28 Über die Resignation (Briefe 1)
Lieber Manfred Nieß¹,
Ich wähle diese altertümliche Anrede, weil wir in unserem Enthusiasmus für eine Sache, in der Leidenschaft auf ein Ziel hin und in der alten Form unserer Kommunikation vielleicht tatsächlich zu Altertümern geworden sind. Aber gerade das Altertum und die Vergangenheit haben viele Überraschungen und Alternativen bereit, wie ich denke. Die römische Antike ist mein Spezialgebiet zur Zeit, wie Du vielleicht bemerkt haben wirst, ein Blick zurück, zurück auf die Entstehung von Macht, auf die Mächtigen, sogar auf die Tyrannen, wie sie sich alle am Leben erhalten konnten und können oder auch nicht.
Lassen wir uns von den Neuerungsfetischisten, allen NSA-Googelianern und Blog-Schreibern nicht täuschen, als wenn diese Kommunikations-Form bereits per se den Fortschritt der Gesellschaft, der politischen Verständigung und des allgemeinen Lebens ausmachen würde oder könnte.
Danke für deine Einladung zum Vortrag von Nico Paech im Stuttgarter Kunstverein am Schlossplatz. Er sollte mir eine andere Stimmung, vielleicht auch eine neue Perspektive des Aufbruchs und der Möglichkeiten “trotz allem” vermitteln. Denn du hast wohl bei unserem letzten Treffen in den Trümmern des alten Stuttgarter Kopfbahnhofs meine Skepsis, vielleicht sogar meine Melancholie und Resignation über den Lauf der Zeit und der Dinge gespürt. Ein Krim-Krieg stand vor der Tür, der russische Imperialismus ließ die Muskeln spielen im kindischen Spiel, den amerikanischen Imperialismus beeindrucken zu können und umgekehrt. Du hast es gut gemeint mit mir, eine Abwechslung, ein neuer Blick jenseits der etablierten Parteien (Du weißt, dass ich mich nicht binden oder festlegen lassen kann) täte mir gut.
Ich habe daraufhin die Positionen von Nico Paech, seine Wirtschaftskritik und seine Vision von einer Ära des Post-Wachstums im Internet studiert (“Zeit online”). Es hat mich alles sehr überzeugt. Ich teile die meisten seiner Positionen. Auch seine Person scheint mir integer, vertrauenswürdig und authentisch. Ich finde bis heute trotz aller Kritik die Positionen des Club of Rome von 1972 über die Grenzen des Wachstums immer noch bedenkenswert.
Doch ich bin nicht zu diesem Vortrag gegangen. Alles hat mich wieder nachdenklich und skeptisch gestimmt. Immer noch das alte Problem: Wie kann Theorie praktisch werden !? – In wie vielen Vorträgen und Versammlungen bin ich gewesen, die mich beflügelt und begeistert haben! Wie oft habe ich schon von einem Neuanfang gehört und davon geträumt! Wie viele faszinierend- überzeugende Menschen habe ich kennengelernt, denen man Glück und Zukunft und Achtung von den Lippen hat ablesen können! – Herbert Marcuse, Robert Jungk, Jürgen Habermas, Niklas Luhmann, François Lyotard und noch vielen anderen bin ich persönlich begegnet und sie haben für eine kurze Zeit das Denken unserer Zeit, mich eingeschlossen, bestimmt und beeinflusst.
Was ist aus ihren Ideen, Worten und Büchern geworden? – Nichts!? Scheinbar vom Winde verweht, belächelt wie Folklore von den Mächtigen dieser Welt, die mit ihrem diskreten oder auch brutalen Charme uns sogar noch zulächeln und unseren Positionen zustimmen können. Wer liest oder studiert noch diese Bücher, kann sie verstehen ohne Übersetzungen? – Auch fast niemand mehr.
Nichts hat sich also geändert, wage ich zu behaupten. Strukturen bleiben Strukturen, Systeme werden “systemisch” als Systeme konzipiert, sogar sich selbst steuernde und sich selbst verbessernde Wunder-Maschinen werden bereits gebaut. Bürokratien nähren und schützen wie im natürlichen Selbsterhaltungstrieb Bürokratien; Institutionen sind unfähig zur Reform, die Mächtigen klammern sich an ihre Macht und an ihren Einfluss, den sie zu verteidigen wissen mit allen legalen und nicht legalen Tricks.
Das alte philosophische Problem bleibt jedoch weiterhin: Wie kann es einer Gesellschaft gelingen, dass tatsächlich nur die Guten und die Besten und nicht die am besten angepassten Mittelmäßigen auf die wichtigen Posten der Entscheidungsträger, der Staatenlenker oder Gesetzgeber kommen.
Wie kann man es schaffen, dass gute Ideen wirklich realisiert, gute Menschen gefunden und eingespannt werden können, ohne dass eine Mehrheit knapp die andere Mehrheit überstimmt oder dass eine Mehrheit die fast gleich große Minderheit zusammen knüppelt, verleumdet oder sogar verschwinden lässt.
Und schließlich bleibt auch die philosophische Grundfrage weiter bestehen: Was ist “gut”? Das, was die Mehrheit will, die Elite, die Wissenschaft, die Geldmächtigen, die uns alle Arbeit und Wohlleben und Glück versprechen (müssen)?
Das Problem ist m.E. nicht wesentlich die Ökologie, die Umweltzerstörung, Ent-oder Beschleunigung, das Ozonloch, Naturschutz und dgl. Das Problem ist die öffentliche Meinung, die Informationspolitik, der Umgang mit Wissen und Dogmatik, das Verhalten der Wähler letztlich bei der Auswahl ihre politischen Vertreter in den Vorhöfen der Macht.Denn in den innersten Zirkel der Macht gelangen selbst von diesen Auserwählten nur die Wenigsten.
Wenn wir die Wahlen anschauen, exemplarisch etwa die aktuellen Wahlen in Ungarn Anfang April 2014, dann mag das theoretische Denken noch so überzeugend sein, diese schönen und wohl durchdachten Modelle, unsere Träume und Visionen von anderen Welten und Zeiten, im konkreten Fall die Vision eines vereinten, kosmopolitischen und großzügig-toleranten Europas der Regionen.
Wenn kein Geld in der Familienkasse klingelt, wenn man für ein Markenprodukt zehnmal mehr bezahlen muss wie für ein normal beworbenes, wenn es infolge von Automatisierung und Rationalisierung, auch Digitalisierung immer weniger Arbeit und kein geregeltes Einkommen mehr gibt, wenn gleichzeitig allüberall das Werbefernsehen mit dem schönen heilen us-amerikanischen Marken-Glück durch die weite Welt selbst in China, selbst in Moskau flimmern darf, dann werden die Menschen nicht neuen nachhaltigen und in die Zukunft weisenden Experimenten vertrauen, sondern nur noch verdienen und auf den Gehaltszettel schauen wollen, ja müssen. Der Homo oeconomicus hat jede andere Art von Menschsein gegenwärtig an die Wand gedrückt. Da aber Vollbeschäftigung und Arbeit für alle zukünftig noch unrealistischer sein werden, es sei denn man entscheidet sich zu einer rigorosen Bevölkerungspolitik, sind weitere Verteilungskämpfe vorprogrammiert.
Mein Vorschlag und meine Ideen, die sich wesentlicher noch mit der gegenwärtigen weltanschaulichen Lücke und geistigen Orientierungslosigkeit beschäftigen, gehen in eine etwas andere Richtung, obwohl sie durchaus kompatibel sind mit theoretischen Visionen im Stile von Nico Paech und anderen. Wir sollten noch viel mehr als bisher konkrete Alternativ-Modelle (A-Inseln) unterstützen und mit Steuergeldern fördern, die hier und jetzt, selbst wenn sie klein oder “unverständlich” sind, bereits die Zukunft im Auge haben und damit beginnen wollen, diese Zukunft zu bauen und zu realisieren. Wir sollten vor allem auch solche Modelle des Forschens und Experimentierens unterstützen und ermutigen, die antithetisch zu unserer Vorstellungswelt und Lebensform sind. Dazu gehört aber eine große Portion Mut, Toleranz und Geduld, dass sich in solchen Alternativ-Inseln (A-Inseln) das Neue, Gute und Zukunftsträchtige entwickeln und durchsetzen wird.
Ich nenne ein Beispiel. Nur ein neue Art des Zusammenlebens von Jung und Alt wird m.E. die Geburtenrate steigern, das Kinderkriegen und Kinderaufziehen erträglicher und menschenwürdiger und eine lebenswerte Kinderwelt wieder möglich machen können. Dass die jungen Paare nicht so hoffnungslos allein gelassen werden in ihren engen Wohnungen mit der Erziehung und dem täglichen Kampf um den Lebensunterhalt. Dass sie wieder Unterstützung finden mögen in Großfamilien und die Last der Erziehung wieder auf mehreren Schultern liegt. Dass sie sich auch besser finden und nicht so schnell verlieren mögen. Dazu sind wesentlich auch innovativ denkende Architekten und Stadtplaner in die Pflicht zu nehmen. Sie müssen Wohnkomplexe bauen, die Alt und Jung zusammen führen und nicht ein-oder aussperren wie Einzeller in ihren engen Kabinen.
Wichtig bei diesem Projekt der A-Inseln ist die Toleranz, ich betone es noch einmal. Dass man auch solche sozialen Experimente unterstützt oder zumindest toleriert, die antithetisch zur eigenen Lebensform stehen. Ich nenne als weiteres Beispiel die Kinderadoption durch Homosexuelle. Freud und andere Psychoanalytiker einschließlich Wilhelm Reich wären dagegen, ich selbst bin mir unsicher in meinem Urteil. Aber warum nicht auch dieses Modell, diesen Versuch einer neuen Lebensform ausprobieren, um nach ca.20 Jahren ja oder nein dazu sagen zu können.
Alle diese A-Inseln sollen sich selbst organisieren und selbst strukturieren dürfen. Sei es nun eine neue Form der Tauschwirtschaft, des Geldes, des Verkehrs, der Energiegewinnung, der Erziehung, der Großfamilie – es gibt noch unzählig viele weitere Möglichkeiten das gesellschaftliche Leben und seine Struktur anders zu organisieren. So anders auch, dass nicht zuletzt sogar der Staat und seine legitimen Vertreter als Machthaber oder manchmal auch als schlechte Verwalter unserer Steuergelder, dass eben dieser ihr egoistisch eigener (und weniger unser Staat) überflüssig wird in diesen seinen veralteten Strukturen und in sich zusammenfällt wie ehemals der ganze Ostblock und die DDR.
Das Ziel wäre also eine neue Befreiung vom Staat und seinen Herrschern. Ich will an dieser Stelle jetzt nicht den altbekannten politischen und auch philosophischen Streit über Staatsformen oder Anarchismus bemühen, der nur neue Vorurteile und Ängste sofort wach rufen würde, zumal meine Vorstellungen eher in die gewaltfreie Richtung gehen.
Herbert Marcuse glaubte, eine Veränderung der Gesellschaft hin zu mehr Menschlichkeit und Freiheit ginge paradoxerweise nur durch eine Revolution der Außenstehenden, der Intellektuellen (Studenten), der Unterdrückten und neuen Sklaven am Rande der Gesellschaft, deren es tatsächlich immer mehr gibt (ich gehöre vielleicht auch dazu). Marcuse glaubte auch, dass nur durch den völligen Zusammenbruch des Alten das Neue entstehen könnte.
Ich denke hingegen anders und das eher in eine organische Richtung, die mit Wachsen und Sterben(lassen) zusammenhängt. Dass sich das gute Neue als Vorbild und bessere Lösung neben das sterbende Alte stellt, stellen darf, stellen muss, ihm lächelnd Adieu sagen kann ohne Gewalt und Aggression und einem neuen Morgen entgegen geht, der gleichwohl doch auch seinen Abend haben wird irgendwann einmal in unserer Zeit und Welt.
In diesem Sinne will ich dich, lieber Manfred Nieß, in deinen Träumen und Hoffnungen von einer besseren Welt und Gesellschaft nicht stören, selbst wenn dein Kampf gegen Stuttgart 21 vielleicht vergeblich sein mag.
Es grüßt dich und deine Lebensgefährtin sehr herzlich in dieser deiner anderen Welt
Reinhold Urmetzer
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¹Hallo Manfred,
Unser letztes Treffen am Stuttgarter Hauptbahnhof hat mich inspiriert, dir auf meiner Blogseite einen Offenen Brief zu schreiben. Auf besonderen Wunsch hin bearbeite ich eher philosophische Themen. Aber ich war und bin ein sehr politisch denkender Mensch, auch wenn ich mich meist aus den aktuellen Diskussionen mit dir herausgehalten habe. Nun will ich doch einmal Stellung beziehen, zumal unser Gespräch alte Wunden aufgerissen hat.
Wir sind jetzt eine Woche verreist. Aber bis dahin würde ich mich sehr freuen, wenn du eine Replik oder Antwort auf der Kommentarseite schreiben könntest. Regine Bürkle versuche ich ebenfalls mit ins Boot zu nehmen. In meinem Kubinski-Nachruf habe ich sie erwähnt.
Viele Grüße und schöne Ostern!
Reinhold Urmetzer
(per E-Mail gesendet)