Alle Bücher von Reinhold Urmetzer in Nr.282