305 Über Isosthenien 4 (Gleichwertigkeiten)
Über Isosthenien
Bei Diskussionen oder Auseinandersetzungen mit Sprache, mit Worten(und alles bleibt immer Sprache, selbst in der Marhematik) treffen immer wieder Thesen und Antithesen als dialektische Gegensätze aufeinander. Sprache zum Finden von Wahrheit hat sich als das wichtigste menschliche Kulturgut, wie ein Leben gelebt werden kann, gelebt werden soll, das sich von der Tierwelt abgrenzt, schon seit mehr als 3000 Jahren gebildet und weiter entwickelt. Sie wird nur immer wieder als ein Instrument des Verstehens und der Verständigung vergessen. Etwa wenn Unwahrheit und Lüge oder auch ein scheinheiliger Populismus, der die weniger Sprachmächtigen, d.i. auch weniger Wissens-Mächtigen, umgarnt, mit Emotionen verführt und fehl leitet, ins Spiel kommen, wie es gegenwärtig anschaulich zu beobachten ist. Es gibt wieder schlechte Vorbilder und Geschichte wiederholt sich, auch ihrer Katastrophen(Seufz). Doch dass man mit Worten und Argumenten Wahrheit und Wirklichkeit erkennen kann, man dergestalt zur Wahrheit gelangen könne, zumindest in deren Vorhof, das glaubt man im Anschluss an Heraklit, Platon, Hegel oder Marx bis auf den heutigen Tag.
Ich letztlich auch, selbst wenn ich gelegentlich das (isosthenische) Gegenteil zu behaupten und zu beweisen scheine. Aber das geschieht nur aus heuristischen Zwecken, quasi um den Disput anzufeuern und wach zu halten. Wenn alles vergeblich wäre – lasst alle Hoffnung fahren, schreibt Dante beim Eintritt in die Unterwelt – würde ich mich, wie auch jetzt wieder, nicht an dieses komplexe und mehrschichtige Problem der Wahrheitsfindung mittels Sprache, Handy oder Blog einschließlich der Gefahr einer Sprachverkümmerung wagen. Obwohl ich manchmal doch auch andere Wege gehen will, gehen kann. Denn es gibt auch Wahrheiten jenseits oder außerhalb von Sprache. Musik zum Beispiel oder Poesie können einen anderen Zugang zur Wahrheit finden. Doch Politik, Kultur, Wissenschaft, Mathematik, auch alle Soziotope, in denen zu leben wir mehr oder weniger gezwungen sind – sie brauchen geschriebene und gesprochene Sprache wie Körper und Geist das Blut. Wobei mir die geschriebene verkürzte Sprache der Gegenwart in Form von Kurznachrichten und Mails immer problematischer wird. Dass wir in unserer Vielschichtigkeit damit immer weniger erreichbar sind, eingesperrt in einen Solipsismus, der uns voneinander trennt und noch mehr fremd werden lässt. Selbst das Blogschreiben geht oft bereits in die Richtung einer geistigen Verkrüppelung.
Ein Zentralbegriff in diesem Diskurs über Wahrheit ist die Argumentation. Im abendländischen Denken wird sie meist angewendet, schon immer in Schulen der Logik oder Rhetorik gefördert, weiter entwickelt. Wie sinnvoll Sprechen und Schreiben sein kann, so lautet ihr Anliegen, wenn es um Interessen-Gegensätze und Entscheidungen pro oder contra geht. Wie sich verständlich machen, wenn man nicht verstanden wird. Wie eine Störung der Kommunikation h e i l e n , muss man wohl sagen. Denn Sprache und Sprechen betreffen den ganzen Körper des Menschen, Geist, Seele, Gefühl, Leben. Wir sind keine Maschinen, die einfach nur durch Austausch defekter Teile repariert werden können, sondern eine sehr komplexe Ganzheit.
Bis zuletzt haben sogar die sogenannten postmodernen Philosophen, allen voran François Lyotard, den Diskurs, den argumentativen Streit als mit das Wichtigste im menschlichen Leben angesehen. Das hat der französische Philosoph mir im persönlichen Gespräch nachdrücklich bestätigt(1). Immerhin war auch er kein Gegner der Frankfurter Schule von Habermas oder Apel. Im Gegenteil, auch er akzeptiert Apels Theorie der Letztbegründung in Wahrheitsfragen. Trotz eines all umfassenden Relativismus und einer Alles-geht-Haltung mancher Philosophen seiner philosophischen Richtung, um nicht von Weltanschauung reden zu müssen. Nicht die immer so relative, so vergänglich-fehlerhafte Wahrheit als Übereinstimmung wird gesucht, die sich bilden kann im Wider-Streit, wie gern gesagt wird im Sinne einer Dafür-oder-Dagegen-Auseinandersetzung. Sondern im Sinne einer Konfrontation von zwei Menschen, einer auch emotionalen Konfrontation, die der Wahrheit näher kommen kann als schließlich einer Lösung des Problems im Sinne von schlechtem Konsens. Immerhin ist man im Streit sich zumindest emotional näher gekommen, hat sich authentisch als Person mit eingebracht in dieses Sprachspiel, in diesen Diskurs. Nicht immer und ganz, aber annähernd und dann und wann.
Worte bei Auseinandersetzungen zu verwenden, das war die größte Errungenschaft des antiken griechischen, später auch des römischen und abendländischen Denkens bis in die unmittelbare Gegenwart hinein. Nach den zahlreichen todbringenden Schlachten hat man sich schon in der griechischen Tragödie früh auf die Nützlichkeit der Worte berufen. Siehe auch Goethes klassisches Iphigenie-Kunstwerk und sein Plädoyer darin für eine gewaltfreie Auseinandersetzung nur mit Sprache. Vorstufen zum totalen Krieg sind immer wieder rhetorische Gewalt (cum ira et studio), sophistisches Können, Rabulistik, Kampfbereitschaft, die Schlacht, das Totschießen, was es doch zu verhindern gilt. Sagt die Natur und auch der Gott des Christentums, ebenso alle Weltreligionen.
*
Meine Haltung, was das Argumentieren betrifft, ist jedoch weiterhin die Folgende und ich stütze mich dabei in meinem wichtigsten Satz gleich zu Beginn auf die antiken Skeptiker, allen voran Sextus Empirikus, manchmal auch auf die griechischen Sophisten : Jede These, jede Antithese in einer sprachlichen Auseinandersetzung kann gleichermaßen gut bewiesen wie widerlegt werden. Nicht unbedingt sofort, gerade auch nicht von jedem und allen; aber doch im Laufe der Zeit und je nach den Fähigkeiten der Argumentierenden. Es hängt wesentlich vom Stand des Wissens und der Fähigkeit zur (emotionalen)Gesprächsführung ab. Neue Erkenntnisse entwickeln sich im Laufe der Jahre und Jahrzehnte, widerlegen alte; neue Daten und Fakten werden hervor gezaubert wie auch immer oder auch nur als Fake präsentiert und so fort. Selbst der Begriff „Wahrheit“ hat eine sehr intensive innere Begriffs-Dynamik.
Wie jedoch leben und handeln in einer solch schwierigen geistig-emotionalen Situation?
Bei solchen Gleichwertigkeiten (Isosthenien) solle man sich einfügen in die Tradition, die Gesetze, in die Umgebung, die Lebensform, in der man gerade lebt. Dies die Haltung von Sextus Empirikus(2). Keine vorschnellen Entscheidungen und Urteile fällen. Besser gar keine und neutral bleiben, sich enthalten. Also das Soziotop akzeptieren, in dem man zu leben gezwungen ist – wie gut, wie schlecht auch immer. Was in dem einen Land, in dieser Familie und Kultur geht, geht in dem anderen Land und in dieser Familie und Kultur gerade nicht. Siehe nur den unterschiedlichen Umgang der Kulturen mit Religion, Familien-Bildung, Sexualität, Staatsform, Gesetzen und dgl. Wie unterschiedlich ist doch die amerikanische und die deutsche Rechtsprechung. Zwar sind die Gesetze ähnlich; aber wie unterschiedlich, ja fragwürdig ist doch der Weg mancher Rechtsprechung zum Durchsetzen dieser Gesetze.
Diese Gegensätzlichkeiten müsse man gerade aushalten, akzeptieren, tolerieren lernen; man solle sie gerade nicht bekämpfen im Sinne von Wahrheit und Recht-haben-Wollen. Die Tradition zeige uns in Zweifelsfragen, wie wir leben sollen. Denn auch die Tradition besitzt eine Evolutionsgeschichte, wie ich glaube: Letztlich hat sich auch in der Tradition nur das durchgesetzt, was sich im Laufe der Jahrhunderte, vielleicht sogar der Jahrtausende bewährt hat im Menschengeschlecht. Siehe die Entwicklung der Sprache. Auch in der Tradition gibt es soziale und geistige Ebenen, die kommen und gehen, die sich bewährt haben, die verworfen worden sind, weil sie dem Leben und dem Zusammenleben letztlich dienlich oder schädlich waren.
Die Dialektiker sagen: These und Antithese reiben sich aneinander, bekämpfen sich. Das sei gut, denn nur so und daraus entstünde etwas Neues, die Lösung eines Problems. Letztlich sogar eine „Synthese“, die die Wahrheit auf eine „höhere Stufe“ heben würde. Ich denke jedoch eher, dass es oft Zustände von Gegensätzlichkeit gibt, die sich gerade nicht aufheben lassen zu etwas Neuem, sondern die sich sogar manchmal unversöhnlich oder auch fremd gegenüber stehen und gerade keine Synthese fördern oder argumentationstechnisch formuliert zu einem Konsens (Habermas) führen müssen. Vor allem Synthesen, die zu knappen Mehrheits-Entscheidungen führen können wie bei der demokratischen Willensbildung (eine kleine Mehrheit überstimmt eine große Minderheit) sind oft nur Scheinlösungen. Da müssen die Menschen schon eine gute Portion demokratischen Willens besitzen, um solche Mehrheitsentscheidungen schließlich zu akzeptieren und mit zu tragen. Das bedeutet oft: aushalten lernen zumindest für eine absehbare Zeit.
Ich denke, es gibt darüber hinaus noch eine andere, von Geistesarbeitern und Intellektuellen sehr unterschätzte Begegnungsform, die sich um Wahrheit kümmert, nämlich die der Gefühle. Gefühlsmäßige Auseinandersetzungen sind etwas sehr Kompliziertes. Denn Worte, die bei solchen Streitereien, muss man oft sagen, verwendet werden, sind meist nur Masken, Attrappen, die man nicht ernst nehmen kann, weil man gefühlsmäßig spürt, dass hinter den Worten etwas ganz anderes steht. D.h. man kann auch ohne Worte gefühlsmäßig richtig oder falsch entscheiden – eine Domäne der Frauen, wie manchmal behauptet wird. Ich denke sogar, ähnlich wie Vergil im Dido-Buch seiner „Aeneis“, dass tatsächlich durch Leidenschaft und heftige Gefühle sogar kriegerische Auseinandersetzungen entstehen, aber auch gelöst werden können. Dass nicht zuletzt bei einer Kriegserklärung auch emotionale Faktoren eine Rolle spielen, die am wenigsten uns „Rationalisten“ klar sind. Mit Herz und Hirn entscheiden, empfiehlt der Volksmund.
Doch wie soll nun vorgegangen werden, wenn es keine Einigung im eben genannten Sinne geben kann? Im emotionalen, im rationalen Sinne? Wenn scheinbar nur noch die Macht der Gewehre, Gewalt und Unterdrückung das Sagen haben? Wenn sogar das Verständigungsmittel Sprache schon von vornherein ausgeschlossen scheint wie etwa bei offensichtlichen Lügen (Fakes) oder gegenwärtig im Syrien-Krieg, der teilweise doch auch ein (emotionaler?) Stellvertreter-Kampf der in Sunniten und Schiiten gespaltenen Religionsgruppen ist? – Das eben geschilderte philosophische oder sprachlogische Problem der Gleichwertigkeit besteht nur in sprachlichen Dingen. Wenn in einer Auseinandersetzung keine Worte verwendet werden, gibt es andere Problemlösungsversuche. Schlimmstenfalls sind es die Waffen, die dann sprechen müssen. In Liebesstreitigkeiten hilft manchmal aber auch schon ein Kuss.
Auseinandersetzungen finden jedoch nicht immer eine Lösung. Gelegentlich muss man auch über Stärke und Kraft einer Kapitulation nachdenken, auch wenn dies unserem Wesen und vielleicht sogar der Natur mit ihrem Selbsterhaltungstrieb widerspricht. Eine Kapitulation in Ehren und Stolz – was soll daran schlecht sein? Sich einfügen in das Schicksal, die gespurte Spur, die nur sehr selten von uns gespurt werden kann, akzeptieren? – Ich habe das vielleicht sogar resignative Einfügen in eine manchmal auch veraltete Tradition angesprochen, welcher man sich beugen müsse, der Macht auch der Altvorderen, die in der römischen Kultur so ausschlaggebend war. Ausschlaggebend dort sogar zur Begründung und Rechtfertigung der Monarchie, wobei der Familienstammbaum fast das Allerwichtigste war. Caesar führte seinen Stammbaum bekanntlich auf Venus zurück, Kaiser Augustus mit Hilfe des Schriftstellers Vergil auf den Trojaner Aeneas.
Eine Alternative und Antithese bereits in Rom entwickelte für einige wenige Begüterte die Schule Epikurs: Lebe im Verborgenen, so die Lehre, und in einem Kreis Gleichgesinnter ganz jenseits von Politik. Suche in deinem Versteck das angenehme Leben, ein Wohlleben sozusagen, das sich nicht von irrationalen Ängsten peinigen lässt (etwa dass es einen strafenden Gott oder einen Hades gäbe), auch sich nicht Aristipps hedonistischer Ekstase der Lust opfert – höchstes Glück in Epikurs Philosophie sind nicht Lust, Spaß, Vergnügen, sondern das geistige Gespräch unter Freunden in schöner Umgebung.
*
Doch wie das tägliche Leben leben? Ich denke, wenn ich immer wieder die Worte Maurice Blanchots auch mittels Musik formuliere: Mache, dass ich zu dir reden kann, dass ich damit meine, dass wir dennoch eine Schnittmenge der Worte finden müssen, in welcher wir uns begegnen können. D.h. dass die Punkte des NichtVerstehens, wo es keine Übereinstimmung geben kann im Handeln, im Denken, im Sprechen, dass solche Punkte einfach ausgeklammert, an die Seite gestellt werden sollten in unserem privaten Leben. Wenn möglich. Und dass es gleichwohl dennoch fast immer auch Punkte gibt, wo wir sehr gut und ganz ohne Probleme miteinander kommunizieren, miteinander leben und auskommen können. Idem velle et idem nolle – Gleiches wollen und Gleiches nicht wollen, so definierten die Römer Freundschaft.
Erreichbar sein, das ist auch hier ein Zauberwort, der Schlüssel. Mache, dass du erreichbar bist für mich, sprachlich im Geistigen, aber auch gefühlsmäßig im Emotionalen. Gleiches gilt umgekehrt: Dass ich erreichbar bin für dich. Also dass du erreichbar bist für mich und ich für dich. Diese eminent wichtige Lebenstechnik (ebenso wichtig wie Ernährung, Sex, Gesundheit, Religion, Kunst, Bildung) sollen wir beherrschen oder auch lernen. Dass es in beiden Fällen, im Sprachlichen wie im Emotionalen, eine Übereinstimmung, eine mehr oder weniger große Schnittmenge geben muss. Sein Ich ganz im Anderen zu finden, das mag eine narzisstische Illusion sein. Aber Ziel und Wunsch vieler Menschen ist doch, verstanden zu werden, berechenbar, authentisch zu sein. Also auch sein Ich im Anderen zu finden und sich darüber auszutauschen.
Wie leben – das bedeutet also innerhalb unserer Lebensformen, die sich oft so fremd und unverständlich gegenüberstehen fast wie die Tiere in ihrer Welt und Lebensform, es bedeutet ein Sprachverhalten zu trainieren, sprachlich-geistige und emotionale Schnittmengen zu finden, die es uns möglich machen, miteinander klar zu kommen ohne uns die Köpfe einschlagen zu müssen. Das bedeutet, ich wiederhole mich, Probleme ausklammern, sie verschieben, an die Seite unseres Sprachspiels, unseres Diskurses stellen; ja, auch verdrängen, selbst wenn Letzteres von Freud weniger gerne gehen wurde. Und : Sich erfahrbar, erreichbar werden zu lassen. Das Leben will leben und sterben verhindern, so lange es geht. Das tägliche Leben geht weiter mit und ohne Worte wie bei den Tieren in ihren – soll ich sagen „Soziotopen“? Wobei ich mir immer wieder aus Neugierde den Spaß und das Risiko erlaube, in fremde Soziotope einzudringen und mich dort um zu schauen und zu lernen, wie man auch anders leben kann als ich es mache und ob dies einen gewissen Vorteil mir für mein tägliches Leben einbringen könnte.
Nein, ich werde nicht dreimal am Tag den Teppich ausrollen und auf die Knie fallen zum Beten, in Darkrooms der seltsamsten Art Lust und Vergnügen in Anführungszeichen suchen oder auch nur stundenlang dasitzen und meditieren. Kennengelernt habe ich bereits viele solcher mir fremden, auch unverständlichen Lebensformen. Reisen bildet, sagt der Volksmund. Jedoch mit dem Ergebnis, dass ich meist – das Leben ist voller Widersprüche – dennoch eine Entscheidung finde, zu einer Entscheidung fähig bin. Dass ich also gerade nicht wie Buridans Esel elendiglich zu Grunde gehen und verkümmern muss, weil ich voller Zweifel mich nicht entscheiden kann, welchen Heuhaufen ich denn gerade jetzt essen soll.
(1) Siehe mein Interview mit Jean François Lyotard “Wie vernünftig ist die Vernunft?”(taz 9/1985)
(2) Sextus Empirikus, Grundriss der pyrrhonischen Skepsis (Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft 499)
Lektüre: 148 Über Isosthenien (1) 181 Wieder gelesen: Skepsis, Skeptiker und Technokratie 215 Über Isosthenien (Antwort) 218 Über Isosthenien (2) 232 Über Isosthenien (3) 236 Sextus Empirikus (1) 237 Sextus Empirikus (2) 242 Über Skepsis
Alle Bücher von Reinhold Urmetzer in Nr.282