311 Über Scheinlügenstunden (Popmusik 18)
Something that you said takes me back in time when we were still new. Something that we had. (The Highs)
Now that you’re gone – these days just go on and on and on. (Camp Claude)
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Zwei neue Lieder habe ich mir fast immerzu anhören müssen. Sie sind Abschiedslieder und zeugen von einer großen Desillusionierung. Mir geben sie die Möglichkeit, endlich einmal auch meine musikharmonischen Kenntnisse unters Volk zu bringen, indem ich euch darüber aufkläre (aufkläre?), wie sich in diesen beiden Liedern wieder fröhlich-traurig die Popkadenzen tummeln, also Tonika, Dominante, Doppeldominante, welche die traditionellen TSD- Kadenzen fast ganz aus der Popmusik verdrängt haben.
Im zweiten Lied „Now That You’re Gone“ gibt es auch noch die typischen Akkord-Rückungen, wie sie in der Tradition lange Jahrhunderte verboten waren(!), etwa einen Akkord in g-Moll neben F-Dur zu setzen. Ein Fehler, den die Impressionisten schließlich dann bewusst und sehr erfolgreich eingesetzt haben. Ihr bemerkt: Fehler können fortschrittlich sein. Macht also Fehler (in der Kunst)! Auch eigene Irrtümer und Katastrophen haben einen meist doch irgendwie weiter gebracht.
Was für eine melancholische Männerstimme im ersten Lied mit dem seltsamen Titel „Panama – Hope for Something“! Fast nur noch ein Hauch, ein Windhauch von verblichener Männlichkeit ist da vorhanden. Ein früher bösartig so genanntes „Männlein“ klagt fast emotionslos vor sich hin. Übereifrige Feministinnen hatten eine Zeitlang in Ihrem Emanzipations-Wahn (als wenn es Emanzipation überhaupt geben könnte) gegen die Formulierung „Fräulein“ diese Neuprägung durchsetzen wollen. Mann hat sich jedoch mit Unterstützung von Frau erfolgreich dagegen wehren können und dann auch das „Fräulein“ gleich mit abgeschafft.
Umgekehrt wird im zweiten Lied der Gruppe „Camp Claude“ (das französische Guantanamo) mit einer heftig wilden und selbstsicheren Amazonenstimme kurz nur das so verführerische Lied begonnen, um dann aber doch ganz schnell in eine wunderbare engelsgleiche Falsett-Stimme umzukippen (oder sage ich besser Kastratenstimme?), die unser Herz berührt ebenso wie die zart-sanfte und euphemische Männerstimme im ersten Lied.
Was für eine Welt! Euphemische Engelsstimmen voller Selbstmitleid (ich gehöre auch dazu) und immer wieder die Hoffnung: Let us start again oder die Klage einer Französin: Jetzt wo du weggegangen bist...Was für eine Zeit! Früher wurde noch von der Prae-Punk-Anarcho-Gruppe MC 5 lautstark gegen die No Future-Welt gepoltert, geschrien „Kick out the Jams“ und uns einzuflüstern versucht (nicht von Wilhelm Reich, nicht von Herbert Marcuse): Wer zweimal mit d.Gleichen pennt… (Hallo EE!)
Also lassen wir besser das Verlieben, diesen emotionalen Rausch, der uns zum Du führen soll, will und kann, zu Lust und Körper und Familie, um endlich eine geregelte Spur zu finden in der Obhut (Obhut?) einer Gemeinschaft. Aber irgendwie brauchen wir doch die Abwechslung mit diesen Scheinlügenstunden, oder? Wie langweilig wäre sonst alles. Wir in unseren Hamsterkäfigen von Selbstverwirklichung, trauriger Jugend-Arroganz und verblendendem Irrtum. Dann doch besser nicht geboren sein (seufz).
The Highs, „Panama – Hope for Something“(YouTube:Panama – The Highs, Official Audio 4.15)
Camp Claude, „ Now That You‘re Gone“ (YouTube Official Video 3.12)
Gefunden mit der Shazam-App in: Deutschland-Funk Nova
Alle Bücher von Reinhold Urmetzer in Nr.282