313 Pessoa lesen (1/8)
Vorwort
Ich habe den portugiesischen Schriftsteller Fernando Pessoa kennengelernt. Ein ganz kurzer Ausschnitt seiner langen „Ode an das Meer“ schmückt auf einer Tafel die Strandpromenade in Ostende sowie Wenduine/Belgien. Der Text hat mich neugierig gemacht, da ich mich auch mit diesem Thema beschäftigt habe. Dann finde ich eine Tafel mit einem ähnlichen Pessoa-Zitat am Strand von Ericeira, einem europäischen Surf-Zentrum an der portugiesischen Atlantik-Küste nördlich von Lissabon. Der Künstler scheint jetzt endlich, einhundert Jahre später, auch an seinem geliebten Meer und in Portugal angekommen zu sein.
Pessoas Sprache ist seltsam postmodern, mehrdeutig, unverständlich; unklar oft die Logik, Bildhaftigkeit, der Bezug. Sie gibt sich verständlich rational, um doch unmerklich oder auch plötzlich ins Irrationale umzukippen. Sie ist also grade nicht rational, aber auch nicht irrational oder durchgängig surreal. Sie braucht dergestalt dauerndes Nachdenken und Interpretieren und führt damit weniger zum Autor als zum Lesenden selbst zurück. Warum ist mir diese Sprache so fremd, so schwer begreiflich?
Nicht dass ich Pessoas Texte leichter verständlich habe machen wollen; im Gegenteil. Doch sie spiegeln jetzt in der Gegenwart, viele vergessene Jahre später, sehr gut ein neues Denken und Bewusstsein ohne Boden und Grund, dem alle Gewissheiten verloren gegangen sind.
Das Geistige war bislang immer in der Philosophie ein Antipode zum Sinnlich-Gefühlshaften. Das Metier der Schriftsteller sei der Geist, haben Intellektuelle und Rationalisten Jahrhunderte lang behauptet, nicht das Gefühl. Doch mittlerweile setzt sich die Überzeugung durch, auch in der Nachfolge Freuds, Foucaults oder Wilhelm Reichs, dass es Gefühle sind, welche Energie im Menschen erzeugen, kreativ werden zu können. Freud nennt dies in seiner Theorie Sublimierung, auch Kanalisierung von Sexualenergie, die er als „Libido“ bezeichnet. Ohne diese Sublimation von Lust gäbe es keine Kultur, keine Wissenschaft, meint er.
Pessoa Sprache bewirkt dergestalt eine neue Sensibilität für die Verbalisierung unseres Gefühlslebens. Mit Hilfe von Sprache legt er großen Wert auf die sinnlich-körperliche Wahrnehmung des Individuums von Welt und Wirklichkeit, auf die Wahrnehmung der Gefühle im Menschen. Sie öffnet damit einen neuen Blickwinkel. Kein Schriftsteller kenne ich, der so oft und so viel vom Fühlen spricht und mit Gefühl denken oder mit Denken fühlen will wie Pessoa. Ja der das Fühlen, selbst das perverse Fühlen, wenn es so etwas geben kann, fast über alles stellt.
Um etwas Neues zu sagen, muss man eine neue Sprache finden, postuliert der deutsche Sprach-Philosoph Karl Otto Apel, im Studium einige Jahre lang mein geistiger Mentor, und begründete damit im Gespräch die Schwierigkeit, sein erstes Buch zu schreiben. Pessoa findet tatsächlich eine neue, wenn auch deregulierte, dekonstruierte Sprache. Freimütig bekennt er sich dazu, die Grammatik geändert zu haben. Ganz zu schweigen von seiner „dissonanten“ oder auch eigenwilligen Bildhaftigkeit.
Wird man damit auch gleich etwas Neues finden können? Oder findet man nur für das immer Bestehende neue Worte, wie Nietzsche glaubte? Wenn man die Sprache immer mehr er-, ja zersetzt durch Begriffe und Metaphern, die mehrdeutig, widersprüchlich sogar gegenüber dem üblichen Sprachgebrauch sind, bedeutet das gleich auch eine neue Weltsicht? Entstehen mit der neuen Begrifflichkeit auch neue Dinge? Ja, würden Pessoa und auch neuzeitliche Konstruktivisten oder Lyotard-Anhänger antworten.
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Oft fällt uns als Schriftsteller oder Interpretierende der Arbeitsbeginn schwer. Hat man einmal den Weg gefunden, dann wird das Ende leicht. Umgekehrt ist es mir bei den Pessoa-Texten gegangen. Geradezu festgebissen habe ich mich an dieser Sprache, den eigentümlich seltsamen Metaphern und Vergleichen, der Komplexität ihrer philosophischen Gedanken, die ich in meine Welt und Sprache umwandeln wollte, um ihre Aktualität an die heutigen Leser weiter zu geben.
Meine Bearbeitungen der Texte entfernen sich dergestalt eher semantisch, weniger syntaktisch von den Übersetzungen Inés Koebels und Georg Rudolf Lindts, denen man für ihre Pionierarbeit nicht genug danken kann. Entnommen sind sie dem „Buch der Unruhe des Hilfsbuchhalters Bernardo Soares“, erschienen jetzt neu auch im Fischer-Verlag (1).
Ich habe die langen, manchmal auch überlangen Sätze Pessoas in Gedichtform umgewandelt, die Texte quasi komprimiert, verdichtet, ohne gleichwohl ihren Sinn zu verändern. Im Gegenteil: ich bin manchmal im Sinn noch einen Schritt weiter gegangen, dem der Autor gewiss zugestimmt hätte. Ich habe dergestalt neue Worte eingeführt, neue Sätze, ohne gleichwohl Pessoas Spur zu verlassen. Unmerklich bin ich wie der Autor von der realen Beschreibung der Wirklichkeit in eine manchmal „wenig passende“ Bildhaftigkeit übergewechselt.
Die Gedichte sind dergestalt gelegentlich auch hermetisch, solipsistisch fast nur auf sich selbst oder „das Andere“ bezogen. Geheimnisvoll pseudo-rational führen sie uns in ein Reich von sprachlichem Zauber, Gebrochenheit und schwermütiger Intelligenz. Das mystische Alleinsein des Unverstandenen, dem die Welt abhanden gekommen ist. Wie Nietzsche und sogar noch einen Schritt weiter.
Auch an die Regeln der Interpunktion habe ich mich nicht immer gehalten. Mit Komma, ohne Komma, mit Punkt, ohne? Um die SpracheRhythmik und ihre immanente Metrik beizubehalten, meines Erachtens ein Grundmerkmal von Lyrik überhaupt, musste ich gelegentlich deshalb auch die Interpunktion ändern.
Dennoch bin ich auch andere, eigene Wege gegangen. Den Sinn dieser Einfügungen und Änderungen von mir, wo und wann, vielleicht auch warum, mögen Philologen und andere Hermeneuten erforschen. Ich habe Überschriften und neue Gedanken eingefügt, welche den Sinn Pessoas verdeutlichen, besser verständlich machen sollen. Private oder fiktive Namen in den Texten sollen die Anonymität und Abstraktheit von Pessoas konstruierter Wirklichkeit vermenschlichen. Mehr als Pessoa setze ich deshalb ein Du ein, beschäftige ich mich mit Beziehungen und dem Wir. Zumal der Autor ja auch immer von seiner Zärtlichkeit spricht, die er für die Menschen, für die ganze Menschheit empfindet – jedoch immer wieder nur als Abstraktion.
Schwierig war mir auch die Entscheidung bei der Textformatierung : Linksbündig den Text setzen oder eher zentriert? Die Zentrierung bewirkt eine noch größere Komplexität (Dichte), reißt die Leser bewusst aus einer doch endlich gefundenen Verstehens-Spur wieder heraus, die Bezüge werden mehrdeutig und rätselhaft. Zumal auch die Metaphern alles andere als bekannt und leicht verständlich angesehen werden können.
Aber das erzwungen stockende, langsame Lesen, auch das immer wieder Neu-lesen-Müssen scheint mir in vieler Hinsicht oft richtiger und sinnvoller als das Leicht-Verständliche und Leicht-Lesbare. Obwohl gerade dieses sogenannt Leicht-Verstehbare in seiner versteckten, bewusst verborgen gehaltenen Hintergründigkeit manchmal noch schwerer verstehbar sein kann. Beispielsweise Twitter-Tweets.
Bei Pessoa begegnet der heutige Leser darüber hinaus einem ungewohnt poetischen Existenzialismus. Einem Existenzialismus, den es in dieser Sprache und jenseits von Sartre oder Camus, Heidegger oder Kierkegaard bislang noch nicht gegeben hat. Seine Oden, seine Hymnen, alt-ehrwürdige Gattungsformen, sind überlang und auch vom sprachlichen Expressionismus seiner eigenen Zeit beeinflusst, das heißt auch zersetzt. Ein Existenzialismus jedoch nicht der Theaterstücke, philosophischen Essays oder Prosatexte, sondern als ein Versuch, Welt und Wirklichkeit in ihrer Abgründigkeit poetisch, also rein dichterisch, zu erfassen.
In dieser seiner WeltVerlorenheit ist Pessoa einzigartig. Seine Ambivalenz dem menschlichen Leben und seinen Möglichkeiten gegenüber (er selbst hat sich als literarische Person in mehrere Individuen aufgespalten) mündet immer wieder in einer tiefen Hoffnungslosigkeit, ähnlich vielleicht nur noch bei Hölderlin. Und diese wird so intensiv und direkt mit emotionalen Begriffen ausgedrückt und beschrieben, wie es in poetischer Gestalt noch keinem Schriftsteller bislang gelungen ist, es auch noch kein Schriftsteller auszudrücken gewagt hat. Noch nicht einmal Hölderlin.
Mit Robert Walser wird Pessoa gelegentlich verglichen. Doch Pessoas Wirklichkeit ist weniger hermetisch, abgeschottet. Sie bleibt trotz aller Brüche immer wieder auch überaus realistisch beschreibend und verharrt so weiterhin in der gegenwartsnahen Welt des Lesers: Das Leben im Büro und bei der Arbeit, die Zweifel an dem eigenen Können, die Sehnsucht nach Sinn, nach Gott.
Auch Paul Celan oder andere Autoren einer internationalen WeltVerlorenheit insbesondere nach dem zweiten Weltkrieg waren verzweifelt und ohne Hoffnung. Aber da diese Autoren den FluchtWeg aus der Wirklichkeit in den surrealen Traum haben finden können, werden sie in ihrer Mehrdeutigkeit und Verschlüsselung leichter erträglich. Ganz zu schweigen von den gesellschaftskritischen und sozialistischen Autoren, die den Weg zu einer Befreiung selbstgewiss, heute würde man sagen selbstbewusst-überheblich und manchmal auch zu genau wussten.
Doch Fernando Pessoa stößt uns immer wieder in die gesellschaftliche Gegenwart eines entfremdeten Lebens samt seiner unglücklichen Menschen und Lebensumstände zurück. Ob im Park oder Büro, am Meer, auf dem Landgut der Kindheit oder unter seinesgleichen – lapidar stellt er immer wieder fest: Wir sind in dunkler Nacht und begleitet von einem kalten Mondlicht nichts mehr als ein in die Ecke geworfener Lumpen. Vergeblich warten wir am Bahnsteig auf unseren Zug, der nie ankommen wird. Ob wir es wollen oder nicht – zum Leben wie zum Sterben verurteilt sind wir und ausgeliefert einer bodenlos verkümmerten Welt und Existenz. Verloren, allein.
Belgrad, 1.Oktober 2019
(1) Fernando Pessoa, Das Buch der Unruhe des Hilfsbuchhalters Soares. Übersetzt von Georg Rudolf Lindt (Ammann,2003) und Inès Koebel (Fischer 2008)
Vgl.auch das Interview „Weltverloren, hoffnungslos“ mit Nataly Otálora (im Blog die Nr.330)
Im Vorüberziehn (1)
Fragmente und Prosagedichte nach Texten von Fernando Pessoa
7.März 2019 Stuttgart
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Schicksal
Mag das Verhängnis mir alles versagen:
Wie ein Stoiker ohne Härte will ich dennoch
seinen eingemeißelten Sinn-Spruch
verstehen und genießen,
Buchstaben um Buchstaben,
Ton um Ton.
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Narziss
Nie wagte ich es, wenn ich mich von Dir verabschiedet hatte,
mich noch einmal umzudrehen.
Ich hatte Angst zu sehen, wie Du dich verflüchtigen,
in Luft auflösen, dich selbst umarmen und, ach,
küssen könntest.
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Im Vorüberziehn
Zwischen dem Mondschein und dem Laub,
zwischen der Ruhe und dem Wald,
zwischen dem Nacktsein und dem Nachtwind
zieht ein Geheimnis vorüber und folgt dem
Vorüberziehn Deiner Seele
von hier nach
dort
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Schau her
(Platon)
1 Schau her zu mir von drüben, von dort aus erblickst Du mich,
von innen nach außen, von dort nur seh’ ich Dich.
Du siehst meinen Körper und ahnst meine Seele,
nur durch ihre Augen wirst Du mich verstehn,
Du siehst meinen Körper, ahnst meine Seele,
nur durch ihre Augen kennst du mich genau.
2 Du weißt: Ich bin ein Künstler,
kein Freund oder Geliebter.
Du weißt: Ich bin Du und Ich wir
lieben uns beide sehr.
Ob wir zum Ziel gelangen
oder auch nicht,
das hängt nicht ab von Dir,
sondern nur von mir
allein,
3 von Gott und dem Ich-Sinn,
Ich-Sinn der Worte,
meiner großen Sehnsucht danach.
Dem Ich-Sinn der Worte, Ich-Sinn der Seele,
meiner großen Sehnsucht
danach
(vertont)
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Ende der Welt
Jede Straße, sogar diese Straße jetzt trägt Dich ans Ende der Welt.
Doch das Ende der Welt bleibt, sobald man die Welt ganz umkreist hat,
in der gleichen Straße, von der man ausgegangen ist,
das Ende der Welt zu fühlen
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Reisen
Die Reisen sind die Reisenden.
Was wir sehen, ist nicht, was wir sehen,
sondern das, was wir sind.
Die Reisen sind die Reisenden.
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Bleiben
Immer reisen wollen und dennoch immer
bleiben, bleiben, bleiben,
bis zum Tode bleiben.
Selbst wenn Du abreist ins Nirgendwohin, Annas,
bleibst Du und bleibst Du und
bleibst Du
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Ganz
Um groß zu sein, sei ganz:
Entstelle und verleugne nichts.
Lege, was Du bist, In Dein ganzes Tun.
Was Du bist und was Dein ist,
sei ganz in jedem Ding.
So glänzt in jedem See der ganze Mond,
denn er steht hoch genug ist rund und
schweigsam folgt er Dir
nach.
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Überdruss
Ich bin an jenen Punkt gelangt,
an dem der Überdruss zur Person wird,
zur körperlichen Illusion meines unerträglichen
Zusammenseins mit mir selbst.
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Wahnsinn
Übernehmt diesen Wahnsinn von mir
mit allem, was in ihm gärt!
Was wäre, mehr als ein sattes Tier,
der Mensch ohne Wahnsinn wert,
nur ein lebendiger Leichnam, der sich vermehrt.
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Vergangenheit
Du weißt nicht, Madlen, wem sie gehört, unsre Vergangenheit,
an die ich mich erinnere, als ich ein anderer war.
Ich erkenne mich nicht,
wenn meine Seele jetzt jenes Andere fühlt,
an das ich mich erinnere wie in einem schweren
Traum
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Das Geheimnis
Von Tag zu Tag
verlassen wir uns,
nichts Gewisses bleibt,
das uns mit uns verbindet.
Wir sind, wer wir sind,
und was wir waren,
ist unser von Innen geschautes
Geheimnis
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1. Mai 2019 Fatima/Portugal
Erinnerung
Ich erinnere mich an Dich bereits
in der Zukunft mit einer Sehnsucht,
von der ich weiß, dass ich sie künftig
ebenso empfinden werde.
Meine Seele und mein Körper
lenkten Dich und Deine Gedanken
zu oft von Dir und Deiner Mutlosigkeit
ab
…wo, zusammengekauert auf der
Bank einer Eisenbahnhaltestelle,
Deine Verachtung mir gegenüber im
Mantel dieser Mutlosigkeit
wacht und schläft…
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Landschaften machen
Landschaften machen aus dem,
was ich empfinde,
Töne und Worte zeichnen,
Bilder spielen
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Labyrinth
Es lastet auf mir kein Zweifel in dieser Stunde
noch bleibt er in mir bestehen.
Doch ich spüre Hunger nach der Ausdehnung der Zeit,
denn dieses Fliehen, Verschwinden, Weggehen
will bedingungslos nur ich sein,
ich sagen können dürfen in diesem Labyrinth,
das mich gefangen hält wie einen
läufigen Hund
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Was es ist
Diese Zeilen sind mir dank des Vergessens und des Widerspruchs gelungen.
Ich weiß nicht, ob dies besser oder schlechter ist als das Gegenteil,
von dem ich ebenso wenig weiß,
was es ist oder sein soll
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Nichts sonst
(Johannes Bobrowski)
Der Zauber vereinzelter durch Gleichklang verbundener Worte,
mit innerer Resonanz und abweichender Bedeutung voll.
Der Glanz dieser Sätze gebunden an die Bedeutung anderer Zärtlichkeiten.
Die Bosheit und Qual mancher Spur.
Die Hoffnung der dunklen
Wälder, wenn der lichte Mond glänzt
neben der Stille der Teiche zusammen mit Dir,
wenn nichts sonst bleibt auf den Gütern
einer jungen Flucht
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Knechtschaft
Ob es nun Götter gibt oder nicht,
wir sind ihre Knechte
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Sich nähern
Welchem Fenster zu welchem Geheimnis Gottes
könnten wir uns ungewollt genähert haben?
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Abschied
Abschied nehmen von etwas Anderem,
diese lebenstraurigen Augen übersehen,
aus der Ferne anschauen als
wüssten wir etwas von
Gott, Ziel oder
Welt
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Träumen
Irgendetwas tun,
das kein Denken erlaubt, Giovanni,
etwas, das fast nur sich erfühlen lässt,
ein Hauch von Musik,
stumme Töne im traumlosen
Traum
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313 Pessoa 1 (mit Einführung)
317 Pessoa 2
318 Pessoa 3
319 Pessoa 4
320 Pessoa 5
321 Pessoa 6
322 Pessoa 7
323 Pessoa 8
327 Abschluss
330 Interview über Pessoa