303 Wolfgang Rihm (5)
Die Spur auf der Fläche Gespräch mit dem Komponisten Wolfgang Rihm
Vorabdruck (Auszug 2)
Reinhold Urmetzer: Interviews mit Luhmann und Lyotard habe ich mit der Frage begonnen: Sind Sie ein postmoderner Philosoph? – Bist du ein postmoderner Künstler?
Wolfgang Rihm: Der Begriff „Postmoderne” kommt mir so antik vor. Er steht für eine Verortung, als sei er im Besitz einer Zeitenfolge oder eines Wissens um die Zeitenfolge. Ich könnte schon „Moderne” nicht lokalisieren, hier beginnt die Moderne und hier hört sie wieder auf. Der Begriff „Postmoderne” kommt mir so ungegenwärtig vor, weil er in der Gegenwart wohl keine größere Diskussion erfährt. Mit diesem Begriff kann ich also nicht umgehen, ein solches Denken ist mir fremd.
Ich kann es nicht nachvollziehen, in wessen Interesse es wäre zu wissen: wann ist jetzt prae, wann ist post.
Im Interesse der Historiker.
Der Historiker, ja. Aber sind die Historiker die Haupt-Rezipienten von Kunst? Was nützt es einem Hörer, wenn er hört, er befinde sich jetzt im Zeitalter der Postmoderne? Der Hörer operiert zumindest im Wunschbild von Musikproduzenten auch mit solchen Dingen. Jetzt wird als Klassik verkauft, zu der gegenwärtig und mittlerweile alles gehört, was irgendwie zwischen 1324 und 2016 komponiert wurde. Das alles ist Klassik. Oder genauer: „Classic”.
Wenn du in einen Schallplatten-Laden gehst, Schallplatten gibt es auch nicht mehr, also du gehst in ein Tonträger-Geschäft, da hast du eine Abteilung von vier Regalen „Klassik”, und dann hast du 94 Regale mit sehr spezifischen Ausprägungen der Popwelt, die man in vierzehn Tagen schon nicht mehr kennt mit ihren neuen Einteilungen.
Du liebst den Begriff „Postmoderne”, o. k. Ich lehne ihn nicht ab, ich kann nur nicht mit ihm operieren.
Im Denken, in der Philosophie ist er m.E. ein wichtiger Begriff. Aber nicht für die Deutschen oder die deutsche Kultur; wir sind hier anders. Doch die Franzosen, die Amerikaner, Japaner, sie fangen sehr viel mit diesem Begriff an. Wir sind durch die Aufklärungs-Debatten („Aufklären über die Aufklärung” nach Habermas) und die Tradition des Rationalismus in eine antithetische Richtung zu dieser neuen Welt samt ihrer neuen Politik gedrängt worden. – Aber es ist nicht so wichtig.
Doch, es interessiert mich! Die Begeisterung, mit der diese Begriffe a) begrüßt und b) abgelehnt werden. Ich kann sie durch meine eigene Arbeit in keinster Weise fassen. Man wird jedoch von Menschen, die sich mit diesen Begriffen befassen, immer wieder danach gefragt. Deshalb möchte ich schon wissen, was das eigentlich meint.
Ich kann mit dem Begriff Postmoderne sehr viel anfangen, ich sehe mich auch als ein postmoderner Zeitgenosse. Im Denken, im Schreiben, in der Kunst. In der Musik jedoch wirkt dieser Begriff nicht. Es gibt für mich keine oder besser noch keine postmoderne Musik.
Nein, das gibt es tatsächlich nicht.
Ein postmodernes Denken gibt es jedoch. Unterschwellig lebt es auch sehr stark in Deutschland. Vielleicht sogar hierzulande mehr im Osten als im Westen. Ich habe es in den USA kennengelernt. Ich war in Kalifornien in Los Angeles (Irvine) anlässlich einer Veranstaltungsreihe des Deutsch-Amerikanischen Instituts über Presse und Kultur dort, in einer Universität, wo Derrida eine Zeitlang unterrichtet hat. Auch die anderen mich sehr beeindruckenden Franzosen, Baudrillard und Lyotard, waren Gastprofessoren in Kalifornien. Lyotard zum Beispiel in San Diego. Sie alle haben sich von dem damaligen kalifornischen Lebensstil beeinflussen lassen und ihn wiederum auch selbst mit ihrem Schreiben beeinflusst.
Umberto Eco war jedoch einer der ersten, der allgemein ästhetisch und nicht nur auf die Literatur bezogen vom Ende der Avantgarde geredet hat. Die Vorhut (Avantgarde) sei zur Nachhut (Arrièregarde) geworden.
Ist die Avantgarde tatsächlich an einem Ende? Was denkst du darüber?
Das Avantgarde-Bewusstsein ist sicher nicht mehr prägend für heute schaffende Musiker. Es war früher eine Notwendigkeit, um klar zu machen, dass man einen Herrschaftsanspruch stellt, also eine Deutungs-Hoheit darüber beansprucht, was geschieht.
In welchem Bereich?
Im Bereich der komponierten Musik.
Doch mehr noch im Bereich von Politik und Philosophie! Die Kritik am Marxismus, Stalinismus etc. ist doch wesentlich ausgegangen und dominiert worden von den französischen Philosophen. Wir sind die Vorhut der Arbeiterschaft, wir sind die Avantgarde im Auftrag des Weltgeistes. Das war doch der Anspruch der ideologischen Vordenker viele Jahrzehnte lang. –
Glaubst du, Arnold Schönberg hat sich als Avantgardist gesehen?
Nein. Aber nach dem zweiten Weltkrieg war ein starkes avantgardistisches Habit notwendig, um sich abzugrenzen. Auch was das Hören betrifft. Künstlerfiguren wie gerade Schönberg wurden schon zu Lebzeiten als vollkommen abgehobene Avantgardisten, andererseits jedoch als vollkommen abgelebte Vergangenheits-Repräsentanten empfunden.
Gerade in der Musik ist diese Doppeldeutigkeit sehr verbreitet. In den zwanziger Jahren, als die Avantgarde das war, was später dann als “Neoklassik” bezeichnet wurde, hat man an Schönberg „abgelebte Gefühle” oder alte romantische Haltungen kritisiert.
Du hast einmal geschrieben, die Moderne sei für dich überlebensnotwendig. Immer noch?
Das kommt auf den Zusammenhang des Zitates an. Wenn ich reduziert werde auf das, was vor vielen Jahren wohl akut war, auf jemanden, der ein Rad zurückdrehen möchte, so bin ich damals von Kritikern ja interpretiert worden, so hat das mit meinem Selbstverständnis überhaupt nicht überein gestimmt. Es ist wichtig zu betonen, dass das mir viel bedeutet im Zusammenhang mit einer Filiation. Mir bedeutet jedenfalls das eigene Werden oder Gewordensein, das sich von dem, was Moderne heißt, her schreibt, sehr viel.
Fest schreibt, fort schreibt?
Her schreibt, nicht fest schreibt. Das ist etwas, was meiner Vorstellung von künstlerischer Arbeit entgegen steht, also dieses Fixieren auf einen Punkt, auch das Einrahmen, das Begrenzen, Definieren eines Stils.
Wenn ein Autor das Zeitliche segnet und sein Werk liegt vor, dann kann man das Werk betrachten und meinetwegen daraus eine Stilsuche ableiten. Aber wenn das ein Künstler selber macht, ist das immer verhängnisvoll.
Gibt es so etwas wie Fortschritt in der Musikentwicklung?
Es gibt ein Fortschreiten, aber den Begriff des Fortschritts weise ich als mir fremd zurück. Das heißt, ich kann ihn gar nicht zurück weisen, weil ich noch nicht einmal weiß, was er bedeutet.
Also mit Beschleunigungs- oder Entschleunigungs-Theorien kannst du nichts anfangen?
Als relative Durchgangsformen könnte ich etwas damit anfangen. Als etwas Transitorisches. Dass es durchaus Phasen gibt, wo sich etwas beschleunigt und Phasen, wo sich etwas entschleunigt. Verlangsamt.
Ich meine es nicht nur musikalisch Im Sinne eines accelerando oder ritardando, sondern auch im Sinne einer Material-Entwicklung. Es gibt Komponisten, deren Entwicklung in einem ganz anderen Bereich liegt als im Bereich der Material-Exposition. Bei Mozart etwa entwickelt sich das Ganze zu einer ungeheuren Tiefe, es ist eher sogar „retardierend”, regressiv. Es bezieht sich auf Früheres, aber das Ganze ist ein derartiger Wurf in die Zukunft, weil es derartig voll mit Erfahrung, mit menschlicher Erfahrung ist. Daraus enthält Mozarts Musik ihre Tiefe.
Und bei Bach?
Bei Bach entsteht eine Art Homöostase zwischen Material-Entwicklung und Ausbreitung des Werkes. Bach ist in Vielem sehr summierend. Er hat einige Werke geschaffen, die er eigentlich als Summa angesehen hat, etwa die h-Moll-Messe, die wie ein Werk aus Werken komponiert ist, als die Summe der Erfahrungen eines Komponisten, des Könnens, des Wissens, in der Kontrapunktik – es entwickelt sich einfach alles! Es gibt nur zwei Stücke, die für dieses Werk neu komponiert worden sind.
Alle anderen Werke waren ja bereits vorhanden. Bach hat sie in einen neuen Zusammenhang integriert und dadurch mehr oder weniger charakteristisch umgeformt als zeitgenössische Stilformen. Was ganz charakteristisch ist bei Bach, er fügt sehr viel zusammen – englische, französische, italienische Schreibweisen, die führt er zusammen eigentlich zu einem europäischen Stil.
Machst du das auch, Schreibweisen studieren, integrieren, kopieren?
Studieren ist vielleicht ein zu hochstaplerischer Begriff. Ich nehme sie wahr. Studieren hieße, sich wissenschaftlich damit auseinander zu setzen. Das ist mir nicht gegeben, weil ich den Apparat dazu nicht habe und, ich gestehe es gerne, von einer schöpferischen Ungeduld bin. (Lachen)
Ich nehme etwas wahr und beantworte es.
Ich habe das Gefühl, dass Kunst auch entsteht, indem sie auf andere Kunst antwortet. Und dieses Antworten halte ich für sehr produktiv. Es geht nicht um ein Kopieren, sondern um ein Hinzusprechen. Eigene Texte, Noten, Notizen oder Bemerkungen zu etwas hinzufügen und daraus einen neuen Kontext zu gestalten.
Du antwortest auch gerne auf dich selber? Das erste Werk geht in das zweite Werk über –
Auf jeden Fall. Das bedeutet ja nicht, dass ich beim Beantworten gänzlich häuslich bleibe, ich bin ja auch sehr gern aus-häusig.
Kannst du einen Ort, ein Haus nennen, wo du dich befindest?
Die Wahrnehmung ist schon sehr weit gestreut. Seit Jahren antworte ich sowohl in die Geschichte als auch in die Gegenwart hinein. Ich möchte jetzt nicht durch Namensnennung bestimmte Antwort-Empfänger in Verruf bringen. (Lachen)
Das muss nicht nur negativ, es kann doch auch positiv sein. Ob du dich von einer allgemeinen Ästhetik beeinflussen lässt, ob du nur in der Musik bleibst oder vielleicht auch in der Mathematik beim Komponieren… Ob es etwas Geistiges gibt, ein Denken, das dich beim Komponieren leitet wie andere Künste auch, das frage ich.
Wenn ich auf etwas musikalisch antworte, dann nicht so, dass mich dieses direkt leiten würde, sondern es leitet mich mein Antwort-Trieb. Zum Beispiel: Minimalistische Kunst nehme ich ja nicht nur wahr als etwas mir Entgegengesetztes, sondern auch als etwas Herausforderndes, dem zu antworten sich allemal lohnt. Oder die Wahrnehmung von konzeptuellen Erscheinungen. Solche Dinge, die ich mir nicht anverwandle, sondern die ich beantworte, ohne dass dies auf der Verpackung stehen würde. Ich gebe nicht Dinge heraus, die unter dem Stichwort „Antwort auf” benannt werden könnten.
Wird die andere Seite spüren, dass es eine Reaktion von dir gewesen ist?
Das weiß ich nicht, das kann ich manchmal auch nicht spüren.
Das geht mehr intuitiv?
Du nennst den Zentralbegriff: Intuition.
Das wäre also die Trieb-Feder deines Arbeitens.
Zumindest das, was mich leitet.
Die Triebfeder, antworten zu wollen.
Es bewirkt das Verorten der eigenen Lage. Das ist auch Selbst-Reflexion. Das kann auch Selbst-Kritik sein oder Selbst-Verdruss – ich weiß es nicht so genau. Es gibt ja alle Formen, es ist nicht nur die Selbst-Feier, die zur Debatte steht. (Lachen) Wenn ich, salopp ausgedrückt, etwas dahin gestellt habe, kann ich jedenfalls nicht dabei stehen bleiben und mich davon nähren.
Was hältst du von dieser Position: Nur dann sei eine Musik gut, wenn das Publikum protestierend und schimpfend aus dem Raum geht. Nur das bewirke einen Bewusstseinsbildungsprozess, einen Akt der Reflexion, der notwendig sei bei zeitgenössischer Kunst.
Das ist eine metaphorische Sichtweise, die hier in ein Bild gebracht wird. Das Akklamieren des Publikums kann auch eine Art Schimpfen sein. Diejenigen, die einem zu einer Aufführung gratulieren, sind oft auch diejenigen, die den Schimpf-Dolch im Gewande führen. Ohne dass ich jetzt deswegen in ein negatives oder von Verschwörungstheorien geprägtes gesellschaftliches Umfeld mich gesetzt sehen will.
Akklamation kann auch eine Form der Annahme-Verweigerung sein.
Sicher. Das ist mir auch bekannt.
Alle Bücher von Reinhold Urmetzer in Nr.282