296 Novellen zur Zeit (6)
Der verbrauchte Blick
Du hast an jenem Abend, als wir uns unvermutet begegnet waren – und niemals zuvor hatten wir uns jemals gesehen oder hatten wir etwas voneinander gewusst –, du hast gewünscht, dass ich deine Funktionen testen, ausprobieren, untersuchen sollte, wie du sagtest. Ohne jede innere Beteiligung deiner- oder meinerseits, hast du betont; es wäre dir zu anstrengend, zu neuartig, zu ungewohnt gewesen. Und um aufrichtig zu sein, es wäre dir auch gar nicht möglich gewesen. Du wolltest nur wissen, ob alles noch funktioniert (ich zitiere deine Worte) wie nach einem Schlaf, nach einer langen Pause, ob alles noch zu Stande kommen könne, ob du noch fähig sein könntest dazu.
Ich wusste nicht, ob ich mich auf dieses seltsame Spiel einlassen sollte. Doch du hattest diesen verbrauchten Blick, der mich gleichgültig und pessimistisch werden lässt immer wenn ich ihm begegne (nicht nur bei dir), und du hast mir sogar Geld, reichlich viel Geld angeboten, um mich an dich zu fesseln, dass ich deinen seltsamen und irgendwie auch albernen Gesetzen folgen sollte.
Ich wusste um deine Sonderstellung, um diese eigentümliche Zwischen-Menschlichkeit und Trans- Humanität als ein Indiz für ein verbrauchtes Leben, für ein Leben ohne uns, ohne die menschliche Gemeinschaft. Und ich wusste ebenfalls, dass ich dir keine Schuld zu schreiben könnte, weil du bereits ein Opfer bist, wie ich es bis jetzt immer noch und vielleicht wieder etwas altertümlich behaupte, auch wenn du lieber von Objekt sprichst und sogar stolz darauf zu sein scheinst.
Du hast auf meine Einwände hin gelacht, sie als Spinnerei und traurige Halluzination zur Seite geschoben. Du hast nicht begriffen, um was es mir ging, und ich sehe dich immer noch vor mir, wie du mich an dich heran zu ziehen versuchst, ganz in diesen fremden Bann der Funktionen und Zahlen einbinden möchtest, als ob du es menschlich meinen könntest jenseits all deiner Rechner und Fakten und Programme, wozu du mich als Test-Person eingespannt hattest und bezahlen wolltest. Du spürtest meine Unruhe, meine Angst, auch mein Zögern vor diesem Neuen und der seltsamen Ungeheuerlichkeit deines Anliegens. Du bist verbraucht, hast du zu mir gesagt und boshaft gelächelt, ebenso verbraucht wie ich. Wir sind keine Menschen, keine Lebewesen mehr, hast du angemerkt und dich gefreut, auch keine Tiere, keine Pflanzen. Vielleicht sind wir zu Steinen geworden oder zu Sternen, die verglühen. Also bewegen wir uns auf einer objektiven Stufe.
Ich habe dieses Spiel schließlich nicht mehr mitgemacht und abgebrochen. Ich werde auch diesen Text nicht nur einer einheitlichen Story und Glaubwürdigkeit wegen zu Ende führen. Ich lebe noch nicht in den Städten des statischen Zeitalters, wie ein Science-Fiction-Schriftsteller sie beschrieben hat, ohne Tradition, ohne Geschichte, Entwicklung oder Veränderungsmöglichkeit; auch ohne Tod, ohne Fehler und Wiedergeburt, ohne Begehren und ohne Bezug.
Folgende Sätze habe ich in mein Tagebuch notiert: Der verbrauchte Blick samt seiner ganzen Welt und Weltordnung ist eine literarische Fiktion, eine Abstraktion, eine Lüge – als wenn es nichts mehr zu hoffen, nichts mehr zu träumen, zu erwarten, zu glauben gäbe. Er ist unmenschlich, als lebten wir in einer ständigen Eiszeit und hoffnungslos, als wenn es ein Ende, ein Sterben, eine Erschöpfung selbst dieser Sinnlosigkeiten, wie wir sie tagtäglich erleben und ertragen müssen, nicht mehr geben könnte.
Ich werde mich wieder unter all diese Neon-Romantiker mischen im Supermarkt, im Kino, in den Cafés und Peepshows. Ich werde auf einsame Inseln fahren, um andere Sätze und Geschichten zu erfinden, freudenvollere, wie sie ML gewünscht hat. Und ich werde mich mit UK zusammen setzen, um nächtelange Gespräche mit ihr zu führen über Gott und die Liebe, den Staat, nationalistische Bürgerkriege und wie man in unseren saturierten Gesellschaften die Lebens-Langeweile besiegt und den verbrauchten Blick(1).
Ich werde allen Kommunikations-Apparaten und sonstigen künstlichen Wesen aus dem Weg gehen, ihnen zumindest aus dem Weg zu gehen versuchen. Ich werde auch meine Kontakte mit diesen flimmernden Halbwelten und neuartigen Mensch-Objekten, die uns so verführerisch anlächeln, als wüssten sie über alles Bescheid und als könnte es kein Unglück in dieser Welt geben, ich werde sie einschränken, wenn nicht sogar ganz darauf verzichten. Ich werde auch davon nichts mehr sehen, hören oder darüber schreiben wollen. In der Stadt werde ich auf meinem Platz abwarten, umgeben von Menschen wie du und ich, und still dasitzen wie Blaise Pascal auf seinem Stuhl. Ich werde nachzudenken versuchen.
Ein Schiff müsste kommen, habe ich vor mich hin gesprochen und ich war von den abenteuerlichen Gedanken und Dem Alkohol bereits ganz euphorisiert. Laut habe ich gesprochen und zu überzeugen habe ich mich bemüht. Es müsste ein Schiff kommen, in das man einsteigen kann, mit großen Segeln und freien Menschen, Afrikanern oder anderen Freigeistern, Freigeborenen und Abenteurern, habe ich mir gesagt. Mit Menschen, anderen, neuen, die diese Last auf sich nehmen würden und sich dafür einsetzen könnten.
Wir würden das Land hinter uns lassen, sagte ich, mit seiner Verkommenheit und wissenschaftlichen Intelligenz, diesen künstlichen, verstellten und erstarrten Blicken (als wenn es sie tatsächlich geben könnte), diesen Lastern und Lügen und falschen Göttern.
Geradeaus würden wir fahren und keine Rücksicht mehr nehmen auf die Klagen der Zurückgebliebenen über Fortschritt, Lustverfallenheit und gute Absichten. Ich würde mich an den Mast stellen und mitfahren, wenigstens eine gewisse Zeit lang, auch wenn das Ziel ungewiss bleibt. Hinter uns wird die Küste immer kleiner und kleiner und ich sehe, wie sie den Leichnam des Gutsbesitzers verzehren, um an das Erbe zu gelangen, was er als seinen letzten Willen vorgeschrieben hatte.
Ich schließe die Augen und träume.
Ich will nach vorne gehen, sagte ich immer wieder, wie wenn ich es mir einreden müsste, immer geradeaus. Es ist ganz leicht. Ich will keinen Zorn spüren und auch keine Trauer oder Melancholie, nur stark will ich sein, damit ich es schaffe. Es kann nur besser werden. Wir haben nichts zu verlieren. Ich muss es hinter mir lassen, es versuchen, sagte ich wieder und wieder.
Schließlich bin ich eingeschlafen.
Am nächsten Morgen habe ich mich auf den Weg gemacht, zurück über die Autobahn, von wo ich gekommen bin. Wie immer herrschte starker Verkehr.
(1) Der Begriff stammt von Krishna Lahoti, einem jungen Presse-Fotografen, der mich bei Konzerten und Interviews immer wieder begleitet hat.