310 Wieder gelesen: Über Liebe und Lust
Platons Phaidros
Mein früher Blog Aufsatz Nr. 22 über Platons „Phaidros“ wird ebenso wie auch Derridas folgenschwere „Eurozentrismus“-These (Nr.45) immer wieder angeklickt. Heute stammt der (wohl männliche} Leser aus Österreich. Mein Text jetzt und an dieser Stelle nenne ich „Über Liebe und Lust“ und er trifft genau ins Herzstück der gegenwärtigen Gender-Debatte, die so sehr wieder vom aggressiven Amazonen-Feminismus bestimmt wird, vor allem in den USA. Dieser hat dort und auch bei uns sogar eine neue Männerbewegung in die Welt gesetzt: „Männer gehen ihren eigenen Weg“, Men Go Their Own Way (MGTOW). – Und: „Gehe als Mann nicht in einen geschlossenen Raum, wenn eine Frau alleine sich darin befindet“. Mit dem Ergebnis, dass die Frauen immer mehr männerlos werden (oder sage ich besser männerfrei? männerarm?) und sich sogar schon Gedanken um die künstliche Reproduktion der Art machen müssen. Achtung Spoiler-Alarm: Was relativ leicht gehen wird.
Umgekehrt empfehle ich schwulen Männern bei Fragen der Reproduktion (und die werden tatsächlich mittlerweile immer mehr an mich gerichtet) eine Menage à trois mit einer Feministin, weniger mit einer Lesbierin. Erstere sind nicht unbedingt immer nur männerfeindlich. Sie können in einer Mutterrolle zusammen mit zwei Männern dergestalt einen sehr befriedigenden und neuen Sinn sehen. Sie können glücklich werden in einer solchen Art von Familie. Diese würde vielleicht auch Freud samt seiner (dogmatischen?) Geschlechter-Trennung gefallen: dass nämlich zur Identitätsfindung von Kindern Mann und Frau gehören.
Es geht gegenwärtig nicht mehr um Hetero-oder Homosexualität, ein Begriffspaar, das der Behaviorismus als eine weitere große dogmatische Irrlehre im letzten Jahrhundert in die Welt gesetzt hat: 3x Orgasmus mit Männern, 7x mit Frauen also nicht-schwul. Es geht mehr um die Verwirrung des Begriffs Liebe, welcher die Lust ein-wie ausschließen kann (geistiges Lieben, emotionales Verlieben, Begehren und Sex). Es gibt Sex ohne Liebe und Liebe ohne Sex. Es gibt Begehren ohne Sex und Sex ohne Verlieben etc. Auch über dieses Thema habe ich immer wieder geschrieben.
Ein Letztes deshalb heute: Philosophisch betrachtet geht es zukünftig nur noch um die ethische Frage, in wieweit die sinnliche Lust, das ist auch mehr als nur die Sexualität, unser Leben bestimmen darf, bestimmen kann, soll, muss. Zu allen vier Möglichkeiten hat es in der Antike bedenkenswerte Antworten einflussreicher philosophischer Schulen gegeben, etwa die Positionen von Aristipp, Epikur, der Stoa, des frühen Christentums. Der Stoiker Anthistenes etwa sagte 400 v.Chr.: Lieber wahnsinnig werden als Lust zu empfinden. Auch heute geht es nicht mehr etwa in Sachen Sexualität um die dogmatische Festlegung hetero oder homo. Sokrates, Caesar, Catull, Seneca, Maecenas, Augustus, Vergil alle schwul? – Sondern nur um die Frage: wie hast du’s mit der Lust? Ich wiederhole mich: Dominiert sie dein Leben nicht nur in sexueller, sondern auch in vieler anderer Hinsicht. Oder ist die Lust nur Mittel zum Zweck. – Und zu welchem Zweck?
Ich denke, dass die Lust ein Mittel der Begegnung, der Kommunikation ist; nicht mehr und nicht weniger. Der Kommunikation: Des Zusammenfindens der Menschen zueinander und des gemeinsamen Zusammengehens vielleicht sogar bis zum Lebensende, ohne den Partner dabei zu wechseln. Ich nenne dies metaphorisch immer „die eigene Spur finden“ im Sinne von Schicksal oder im Sinne der freiheitsliebenden Existenzialisten, die eher selbständig und selbstbewusst ihre „Spur spuren“ möchten.
Die Lust kann also immer nur Mittel zum Zweck und nicht ein SelbstZweck oder einziges Ziel sein. Ist sie SelbstZweck, dann ist man Opfer eines körperlichen Zwangs, einer großen Unfreiheit. Ist sie Mittel zum Zweck, dann führt sie zum Du, zur Gemeinschaft und zum sozialen Miteinander im Nest, zum Schutz, zur Geborgenheit. Auch als Ablenkung von der ewigen Sinnfrage, warum und wozu das Ganze überhaupt existiert. In der Antike hat man sogar gelegentlich das gemeinsame Sterben mit eingeschlossen, indem Ehepaare, aber auch Freunde und LiebesPartner in der kriegerischen Schlacht gemeinsam in den Tod gegangen sind.
Platon ist in seinem „Phaidros“ insofern auch wieder richtungsweisend: Er lehnt die Lust nicht ab, sondern domestiziert sie in einer gewissen Hinsicht und auf ein bestimmtes Ziel hin, das überzeitlich, also geistig ist. In jedem Materiellen liegt der Todeskeim, das Ende. Nicht jedoch im Geistigen. Das konkrete sexuelle Vergnügen vergeht; nicht aber jedoch die Idee der Liebe.
Ausgeklammert habe ich in diesem Zusammenhang den buddhistischen Gedanken, dass alles Leid aus dem Begehren stammt, dem Nicht-befriedigt-werden-Können. Das Begehren sucht die Lust. Aber jede Lust will mehr, die Steigerung, ja sogar Ewigkeit. Nietzsches Zarathustra: „Jede Lust will Ewigkeit, tiefe, tiefe Ewigkeit“… Leid kann also nur durch den Verzicht auf Lust verhindert werden. Im Nirwana sein bedeutet den vollkommenen Verzicht auf Begehren, auf Wünsche und Lust.
Ich kenne in meiner näheren Umgebung gegenwärtig einen jungen Mann, der sich sehr offenherzig zu seinen modischen ONS-Kontakten bekennt oder über Polyamorie und dergleichen nachsinnt. Ich formuliere nicht nachdenkt, sondern nachsinnt. Die Angelegenheit ist nämlich m.E. eine Sache der Sinne und des Körpers und nicht des Geistes. Der wie ein Getriebener hinter seinesgleichen und diesen Menschen hinterher hechelt, sich von Ihnen beeindrucken, “daten“, befriedigen und steuern lässt und das war’s dann auch schon. – War das tatsächlich schon alles und wirklich? – Ja, sagt der 24jährige und lächelt mich einigermaßen gewinnend dabei an. Bevor man mir Roboter und anderes zur Verfügung stellt oder mit dem Klonen anfängt.
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Nachtrag 7.Juni 2019: Warum ich die Lust immer so deutlich infrage stelle und dafür propagiere, sie zu domestizieren und nicht nur in der Lust allein den Lebensweg sehe:
Ich denke, dass die Theorie von Sigmund Freud (in Lyotards Philosophie sind alle Hypothesen oder Theorien, selbst die der Naturwissenschaften nur „Erzählungen“, die einer Interpretation bedürfen) stichhaltig ist: Dass eine Kultur nur durch Sublimation von Lust entstehen und überleben kann. Würde man die Lust absolut setzen und total befreien, würde der Mensch nur noch für die Lust leben wollen und alles andere dabei vergessen. Es kann keine Kultur wie auch immer (Kunst, Institutionen, Forschung, Wissenschaft etc.) entstehen und das ganze gesellschaftliche System müsste zusammenbrechen.
Angeblich gibt es Experimente mit Affen, die nach einer Stimulierung des Lustzentrums im Gehirn sogar die Nahrung, also die Selbsterhaltung zugunsten der Arterhaltung ganz aufgegeben haben. Energie, Kreativität und Aktivität, wohl auch kriegerische Aggressivität (nach Wilhelm Reich) entwickelt die menschliche Natur, sagen wir ruhig auch „der Körper des MenschenTiers“ nur durch Sublimation oder auch „Kanalisierung“ von Lust.
Alle Bücher von Reinhold Urmetzer in Nr.282