315 Über Blasen und Gruppen-Inzest (2/3)
Vernunft der Wissenschaft,Vernunft Afrikas (2)
II Postmodernes Denken
Im Oktober 1982 gab es anlässlich einer wissenschaftlichen Tagung des engeren Kreises der „Allgemeinen Gesellschaft für Philosophie in Deutschland“ an der Universität Hamburg ein Symposium zum Thema Rationalität, auf das ich kurz eingehen will (1). Pointiert wird dort die Problematik etwa von Herskovits zusammengefasst: Wahrnehmung, Fühlen, Werten, Wollen, Denken und Handeln des Individuums seien gänzlich durch die Kultur geprägt, in welcher man aufwachse. Kulturelle Unterschiedlichkeit samt den Vorstellungen von Rationalität seien ethisch wertvoll. Interkulturelle Toleranz und ein harmonisches Zusammenleben der Menschheit trotz der Unterschiedlichkeit ihrer Glieder sei anzustreben. Die (abendländische) Vorstellung von Rationalität sei nicht ein Schiedsrichter zwischen Traditionen; sie sei selbst eine Tradition (unter mehreren, wenn nicht sogar vielen) oder nur ein Aspekt einer Tradition. Die abendländische Vorstellung von Rationalität sei daher weder gut noch schlecht, sondern sie i s t einfach. –
Bereits 1947 hatte eine Arbeitsgruppe diese Thematik zur Vorbereitung der neuen UN-Charta für Menschenrechte untersucht und in ähnlicher Weise zusammengefasst: Dass es keine wissenschaftliche Methode zur Bewertung von Kulturen geben könne, dass alle Standards und Werte – auch die der Wissenschaft – kulturbedingt seien, dass die Unterschiede zwischen den Kulturen respektiert und bei der Anbindung an die Menschenrechte berücksichtigt werden müssten. Diese Petition an die Kommission der Vereinten Nationen wurde jedoch bei der 1949 schließlich angenommenen Deklaration der Menschenrechte so gut wie ignoriert.
Manche Autoren der Postmoderne stellen mittlerweile sogar die abendländische Rationalität als existenziell sinnlos oder als verhängnisvolle Fehlentwicklung des Lebens und seiner Geschichte infrage. Der Zauber nicht abendländischer, insbesondere archaischer Lebensformen werde gegen die mit der abendländischen Rationalität verbundenen Einschränkungen im Wahrnehmungs-, Gefühls- und Erlebnisbereich ausgespielt, so Karl Otto Apel in einer Kritik (2). Eine erste Quelle dieses Relativismus findet er bei dem Philosophen Ludwig Wittgenstein, der den universalen Geltungsanspruch philosophischer Rede zu Gunsten von Lebensformen relativiert habe. Wasser in die Mühlen dieser internationalen Gegenbewegung einer Regionalisierung der Vernunft (Acham) lieferte provokativ und immer wieder Paul Feyerabend, der ab sofort Magie, Hexen-Orakel und Regenzauber oder fernöstliche Denkweisen aufzuwerten versuchte und als gleichberechtigt neben die abendländischen Praktiken der Weltbewältigung stellte (3).
Auch die international so einflussreichen und tonangebenden Philosophen Frankreichs (eine Ausnahme ihrer Akzeptanz bleibt Deutschland) haben ebenfalls den Begriff von Rationalität und die abendländische Vorstellung von Rationalismus infrage gestellt und damit eine folgenschwere Konfusion verursacht. Derrida etwa kritisiert den Eurozentrismus des abendländischen Geistes. Auch von einer Phallokratie des „männlichen Denkens“ spricht er, die sich der ganzen Welt aufzwingen wolle und wogegen sich der Feminismus daraufhin heftig zur Wehr gesetzt und radikalisiert hat bis in die Gegenwart hinein („Emanzipation der Frau“). Es gab fortan Symposien über „weibliches Denken“, auf dem dennoch die Männer Niklas Luhmann 1986 in New York ebenso wie Jacques Derrida haben teilnehmen dürfen (4). Doch immer wieder geht es um die Frage, auch mit dem weiblichen Auge betrachtet, was ist Wahrheit, was ist Vernunft, was läuft falsch in der Wissenschaft, wenn sie Cyber-Attacken, Atombomben und künstliche Menschen herstellen kann und sogar herstellt? Eine Wissenschaft, die das ganze Menschengeschlecht schließlich deformieren, transformieren, ja auslöschen kann?
Wird nicht mit Statistiken und DatenSammlungen nur immer wieder eine neue Sau durch’s Dorf gejagt? Wie steht’s mit dem medizinischen Wissen, mit dem gesellschaftlichen Wohl, mit den Zielen in unserer Welt? – Alle Vorstellungen darüber scheinen doch gegenwärtig konfus durcheinander zu geraten, jeder sagt, behauptet, proklamiert und macht das, was er will. Was ist rational heute, was ist irrational oder besser gesagt nicht rational?
Gibt es tatsächlich eine Vernunft der Wissenschaft und gleichwohl ebenso nützliche wie sinnvolle andere Arten von Vernunft? – Gibt es eine der männlichen, eine der weiblichen Art? Eine Vernunft der Naturvölker, eine Vernunft Afrikas? Ist die Struktur des Denkens, seiner Ziele, sind Logik und Argumentation tatsächlich so relativ und immer weder auch anders möglich?
Kann es so etwas wie ein neues oder auch anderes Denken geben? –
Tatsächlich gibt es das. Etwa das Science-Fiction-Denken Jean Baudrillards, der eine ganz neue Sprache gefunden hat. Sie ist voller NeuePrägungen, Umdeutungen, Widersprüchlichkeit. Auch voller augenzwinkernder Ironie und Persiflage, die man nur auf einer anderen Ebene der Interpretation decodieren, also ernst nehmen kann. Der französische Schriftsteller schreibt beispielsweise eine lange ironische Abhandlung darüber, dass wir uns tatsächlich jetzt im Paradies befinden würden („Nach der Orgie ist nicht mehr vor der Orgie“}. Begründet diese These weitschweifig mit neuen Begriffsbildungen und Begriffs-Verschiebungen. Begriffe wie „Ekstase“ oder „Obszönität“ werden in einem ganz anderen Kontext verwendet, als man es gewohnt ist. Schließlich wird jedoch deutlich, dass Baudrillards Argumentation für unser „Leben im Paradies“ nur voller Spott und Hohn war, dass sich der „Kapitalismus in einem ekstatischen Zustand der Obszönität befindet“ und wir gerade nicht im Paradies, sondern eher in einer Hölle leben müssten(5). D.h. neue Begriffe werden dergestalt aus den alten Begriffen gemacht, indem man sie in einen anderen Kontext versetzt.
Im Sinne der reinen Sprach-Puristen der analytischen angelsächsischen Schule ist das nun tatsächlich keine „rationale“ Sprache mehr, sondern nur noch zu interpretierende Kunst. Aber nur so könne man sich dem Diktat und den Imperativen der Wissenschafts-Sprache (Szientismus) samt ihrer Vorstellung von philosophischem Denken, auch „SprachPolizei“ genannt, entziehen, lautet die Gegenthese. Zumal sich die analytische Philosophie ganz nur noch dem all umfassenden Ökonomismus samt seinen behavioristischen Spielarten einer eindimensionalen Technokratie im beispielsweise chinesischen Steuerungs-Sinne verschrieben und ausgeliefert habe.
Auch Derrida, Virilio, Lyotard und etliche andere sprechen bereits eine neue Sprache. Sie sind m.E. keine FachPhilosophen mehr, sondern eher Schriftsteller, Künstler wie Nietzsche, Voltaire, Sartre, Kierkegaard oder auch Seneca, Platon und andere. Das gegenwärtig weit verbreitete Interesse an Science Fiction und Science-Fiction-Denken, etwa was die Künstliche Intelligenz und dgl. betrifft, geht m.E. sehr stark auf den Einfluss der französischen Philosophen zurück. Nicht unbedingt nur was die Zukunft der Technik betrifft, etwa Voll-Automation, Robotik, Kloning etc. Darüber hat sich auch die Frankfurter Schule mit ihren Technokratie-Ängsten genug Gedanken gemacht (6).
Es hat sich sogar im Denken dieser „postmodernen“ Franzosen eine neue Argumentations-Logik, eine neue Sprache voller Bildhaftigkeit, Brüche, Widersprüchlichkeit und Mehrdeutigkeit gebildet. Weg von der „Wissenschafts-Sprache“ der Philosophy of Science hin zu mehr literarischen Formen wie Satire, Science-Fiction-Visionen mit Einflüssen sogar des Dadaismus oder Surrealismus. Lyotard schreibt „Erzählungen“: Für ihn sind alles nur noch „Erzählungen“, „Narrative“ nennt man sie mittlerweile, selbst die Wahrheiten der Naturwissenschaft, selbst die Mathematik(7). Der späte Derrida wird fast nur noch zu einem Performance-Kunstler, der mit seinen ironischen Vorträgen und „Auftritten“ mitsamt den sexuellen Anspielungen eine neue Art von Diskurs, von Argumentieren und Überzeugen vorstellt. Denn was hat seine mit ironischem Lächeln vorgetragene Behauptung vom „Zurückziehen der Vorhaut der Eichel“ mit der Apokalypse zu tun? Ist die größte Errungenschaft des abendländischen Denkens tatsächlich das Schweigen? Womit er ein Zitat aus Wittgensteins Traktatus geschickt einsetzt, aus dem Kontext nimmt und letztlich auch parodiert.
Mit Twitter Botschaften und populistischer, das heißt auch unterhaltendem Witz und Schein-Logik erreicht man jetzt auch diejenigen, die früher weder an Zeitungen noch an politischen Nachrichtensendungen interessiert waren. Entsprechende Staatsführer werden jetzt gewählt, und eine entsprechende Politik wird auch gemacht. Es dominieren Emotionen als Zeichen von Authentizität und Egoismen als Zeichen von Stärke bis hin zu direkter (Kriegs-)Gewalt. Sich abzugrenzen gegenüber anderen, sich besser und stärker zu fühlen als andere fördert wieder Gegensätzlichkeit und unüberwindbare Grenzen. Nationalismus hat bislang noch immer zu Krieg und Tod geführt. Zumindest zu heftigen Auseinandersetzungen, die von Egoismus und eigensüchtigem Interesse bestimmt waren.
Das Denken reduziert sich immer mehr auf einfache Hauptsätze, Schlagworte und Sensationen. Twitter-Nachrichten und Fake-„Informationen“ erreichen mittlerweile höchst erfolgreich die Wahlurnen und setzen entsprechende Persönlichkeiten als Staatenlenker in die Welt. Ich wiederhole mich. Aber die Wahrheit liegt nicht in dieser Art von Sprache und Schrift, die den bedingungslosen Willen nach Macht verdeutlicht. Sie liegt gerade nicht in all diesen kurzen Smartphone-Botschaften, die oft eine Art von verkrüppelter Sprache nur wiedergeben können. Auch wenn ich selber in meinem Twitter-Account mit dazu zu gehören scheine (Seufz).
wird fortgesetzt
1 Herbert Schnädelbach, „Rationalität“, Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft 449.
2 a.a.O. S.15
3 Paul Feyerabend, Die Wissenschaftstheorie – eine bisher unbekannte Form des Irrsinns? (1984)
4 Vgl. mein Interview mit Niklas Luhmann im Blog Nr. 116/117 oder auch meine „Gespräche mit Zeitgenossen“ (erscheint demnächst)
5 Jean Baudrillard, Fatale Strategien (1983)
6 Jürgen Habermas, Wissenschaft als Ideologie (1968)
7 Mittlerweile hat sich sogar Lyotards „Erzählung“ als „Narration“ oder „Narrativ“ in den Sprachgebrauch der Alltags-Politik eingebürgert.