317 Pessoa lesen (Gedichte 2/8)
Im Vorüberziehn (2)
Fragmente und Prosagedichte nach Texten von Fernando Pessoa
5. Mai 2019 Fatima/Portugal
Neue Blumen
Diesen Tag bewahren in einem
wortreich blühenden Gedächtnis,
all die Felder und
Himmel dieser leeren äußeren
Welt übersäen mit neuen
Blumen, mit Bildern und
neuen Sternen einer neuen
Welt
*****
Geschichte
Geschichte mit ihrem großen
verblichenen Panorama ist nur die
Abfolge von Deutungen, ein verworrener
Konsens toter Zeugen und
falscher Zeugnisse
****
Mehr
Ein Hauch von Musik oder
Traum, das fast nur fühlen
lässt und kein
Denken mehr uns
erlaubt, Anne, nur noch
Musik und
Bild
****
Träumen
Er erfüllte sich mit seiner
nutzlosen Träumerei einen
Traum, wie wir ihn alle
erträumen
****
Fröhlich sein
Dies wird mir Gelegenheit
geben, fröhlich zu sein,
dachte er.
Doch etwas bedrückte ihn,
eine unbekannte Sehnsucht nach
Körper und Qual, ein
unbestimmtes, nicht einmal gefährliches
Verlangen nach Liebe, nach
Berührung und
Zärtlichkeit.
Vielleicht braucht es eine
Zeit, um sich lebendig zu
fühlen und fröhlich zu
sein, überlegte er.
****
Du
All das bist Du,
ob Du es willst oder
nicht, Anais, in den dunklen
Tiefen deiner verhängnisvollen
Wahrheit, Notwendigkeit und
Sensibilität
Ich liebte
Dich
****
Universum
All das um dich herum ist ein
abstraktes, nacktes
Universum nächtlicher
Verbitterung, Wehmut und
Verneinung
****
Licht
Wehe! – Licht in den brennenden
Laternen unten am
Rand dieser brennenden
Häuser und brennenden
Stadt!
****
Vorbei
Das Unbestimmte nächtlicher
Parks, verloren im endlosen
Gewirr, natürliche Labyrinthe der
Finsternis am morgendlichen
Wegrand der Verzweiflung voll
Widersinn,
Verwirrung und
Verlust –
vorbei
****
Im türlosen Haus
Ein sonniger Tag öffnet uns weite
Flächen selbst in einem engen
Haus voller Dunkelheit.
Der beginnende Abend entfaltet
wie ein Fächer unser Bewusstsein,
dass wir sind und immer nur
sein werden, wer wir
sind.
Ein Schatten auf dem
Fenster führt uns ins Innere
zurück, dass wir uns nur
mühsam schützen können im
türlosen Raum vor uns
selbst.
Dort, wo die Nacht uns zu
verführen beginnt mit ihrer
Nacktheit und ihrem
verführerischen Schein.
****
Tote Vergangenheit
Ich versinke wieder in
Gedanken, ich verliere mich
in mir selbst, ich vergesse mich in
fernen Nächten unbefleckter
Erinnerung voll Pflicht, voll
Welt und Mut geheimnisvoll
jungfräulich zukünftig wie diese tote
Vergangenheit in Dir und mir
****
Vorbeiziehen
Zeiten durchleben,
Schweigen durchleben,
gestaltlose Welten – sie
ziehen an Dir vorbei
Leid ohne zu
fühlen durchleben ohne zu
denken zu sein und –
vorbei
****
Gebrochene Spur
Mein Traum schließt:
Mit einer Handbewegung das Gerät und die
unwiederbringliche Zeit
vergessen machen.
Hellwach steigst du in dieser schwarzen Nacht
in das Bett deines Lebens, deiner
Vergangenheit und Zukunft,
alleine, ruhelos.
Wie Ebbe und Flut mischen sich am
Ende dieses Weges
Sehnsucht und Untröstlichkeit in einer
gebrochenen Spur
****
8. Mai 2019 Lissabon
Verstellung
Ein in die Ecke geworfenes
Etwas, ein auf die Straße geworfener
Lumpen – mein niederes
Wesen verstellt sich vor mir und
meinen niederen Versuchen von
Liebe und Leidenschaft
*****
Beneiden
Ich beneide alle um ihr
Nicht-Ich-Sein. Es war mir stets
von allen Unmöglichkeiten die
Allerunmöglichste in meinen
Begierden und in all den
traurigen Stunden meiner
Ohnmacht, meiner
Freude und
Verzweiflung
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Unruhe
Ein Schwall trüben
Sonnenlichts hat mir das
physische Empfinden heller
Strahlen in die Augen
gebrannt.
Das Gelb der
Hitze stand still vor dem
Grün-Schwarz der Bäume und der
Unruhe meines Körpers, meiner
Seele.
Wer bin ich, fragst du mich,
wenn nicht Du selbst in dieser
heiß brennenden Nacht?
Wer werden wir sein?
Wo werden wir sein?
(vertont)
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