314 Über Blasen und Gruppen-Inzest (1/3)
Vernunft der Wissenschaft, Vernunft Afrikas (1)
I Über Rationalität
für Johannes Knapp
BR hat mich auf das Phänomen der Blasenbildung aufmerksam gemacht. Es ist ein in der Soziologie neu verwendeter Begriff, der ganz gut die gegenwärtige weltweite Verwirrung von Denken und Rationalität darstellt. Blasen, auch Filter-Blasen genannt, sind gesellschaftliche Gruppen (ich nenne sie manchmal auch Soziotope), die sich gegenseitig unterstützen und die sich sprachlich sowie in der Verwendung von Begriffen zu verstehen glauben. Also auch geistig eine gleiche oder ähnliche Schnittmenge im Vokabular besitzen. In gut abgeschotteten Zirkeln werden Wahrheiten propagiert, die wie mittelalterliche Dogmen geglaubt werden müssen, da eine kritische Infragestellung nicht gewünscht wird. Man unterstützt sich lieber selber.
Im Zentrum der gegenwärtigen Auseinandersetzungen, Diskussion kann das nicht mehr genannt werden, steht also nichts weniger als der abendländische Rationalitätsbegriff. Was ist heute rational, was irrational? Wie vernünftig ist die Vernunft, wie wissenschaftlich die Wissenschaft? – Ein Thema, das auch in diesem meinen Blog immer mit an vorderster Stelle steht.
Zur Erinnerung: Ende des Mittelalters, sagen wir spätestens 1453 und mit dem Ende der scholastischen Vorstellungen von Rationalität, war mit dem Untergang des oströmischen Reiches und dem Fall von Konstantinopel die Entwicklung der Renaissance notwendig geworden. Sie definierte in einem großen Befreiungsschlag, der sich der dogmatischen Glaubensgewissheit des Vatikans erfolgreich widersetzt hat und der bis in die Aufklärung des 18.Jahrhunderts nachwirkte, den Wahrheitsbegriff und die Vorstellungen von Rationalität neu. Wissen (als Wahrheit) und Glauben (das Für-wahr-Halten einer manchmal sogar übernatürlichen „Offenbarung“), von Thomas von Aquin ins theologisch-philosophische Denken eingeführt, gingen jetzt endgültig eigene, auch getrennte Wege. Und dies bis auf den heutigen Tag. Selbst der Vatikan vertritt immer noch die These, dass es Wissens- und Glaubens-Wahrheiten gibt. Die sich widersprechen, die sich aber auch ergänzen können. Wie wahr ist das Wissen der Wissenschaften, wie wahr das Glauben im Sinne von Für-wahr-Halten? Ist sub specie aeternitatis das Wissen der Wissenschaften vielleicht auch nur ein Glaube an deren gerade zu diesem Zeitpunkt aktuelle Wahrheit?
Die gegenwärtigen Internetblasen, die eben diesen traditionellen Rationalitätsbegriff, der Wissen, „beweisbares Wissen“ strikt von einer Glaubens-Gewissheit trennt, ablehnen, schließen sich bei ihrer neuerlichen Wahrheits-Suche und -Findung manchmal völlig nach außen ab. Es bilden sich bizarre und skurrile Theorien, besser gesagt Meinungen, die nicht kritisch überprüft werden können, überprüft werden wollen oder auch dürfen. Sie müssen eben geglaubt und als wahr akzeptiert werden.
Alles, was Karl Popper in seiner mittlerweile fast überall, selbst in der Politik, konsensfähigen Theorie der Wissenschaft bekannt gemacht und in seinem Buch „Die offene Gesellschaft und ihre Feinde“(1) propagiert hat (das ist Poppers Theorie der wissenschaftlichen Theoriebildung), scheint sich nun umkehren zu wollen: Allüberall gibt es jetzt „geschlossene Gesellschaften“ mit einem unbedingten und dogmatischen Wahrheitsanspruch, der gleichwohl nicht nachprüfbar ist, nachprüfbar sein soll, sondern wie ein Glaubenssatz akzeptiert werden muss. Dies gilt bis in die höchsten Ebenen der Politik hinein. Es betrifft nicht nur die Wissenschaftstheorie, sondern ganz direkt auch Politiker wie Putin oder Trump & Co.
Die andere Seite ist gleichwohl, dass auch in abgeschotteten Soziotopen, die sich gelegentlich wie Sekten mitsamt ihren Sektierern verhalten (sogar mit neuen Göttern und Dämonen) dennoch auch neue Erkenntnisse und Wahrheiten gefunden werden können, etwa was politische Fragen oder die Perspektivität von Denken und Schreiben, also auch von Presse und Öffentlichkeit betrifft. Ich muss zugeben, dass ich trotz aller Fragwürdigkeit dennoch auch viel Richtiges und erfrischend neu Gedachtes in solchen geschlossenen Gesellschaften gefunden habe.
Wie rational ist Rationalität?
Die Diskussion, die sich jetzt in der Politik abspielt, zum Beispiel um den Wahrheitsbegriff (was sind Fake-Nachrichten in der Presse) oder um Fragen nach der Wertigkeit bestimmter Lebensformen als weißer, als schwarzer Staatsbürger, als Protestant, Mann, Frau, hetero-, homosexuell – diese Auseinandersetzung auch um ethische Begriffe wie Toleranz oder sogar um den Demokratie-Begriff hat im philosophischen Zirkel bereits vor etlichen Jahren begonnen. Am Ende der Studentenbewegung, am Ende aller Illusionen über sozialistische oder kommunistische Befreiung wie auch immer hatte sich in der westlichen Philosophie ein Forum im Bereich der Frankfurter Schule und des Freudo-Marxismus gebildet, das sich mit Multikulturalität, Heterogenität etc. befasste und das sich den französischen sogenannten Post-Strukturalisten, später dann postmoderne Philosophen genannt, entgegenzustellen versuchte. Lässt sich Rationalität als Allgemeinbegriff überhaupt noch definieren? Oder gibt es nur noch „Rationalitäten“, Rationalitäts – Modelle mit jeweils anderen Struktur-Merkmalen? – Technische Rationalität, Handlungsrationalität, Rationalität der Systeme, wissenschaftliche Rationalität, Rationalität der Institutionen, Rationalität der Lebensformen und so weiter? Oder auch: Gibt es eine Rationalität der Liebe, der Treue, des Gelderwerbs, der Gerechtigkeit? Wie rational ist die Rationalität, wie vernünftig die Vernunft?
Wir sind kurz vor dem Zusammenbruch der sozialistischen, marxistischen oder wie man auch immer die sogenannten Befreiungs-Ideologien nennen will. Der Mauerfall in Berlin 1989 steht bevor und in der „Philosophie der Befreiung“ („Emanzipation“ war das frühere aus dem 19.Jahrhundert stammende Schlagwort) macht sich eben diese große Unsicherheit breit. Habermas spricht tief stapelnd von einer „neuen Unübersichtlichkeit“, ja tituliert sogar eines seiner Bücher so (2). Andererseits beschäftigt ihn aber weiterhin die „Pathologie der Gesellschaft“, die er bekanntlich in seinem wegweisenden Buch „Erkenntnis und Interesse“ mit den Thesen und Theorien Sigmund Freuds recht erfolgreich zu therapieren versuchte und deshalb dergestalt auch zu den Freudo – Marxisten gerechnet wird.
In der allgemeinen philosophischen Diskussion hat sich jedoch gerade der „Paul Feyerabend-Effekt“ als besonders nachhaltig erwiesen. Die Gefahr des totalen Relativismus, dass unsere Vorstellungen von Rationalität, vernünftigem Handeln, selbst die Wahrheiten der Wissenschaft nur eine von vielen und eine womöglich schädliche Spielart sein könnten, wie es der Popper-Schüler in Kalifornien und das Enfant terrible der Wissenschaftstheorie ungeniert propagierte (3), hat einen ungewöhnlichen und gegenläufigen Solidarisierungseffekt weltweit bewirkt.
Es ist die Zeit der 80er Jahre. Alle Gewissheiten schwinden dahin, ich wiederhole mich, die rechten, die linken; selbst das riesige russische Imperium bricht zusammen, implodiert, muss man wohl gottseidank sagen, ohne allzu viel Blut zu vergießen. Auch die analytischen Philosophen Englands sind aufgeschreckt, setzen sich mit den Frankfurter Philosophen samt ihrer „Kritischen Theorie der Gesellschaft“ zusammen und versuchen einen Weg im weltanschaulichen Durcheinander zu finden. Nicht zuletzt haben sich auch die französischen Philosophen, die sogenannte „Neue Rechte“ (obwohl sie eher allesamt linker als links, nämlich anarchistisch war) mit ihren beiden philosophischen Kontrahenten zusammengesetzt, um eine Mitte, eine Verständigung zu finden über die auch politisch und weltanschaulich so eminent wichtige Frage: Was ist Rationalität?
wird fortgesetzt
1 Karl Popper, „Die offene Gesellschaft und ihre Feinde“ (1945). Von der englischen Königin wurde der Österreicher und Wahl-Brite Karl Popper wegen diesem bahnbrechenden Buch, auf das sich auch Ex-Bundeskanzler Helmut Schmidt immer wieder berief, sogar in den Adelsstand erhoben
2 Jürgen Habermas, “Die neue Unübersichtlichkeit” (Kleine politische Schriften V, Suhrkamp 1986), “Erkenntnis und Interesse”(Suhrkamp 1968)
3 Paul Feyerabend, “Wider den Methodenzwang” (Suhrkamp 1976), “Erkenntnis für freie Menschen” (Suhrkamp 1979)
4 In meinem persönlichen Interview 1987 in Stuttgart für die taz mit Jean François Lyotard hat dieser ausdrücklich sich zum europäischen Denken und auch zur Tradition der Aufklärung bekannt. Er wollte mit Bezug etwa auf Voltaire gerade kein Anti-Aufklärer sein, was man in der ziemlich heftigen Auseinandersetzung der Zeit damals gerade in Deutschland etlichen französischen Philosophen bösartig unterstellte. Vgl. im Blog auch das Lyotard-Interview(Nr.19).