292 Novellen zur Zeit (2)
Im Spiegel der Musik
Im Spiegel der Musik habe ich dich wieder gesehen und betrachten können. Du warst am Tanzen mit dir selbst und wolltest die Nacht aufdrehen. Wie das geht, hast du mich gefragt. Ob ich das könne, ob ich es möchte. Leidenschaftlich, immer höher dem Klang, der Schwingung der Musik und unserem Körper folgend. Mit einer Kunst, die ganz ohne Schlagzeug oder Gitarre aus kommt. Die nur dem eingegebenen Computerprogramm und seinen Erfindungen vertraut. Die sich dreht und wendet, begehrt und liebt und an ein Ziel kommt, welches du nicht einmal ahnen oder kennen wirst. Auch mich darfst du nicht danach fragen.
Man muss gleich sein, sich gleich fühlen, hast du gesagt, gleiche Gefühle haben. Das verlangt auch die Botschaft der Musik. Dann wird es gehen, selbst wenn es schmutzig und schlecht zu sein scheint. Beherrscht werden von einer Musik, einem Leben und einem Programm, das zu Schmutz und zu Schlechtigkeit aufruft und dennoch schön, ehrlich sein kann. Was dir gefällt, wie ich weiß(1).
Eine Zeit lang habe ich geglaubt, dieser seltsame Kontakt mit dir könne die Nacht heller, bunter, auch menschlicher machen. Dass uns virtuelle Berührungen und neuartige Zärtlichkeiten näher bringen, die Fremdheit aufheben und der Wahrheit öffnen würden. Doch das Gegenteil scheint der Fall zu sein. Der schnelle Austausch von künstlich gesteuerten Bewegungen und Gefühlen macht uns nur noch mehr zu Fremden, die wir immer schon waren und die wir für immer bleiben werden, wie ich glaube. Unsere Fremdheit kann nicht überwunden werden.
Vielleicht weil wir zu gleich sind, gleich geartet, gleich gerichtet, meinst du. Das Programm kennt unsere Ziele. Dennoch stimmen wir nicht überein. Du beklagst, unsere Schnittmenge sei nicht groß genug. Unserer Nähe wäre eine Ferne und die körperliche Begegnung ein Kampf der Computer-Gladiatoren vor dem Untergang. Es ginge nur um Sieg oder Niederlage. – Wie kannst du das sagen, frage ich zurück. Was hast du dir davon versprochen, wenn zwei Fremde sich zueinander hin bewegen und Grenzen des Sprechens, Begehrens, einer neuartigen Verzauberung vielleicht auch zu überschreiten suchen?
Gewiss war unsere Begegnung seltsam, eigenartig, ja solipsistisch. Vielleicht waren wir als Gegner auch austauschbar wie Maschinen, wie Roboter, unsere Geduld zu schwach, die Toleranzschwelle zu niedrig. Selbst wenn keine Nähe im Spiel ist, gibt es doch eine Kraft, die übertragen werden kann und uns fest aneinander schmiedet. Quasi verkeilt ineinander fügen wir uns keine Schmerzen zu. Auch keine Lust, keine Freude, kein Begehren. Ganz passiv erleben und erleiden wir beide dieses Programm, das Tanz, Musik, Körper und Begehren bedeutet. Und wäre es auch nur der Maske wegen gewesen, die du mir geschenkt hast für diese Stunde und Nacht.
Ich bin kein Magier, auch wenn du es vielleicht glaubst. Du bist du, ich bin ich. So werden wir bleiben und zu bestehen versuchen im stillen Miteinander, Nebeneinander und Gegeneinander, welches Begegnung, Beziehung, Liebe genannt werden mag. Eben als ein Ich und als ein Du. So glaube ich zumindest. Zwar neuartig genug, aber immer doch ehrlich und wahr.
Als du schließlich resigniert aufgegeben hast, war auch das Spiel der Worte, selbst dieser meiner Worte jetzt, die ich schwierig genug habe finden müssen für dich und mich, zu Ende. Die Hartnäckigkeit, wie wir diesem Programm folgen, ja folgen mussten, hat uns in einen Taumel versetzt, der uns verschlingt und unsichtbar gemacht hat, sagst du. Um uns nicht voreinander verstecken zu müssen, haben wir eine neue Sprache zu sprechen versucht. Aber verstehen konnten wir uns nicht. Wir waren tatsächlich irgendwann verschwunden, auch wenn ich es nicht glauben kann. Vor uns stand ein Ende als Neubeginn.
Haben wir ihn gewagt? – Sei Du, sei Ich, und sei nicht verschwunden!
(1) Enrique Iglesias, Turn the Night up