299 Novellen zur Zeit (9)
Mein Sex
Mein Sex ist unersättlich. Er möchte alles und jedes und unermüdlich treibt er mich voran. Ich leide und genieße, und immerfort bin ich auf der Suche wie jeder andere auch, der sich mit den modernen Menschen und der modernen Zeit noch verbunden fühlt.
Als Wolf streife ich durch den Dschungel unserer fortschrittlichen Beziehungen, jage durch Auszehrung und Erschöpfung und betrachte mich selbst. Kein Gesetz, kein Gebot, keine Einschränkungen kenne ich, nur die große Sehnsucht. Nicht überlegen, lautet die Devise, nicht zaudern, nicht abwägen, sondern zugreifen, greife an!
Die Größe der Organe hat keine Bedeutung, die Schönheit der beweglichen Körper ist im Dunkeln nicht unterscheidbar, die Blässe der Haut tut nichts zur Sache, auch nicht die nächtliche Verzweiflung und deine große Traurigkeit dann und wann.
Mein Sex ist sprachlos. Ich behandle ihn wie ein Kind, bin um ihn bemüht, pflege ihn, ohne dass ich ihn bändigen möchte, denn er will hier und jetzt und alles gleich. Ich kann es verstehen und gestatte es ihm. Um ehrlich zu sein – sein dankbarer Sklave bin ich ganz.
Wen reizen nicht die schönen Bilder auf den Reklamewänden, die verführerischen Bildschirme, ein Augenzwinkern um die Ecke, wenn das heiße Unbekannte lockt. Mehr als alles andere liebe ich mich und meinen Körper, und der Schlüssel zum Glück sei die tägliche Lust.
Ich bekenne, auch auf die Gefahr hin, mich lächerlich zu machen, dass ich nie genug erhalten kann von diesem süßen Duft des Lebens. Ich werde nervös und krank, wenn es mir nicht immer wieder gelingt.
Mein Sex besitzt viele Gesichter und hat viele Geschlechter. Er gibt und empfängt, nimmt und verschlingt und kümmert sich nicht um die Personen, mit denen er es zu tun hat. Er liebt Kinder und Tiere, bewundert die Peitsche, die ihn nicht im Zaum zu halten vermag. Er ist unpersönlich, ihn reizen Qualen und Gefahren, er breitet sich über alles aus, was sich ihm bietet in der belebten und unbelebten Natur – Computer und Puppen sind nur eine Ersatzlösung.
Mein Sex sucht auch, ich gebe es zu, das Ende. Nachts, wenn der Mensch alleine hinter den großen Vorhängen und einsamen Fenstern steht, gegenüber die Hochhaussiedlung der Vorstadt, unten rauscht ununterbrochen der endlose Verkehr. Man sieht Menschen und Gesichter, sie alle hasten nach Hause, eilen, sich zu wälzen in den vier Wänden des Unglücklichseins. Wer möchte da nicht auffliegen wie ein Vogel, sich ausbreiten, davon machen und alles vergessen.
Aber die Unschlüssigkeit wirft uns zurück, die Uhr schlägt zwölf, die nächtliche Fernsehschau geht zu Ende und ich erkenne: mein Sex ist mein Sex, ich besitze ihn und er will von Neuem beginnen.
Morgen ist wieder ein Tag.