295 Novellen zur Zeit (5)
Engel aus Feuer und Eis
Sie sind groß gewachsen, schlank und stolz und sie haben, wie Baudelaire schreibt, eine dunkle Sehnsucht in den Augen, eine Sehnsucht, die grüblerisch und unergründlich ist, die wir nicht kennen und die wir, wenn wir ehrlich sein wollen, auch gar nicht kennen lernen möchten.
Ihr Körper und seine Funktionsweise scheint trotz allem Wohlstand und Luxus der Zeit matt und wie ausgezehrt von einer langen und heftigen Leidenschaft, von einem harten Kampf. Denn voll Ehrgeiz, Stärke und Elan und wie übermütig greifen sie nach den Sternen, lieben sie unbekannte Landschaften, neue Erfahrungen und Abenteuer, die uns ängstlich zurück schrecken lassen würden.
In jedes Fahrzeug würden sie ohne Zögern einsteigen und wegfahren wollen, welches Ziel auch immer angegeben sein mag. Nächtliche Gefahren würden nebensächlich werden, nebensächlich wären Nebel, Regen und Sturm, die doch alles verdüstern und dunkler werden lassen können.
Unnahbar schön sind sie, und wenn sie wie eine Kerze oder Fackel brennen dürfen, entzünden sie einen jeden von uns, der in ihre Nähe oder in ihren Einflussbereich kommt. Stolz und selbstsicher muten sie sich jegliche Arbeit, jegliche Aufgabe zu, sie fühlen sich allem gewachsen – nur nicht dem jedoch, was wir gemeinhin unter Arbeit oder Aufgabe verstehen, denn diese Begriffe und diese meine Sprache, sie verstehen sie nicht mehr.
Starr ist ihr Blick und fest sind Ihre Gedanken, doch immer schwanken sie im Urteil, wie wenn sie sich nicht festlegen oder entscheiden könnten. Denn niemals würden sie sich endgültig oder definitiv einer Sache, einer Gewissheit, einer Idee oder Verführung anvertrauen – Vertrauen, Glaube, Gewissheit, das gibt es nicht mehr für sie.
Was haben sie zu hoffen, was zu fürchten? Von welchem Begehren sind sie getrieben, welche Sehnsucht lässt sie immer wieder so abgründig und schwermütig werden?
Manchmal glaube ich, dass sie nur Kunstfiguren einer künstlichen Welt der Romane und Abenteuer-Erzählungen sind, Nebenformen der neuen Mythen von Film, Video, Computer oder Trick und ganz ohne einen direkten Wirklichkeitsbezug. Denn blicken sie uns nicht bereits mit ihren verträumten Augen in den Zeitschriften an, lächeln sie nicht von den großen Reklamewänden auf uns herab wie Mona Lisa oder die Sphinx?
Sie verzaubern sich selbst und uns mit dem Schleier der Maya oder dem Schatten des Morpheus und manchmal kommt es mir vor, als simulierten sie ihre rätselhafte Existenz, um alles nur als ein Spiel darstellen oder auffassen zu können. Denn gefesselt sind sie wie wir alle auch an eine Zukunft, die vom Schein, der Verdoppelung und einer an Sensation oder Lust orientierten künstlichen Welt beherrscht wird.
Nachts, wenn die Geister und Gespenster oder alle Engel und Teufel unsere Heiligen Mutter Kirche kommen, dann meldet sich zuweilen auch bei Ihnen die Vergangenheit zurück. Die Nacht lässt ihr unruhiges Gemüt stillstehen und aufhorchen, nur die Nacht ruft einen Gegenstand oder eine Erfahrung in die Erinnerung zurück, die uns unbekannt bleiben würde.
Gegenwartslos leben sie wie wir alle in einer gegenwartslosen Zeit. Der Zerrspiegel, in dem sie sich fortwährend betrachten müssen (und nicht nur nachts oder in den großen Diskotheken der Stadt), dieser Zerrspiegel enthüllt gerade nicht ihre Schönheit und Einzigartigkeit, sondern nur die unnahbare Kälte und Gleichgültigkeit ihres Körpers und ihres Begehrens, die Geschlechtslosigkeit ihrer angeblichen Zweigeschlechtlichkeit.
Und er zeigt immer wieder auch die Banalität eines Alltags auf, der sie wie ein Gefängnis im Nirgendwo und Nirgendwohin festhält, die Desillusionierung, sich mit Träumen, mit Wohlgerüchen, seltsamen Verkleidungen und sonderbaren Maskeraden am Leben halten zu können.
Ihr Leben ist, ich sagte es bereits, ein Leben voller Künstlichkeit und Kälte, voll sehnsüchtiger Wehmut und selbstgewisser Zweifel. Ein Leben, das die Ekstase nicht ausschließt, sondern sucht, selbst wenn der Schlüssel dazu verloren gegangen ist. Aufrecht erhalten – das wäre vielleicht ein Thema, ein Sinn und Zweck und Ziel. Aufrecht auch im Zusammenbruch, im Abwegigen, Starren und Erkalteten, in der Hartnäckigkeit, mit welcher ein Weg, eine Spur ohne Umkehr beschritten wird und doch nicht beschritten werden kann, das Schwanken der Positionen und die Banalität der alltäglichen Verrichtungen, die man nur widerwillig auszuüben bereit ist.
Davon fliegen in Luxus und Langeweile, doch wohin? Sprachlos und schweigsam in sich gekehrt, im offenen Versteck dunkle Botschaften austauschend und sich der Einsamkeit in einer mehrfarbigen Welt voller zusammengeklaubter und zerstückelter Teile überlassend, wozu selbst eine so ästhetisierte Haltung und Sprache wie die meine scheinbar mit dazugehört.
Den Blick in eine Richtung gelenkt, wer weiß die Richtung? – das Sprechen gebildet, ironisch und verworren zugleich, auch um die Unmöglichkeit wissend, jemals wieder sprechen, handeln, lachen oder aufbegehren zu können.
Wir möchten sie berühren und diese Erstarrung gewaltsam aufbrechen, die Hässlichkeit dieser Schönheit bloßstellen. Selbst sexuelle Kontakte möchten manche von uns provozieren mit Techniken und Methoden, vor denen wir bislang nur Abscheu und Widerwillen verspürt haben und auch auf die Gefahr hin, unser aller Zustand der einsamen Gleichförmigkeit und Langeweile gerade dadurch noch mehr zu verstärken. Doch wer vermag schon mit Liebe oder Sex eine so fundamentale und seltsame Einsamkeit und Existenzweise zu durchbrechen? –
Eines Tages, so träumen sie, werden wir an dieses Ziel gelangen. Sie sagen „dieses“ – doch trotz aller grammatischen Bestimmtheit wissen sie am allerwenigsten, wo dieses Ziel gelegen ist, wer es definiert und wie man es überhaupt definieren könnte. Zwar weist das Pronomen „dieses“ auf etwas hin, als wenn etwas bekannt, zielgerichtet, logisch und klar wäre und vor uns liegen könnte selbst im Falle einer ziellosen Leere, aus der sie scheinbar kommen und wohin sie vielleicht auch zurückkehren werden.
Doch alles bleibt ziellos, mit und ohne Leere, unbestimmt auf ein Ende hin und in weiter Ferne schicksalhaft verschlungen. Ausgesungen und verträumt wie ein leerer Tag, eine leere Sprache wie vielleicht jetzt auch, die schöne und kluge Worte findet und genaue Beschreibungen, ohne etwas sagen zu können, ohne das Wesentliche zu benennen selbst wenn sie es wollte.
Weder sind sie, das habe ich bereits herausgefunden, Opfer der Nacht noch Opfer des Tages, weder sind sie an die Jahreszeiten noch an Monate oder Stunden gebunden, weder vertrauen sie der Einsamkeit noch dem Alleinsein, dem Ich, dem Du oder der Gemeinschaft. Sich selbst vertrauen sie trotz aller Selbstsicherheit am wenigsten.
In politischen Angelegenheiten entscheiden sie sich, stigmatisiert wie sie sind und mit dem Zeichen auf der Stirn, für die Minderheit und das Singuläre, denn sie verachten die Pluralität und Mehrheiten, die ihnen zu persönlich, zu banal oder zu langweilig erscheinen. Niemals würden sie sich mit den kleinen Dingen und unserer kleinen Welt begnügen, selbst wenn es keine großen Dinge oder eine große Welt, wie sie sie erträumen, geben könnte.
Sie lieben sich selbst und sie sprechen zuweilen geheimnisvoll zärtlich mit der Musik, mit den Bildern der Stadt oder den Worten eines seltsamen Textes. Mit den Göttern der Liebe haben sie darüber hinaus ständigen Kontakt. –
Gib ihnen die Sehnsucht der fahrenden Völker, möchte ich noch einmal Baudelaire zitieren. Lass sie unruhig zittern und kämpfen und stark sein, den Finsternissen der Zukunft zum Trotz, ein wohl bekanntes Reich.