290 Wolfgang Rihm (4)
“Die Spur auf der Fläche”, mein Gesprächsbuch zusammen mit dem Komponisten Wolfgang Rihm, wird jetzt im schweizer Musica Mundana-Verlag redigiert und kommt bald auch in die Druckerpresse. Hier ein Auszug aus dem Beginn.
Vorwort
Wolfgang Rihm ist in großen Teilen der Gesellschaft, was die klassische Musik und das Opern-wie Konzertleben betrifft, ein anerkannter und oft aufgeführter Komponist, weltweit. Ein richtiger Star. Es lohnt sich in vieler Hinsicht, ihn kennenzulernen, seine Art des Sprechens, des Denkens, die Welt des Schöpferischen und Gestaltenden allgemein.
Machen wir ein Buch für Normalsterbliche, habe ich zu dem Komponisten gesagt. Für solche Menschen, die an Musik interessiert sind, sich aber nicht als Fachleute verstehen. Denen auch das abstrakte Denken und Kunst allgemein fremd bleibt. Gerade die Jugend hat wieder ein großes Bedürfnis nach Denken, Nachdenken, gelebter Geschichte und Hintergrund. Eine oberflächlich nur auf kurze Mails und Mitteilungen reduzierte Kommunikation – sie reicht nicht mehr aus, um sinnvoll schaffen, um sinnvoll leben zu können
Die fünf Gespräche mit dem Komponisten sind in der Zeit vom 7. Oktober 2015 bis zum 25. Oktober 2016 in Karlsruhe entstanden. Das vierte Gespräch hat im September 2016 in Berlin stattgefunden anlässlich der “Tutuguri”-Aufführung zur Eröffnung des Berliner Musikfestes. Eine letzte Überarbeitung des Manuskripts fand im Januar 2018 statt.
Ostende/Belgien, 18.Februar 2018
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Reinhold Urmetzer: Unser Buch heißt “Die Spur auf der Fläche”. Auf welcher Spur bewegen wir uns?
Wolfgang Rihm: Wenn ich ein solches Bild gebrauche, dann stelle ich mir akustisch eine Klangfläche vor, auf der sich eine Spur, ein Zustand, eine horizontale Bewegung eingeschrieben hat.
Sprachlich: Auf welcher Fläche bewegen wir uns, wenn wir hier zusammen sitzen und reden?
Das ist eine Fläche, die sich durch uns beide erst herstellt. Sie existiert nicht vorher. Sie wird in dem Moment, wo wir aufeinander treffen, durch dich und mich erst gebildet. Auf dieser Fläche bewegen wir uns.
Ist diese Fläche zwei- oder dreidimensional?
Vor, zurück, rauf und runter – es geht eigentlich vieles.
Welche Spur wird gelegt, wird gesucht, gefunden?
Die Spur ist die Fortbewegung, die wir auf dieser Fläche uns erlauben. Mal kommst du mir entgegen, mal renne ich von dir weg, eine richtige Polyphonie. Auf ein Gespräch bezogen ist es nicht immer nur eine Spur, ich empfinde es auch als eine Art polyphoner Zeichnung.
Diese Spur führt bei mir in die Wüste, zuerst spurlos. Man geht hinein in das Unbekannte und bildet dadurch eine Spur; vielleicht findet man dann auch eine neue.
Dieses Bild habe ich nicht, weil für mich Flächen schon immer etwas durch Spuren Beschriftetes sind. Die Vorstellung, in eine Terra incognita hinein zu gehen, ist mit fremd, weil dieses unbekannte Land eigentlich etwas wäre, das wir durch unsere Spuren imaginieren und nicht, was wir betreten und dann Spuren hinein setzen.
Für mich schon. Für mich ist dieser Bereich, diese Begegnung mit dir, überhaupt immer und mit welchem Menschen auch immer, ein unbekanntes neues Land. Du bist das unbekannte Land. Das Denken, Sprechen, deine Handlungen, Tätigkeiten sind mir meist neu. Auch fremd wie oft alles um mich herum mit seinen Menschen und seiner Welt.
Das ist nicht negativ, sondern gerade das Spannende daran. Ich fliehe nicht davor, sondern im Gegenteil, es gefällt mir. Ich begegne dieser Fremdheit gerne, weil ich immer wieder etwas Neues dabei kennenlerne. Die Spur auf der Fläche ist für mich deshalb ausgesprochen positiv, auch im Gefühlsmäßigen. Ich mag das Spurenlegen, das Spurenfinden, anderen Spuren nach zu gehen.
Was Fläche jedoch in unserer Begegnung bedeuten könnte, das weiß ich noch nicht so recht. Was mag Fläche in unserem Zusammenhang bedeuten, ob es eine journalistische Neugierde ist, das Ausforschen, Kennenlernen?
Fläche ist flach. (Lachen)
Nein. Fläche ist für mich das Leben, in dem man sich bewegt. Vielleicht wo die Spuren sich auch selbst bilden – im Leben, in der Welt, im Ich.
Eine Morphologie des Auf und Ab, des Hoch und Tief. Flach ist es jedenfalls nicht in dieser Fläche.
Nein. Gerade nicht so wie die Fläche hier auf dem Tisch vor uns. –
Vor Jahren haben wir in Baden-Baden anlässlich eines Festivals zum 60. Geburtstag für Pierre Boulez mit dieser Interview-Reihe begonnen, ein Gespräch damals für die Berliner taz. Wollen wir diese Gesprächsreihe nun fortschreiben? Es soll über Kunst und Leben und Gegenwarts-Musik gehen.
Es ist keine Frage des Wollens. Es wird. Wir reden und dann wird es das. Wir können uns ja nicht bloß entschließen, das Naheliegende zu tun – wir tun das Naheliegende.
Wir könnten natürlich sagen: Nein wir machen es nicht, wir schließen uns nicht an diese vergangene Zeit an, wir schließen sie aus und bleiben nur in der Gegenwart. Ich würde trotzdem gerne den Bogen zurück finden.
Das entspricht auch meinem Denken und Fühlen. Ich kann mich nicht von meiner Vergangenheit abschneiden.
Daraus ist damals schon ein Buch geworden.(1) Ich habe es mir wieder vorgenommen und festgestellt, dass es gut gealtert, also immer noch interessant und lesbar ist. Für mich auch ein Kriterium von Kunst. Beispiel Architektur: Dass du die Häuser auch viele Jahre später immer noch schön, ansprechend und gut findest. Manche sind schon nach zwanzig Jahren langweilig.
Das trifft auch für Musik zu.
Dass fast alles vom damals Gedachten und Geschriebenen immer noch so stehen bleiben kann, wie es geschrieben und gesagt worden ist. Auch wenn vieles anders geworden ist. –
Ich will dir auch von anderen Gesprächen berichten, Interviews, die ich mit Helmut Lachenmann, François Lyotard, Olivier Messiaen, Niklas Luhmann geführt habe, und deine Meinung darüber hören. Bist du einverstanden?
Gern.
Ich bin sehr froh und es passt gut, dass ich jetzt im Zusammenhang mit unserem Gespräch bei einem Musikstück von dir auch mitten drin sein durfte, von der Probe bis zur Aufführung. Dass nicht alles immer nur so abstrakt sich abspielt und besprochen wird von uns, sondern dass es auch konkret wird. (2)
Was hat sich Wesentliches für dich seit der „Tutuguri”-Zeit geändert?
Mit dem “was” sind wohl die Lebensumstände gemeint, oder? – Meine eigene Lebenssituation hat sich sicher dahingehend geändert, dass die Schaffens-Voraussetzungen gleich geblieben sind. Die Gelassenheit, mit der ich die Ergebnisse beziehungsweise deren Wahrgenommen-Werden betrachte, die hat jedoch zugenommen.
Interviews mit Luhmann und Lyotard habe ich provozierend mit der Frage begonnen: Sind Sie ein postmoderner Philosoph? – Bist du ein postmoderner Künstler?
Der Begriff „Postmoderne” kommt mir so antik vor. Er steht für eine Verortung, als sei er im Besitz einer Zeitenfolge oder eines Wissens um die Zeitenfolge. Ich könnte schon “Moderne” nicht lokalisieren, hier beginnt die Moderne und hier hört sie wieder auf. Der Begriff “Postmoderne” kommt mir so ungegenwärtig vor, weil er in der Gegenwart wohl keine größere Diskussion erfährt. Mit diesem Begriff kann ich also nicht umgehen, ein solches Denken ist mir fremd.
Ich kann es nicht nachvollziehen, in wessen Interesse es wäre zu wissen: wann ist jetzt prae, wann ist post.
Im Interesse der Historiker.
Der Historiker, ja. Aber sind die Historiker die Haupt-Rezipienten von Kunst? Was nützt es einem Hörer, wenn er hört, er befinde sich jetzt im Zeitalter der Postmoderne? Der Hörer operiert zumindest im Wunschbild von Musikproduzenten auch mit solchen Dingen. Jetzt wird als Klassik verkauft, zu der gegenwärtig und mittlerweile alles gehört, was irgendwie zwischen 1324 und 2010 komponiert wurde. Das alles ist Klassik.
Wenn du in einen Schallplatten-Laden gehst, Schallplatten gibt er auch nicht mehr, also du gehst in ein Tonträger-Geschäft, da hast du eine Abteilung von vier Regalen “Klassik”, und dann hast du 94 Regale mit sehr spezifischen Ausprägungen der Popwelt, die man in 14 Tagen schon nicht mehr kennt mit ihren neuen Einteilungen.
Du liebst den Begriff “Postmoderne”, o. k. Ich lehne ihn nicht ab, ich kann nur nicht mit ihm operieren.
Im Denken, in der Philosophie ist er meines Erachtens ein wichtiger Begriff. Aber nicht für die Deutschen oder die deutsche Kultur, wir sind hier anders. Doch die Franzosen, die Amerikaner, Japaner, sie fangen sehr viel mit diesem Begriff an. Wir sind durch die Aufklärungs-Debatten (“Aufklären über die Aufklärung” nach Habermas) und die Tradition des Rationalismus in eine antithetische Richtung zu dieser Welt gedrängt worden sind. – Aber es ist nicht so wichtig.
Doch, es interessiert mich! Die Begeisterung, mit der diese Begriffe a) begrüßt und b) abgelehnt werden. Ich kann sie durch meine eigene Arbeit in keinster Weise fassen. Man wird jedoch von Menschen, die sich mit diesen Begriffen befassen, immer wieder gefragt. Deshalb möchte ich schon wissen, was das eigentlich meint.
Ich kann mit dem Begriff Postmoderne sehr viel anfangen, ich sehe mich auch als ein postmoderner Zeitgenosse. In der Musik jedoch wirkt dieser Begriff nicht. Es gibt für mich keine oder besser noch keine postmoderne Musik.
Nein, das gibt es tatsächlich nicht.
Ein postmodernes Denken gibt es jedoch. Unterschwellig lebt es auch sehr stark in Deutschland. Vielleicht sogar mehr im Osten als im Westen. Ich habe es in den USA kennen gelernt. Ich war in Kalifornien in Los Angeles (Irvine) anlässlich einer Veranstaltungsreihe des Deutsch-amerikanischen Instituts über Presse und Kultur in einer Universität, wo Derrida eine Zeitlang unterrichtet hat. Auch die anderen mich sehr beeinflussenden Franzosen, Baudrillard und Lyotard, waren Gastprofessoren in Kalifornien. Lyotard zum Beispiel in San Diego. Sie alle haben sich von dem damaligen kalifornischen Lebensstil beeinflussen lassen und ihn wiederum auch selbst mit ihrem Schreiben beeinflusst.
Umberto Eco war einer der ersten, der allgemein ästhetisch und nicht nur auf die Literatur bezogen vom Ende der Avantgarde geredet hat. Die Vorhut(Avantgarde) sei zur Nachhut (Arrieregarde) geworden.
Ist die Avantgarde tatsächlich an einem Ende? Was denkst du darüber?
Das Avantgarde-Bewusstsein ist sicher nicht mehr prägend für heute schaffende Musiker. Es war früher eine Notwendigkeit, um klar zu machen, dass man einen Herrschaftsanspruch stellt, also eine Deutung-Hoheit darüber beansprucht, was geschieht.
In welchem Bereich?
Im Bereich der Musik.
Doch eher im Bereich von Politik und Philosophie! Die Kritik am Marxismus, Stalinismus etc. ist doch wesentlich ausgegangen und dominiert worden von den französischen Philosophen. Wir sind die Vorhut der Arbeiterschaft, wird sind die Avantgarde im Auftrag des Weltgeistes. Das war doch der Anspruch der ideologischen Vordenker viele Jahrzehnte lang.
Meinst du, Arnold Schönberg hat sich als Avantgardist gesehen?
Nein. Aber nach dem zweiten Weltkrieg war ein starkes avantgardistisches Habit notwendig, um sich abzugrenzen. Auch was das Hören betrifft. Da gibt es ja diese sehr bewegenden Künstlerpersönlichkeiten, zum Beispiel Schönberg, die einerseits als vollkommen abgehobene Avantgardisten, andererseits jedoch als vollkommen abgelebte Vergangenheit empfunden wurden.
Gerade in der Musik ist diese Doppeldeutigkeit sehr verbreitet. In den zwanziger Jahren, als die Avantgarde das war, was später dann als “Neoklassik” bezeichnet wurde, hat man an Schönberg “abgelebte Gefühle” oder alte romantische Haltungen kritisiert.
Du hast einmal geschrieben, die Moderne sei für dich überlebensnotwendig. Immer noch?
Das kommt auf den Zusammenhang des Zitates an. Wenn ich reduziert werde auf das, was vor vielen Jahren wohl akut war, auf jemanden, der ein Rad zurückdrehen möchte, so bin ich damals von Kritikern ja interpretiert worden, so hat das mit meinem Selbstverständnis überhaupt nicht übereingestimmt.
Es ist wichtig zu betonen, dass das einem selber viel bedeutet im Zusammenhang mit einer Filiation. Mir bedeutet jedenfalls das eigene Werden oder Gewordensein, das sich von dem, was Moderne heißt, her schreibt, sehr viel.
1 Wieder abgedruckt in: Wolfgang Rihm, „ausgesprochen“ – Schriften und Gespräche (2 Bände)1998
2 Mit einer konzertanten Aufführung von Wolfgang Rihms monumentalem und abendfüllendem Jugendwerk „Tutuguri” wurde das Musikfest Berlin am 5.September 2016 eröffnet. Es spielte das Bayerische Symphonieorchester unter der Leitung von Daniel Harding.
Alle Bücher von Reinhold Urmetzer in Nr.282