318 Pessoa lesen (Gedichte 3/8)
Im Vorüberziehn (3)
Fragmente und Prosagedichte nach Texten von Fernando Pessoa
Sein oder Nicht-Sein
Dass alles, was ich tat und
dachte, alles, was ich war und
wusste, einer Täuschung
gleichkommt, einem
Wahnwitz.
Wie vieles von Dir mir nicht zu
sehen gelang, wie vieles wir (du und
Ich) nicht waren und dass wir
letztlich beide gar nicht füreinander
existierten,
Phantome einer überreizten Phantasie
darstellten, Irrtümer unseres
Wissens und einer blinden
Leidenschaftlichkeit der
Körper.
Und wie ich nun voller
Überraschung feststellen muss,
was ich und dass ich letztlich
gar nichts bin in deinen und meinen
traurig müden Augen
****
Rolle
Nein, ich habe nicht geschauspielert.
Ich war eine Rolle, die gespielt
worden ist von Dir. Ich war nicht der
Schauspieler. Ich war nur dein
Spiel in diesem Stück voller
Illusionen und trauriger Sehnsucht,
blutender Leidenschaft und
Schmerz
****
Ich-Selbst
Was ich tat, dachte und war,
sind Unterwerfungen gewesen unter eine
erdachte Person, die ich für mich
selbst gehalten hatte samt ihrer
Last von erniedrigenden Umständen,
die ich wie eine lebenswichtige
Luft zum Einatmen notwendig glaubte.
Im Augenblick von Wissen,
Einsicht und Verstehen jedoch, also jetzt,
bin ich ein verbannter
Krüppel voll Gleichgültigkeit und
Schmerz an einem traurigen Ort,
der Heimat mir war, Glück, Liebe und
einmal sogar, ach,
ich selbst.
****
9.Mai 2019 Lissabon
Gewesen sein
Fortgehen aus der Spur hin zum
Unmöglichen, sich von seinem
Schreibtisch aufrichten hin zum
Unbekannten, fortzugehen
versuchen ins Nirgendwohin, Alexandre.
Dazwischen die Vernunft und dieses
Große Buch, welches Dir sagt,
dass es uns gegeben haben
wird.
****
Vergeblicher Kampf
Es zerreißen wie Wolken im
Wind alle meine Vorstellungen von
Gott und Einheit,
jeder Ehrgeiz, jeder vermeintliche
Sieg verweht wie Asche und Nebel und
zeigt, was niemals war oder hätte sein können.
Jetzt, in dieser Niederlage nach dem
Gefecht, erscheint rein und mächtig
glänzend leuchtend die
schwarze und große Einsamkeit
des von uns allen leer gekämpften und unendlich weiten
Firmaments
****
Ohne Empfindung
Nicht die Last des äußeren Regens
fühlen, nicht das Leid der inneren
Leere, ohne Seele und Gedanken
einen Weg gehen zu müssen, der um Berge
führt, durch Täler, eingebettet in
Steilhänge, fern und schicksalhaft
verschlungen, sich verlieren in gemäldegleichen
Landschaften, empfinden ohne
Empfindung
****
Dämon
Ob nicht auch wir erfolgreich vom
Dämon der Selbsterkenntnis und
Wirklichkeit in Versuchung
gebracht werden
können
****
Sich kennen
Sich nicht kennen heißt
Tiersein. Sich kaum kennen heißt
denken. Sich erkennen heißt,
eine flüchtige Vorstellung besitzen von der
Seele in uns und ihrem magischen
Wert.
Doch das plötzliche
Licht des Wissens verbrennt uns,
verzehrt alles.
Entfernt uns sogar noch mehr von
uns selbst und unserer suchenden
Seele.
*****
Gefühle
An all diese Worte und Sätze
lehne ich meine Gefühle an.
****
Selbsterkenntnis
Ich weiß weder, was ich
empfinde noch was ich empfinden will,
Ich weiß weder, was ich
denke noch was oder wer ich bin
****
Zerbrechen
Das Licht bricht durch und lässt einen
fast ganz und gar blauen Himmel ahnen.
Doch keine Ruhe ist in meinem
Herzen, in diesem alten Brunnen am Ende unseres
verkauften Landgutes, Erinnerungen an meine
verschlossene Kindheit auf dem staubigen
Dachboden dieses fremden Hauses,
keine Ruhe, nicht einmal, ach,
ein Verlangen danach,
bevor ich mich so blind sehend zu
schützen versuchte und
zerbrach
****
Wahrheit
Unsere verkrüppelte Sprache
ist nur noch Phantasie für
Künstler samt ihrer Verzweiflung.
Mehr nicht. Wahrheit ist
ganz woanders.
****
21.Mai 2019 Stuttgart
Botschaft an die Zukunft
Message
(Blaise Pascal)
All diese Worte und Sätze,
an die ich mich anlehne wie in einem schweren
Traum, scheinen mir trotz ihrer Fehler und
Schwächen dazu bestimmt,
das Weltall mit seinen unendlichen Sternen
wieder zu errichten und
mich dazu.
*
Ich betrachte den großen Himmel und seine vielen Gestirne,
und ich fühle mich frei in diesem beflügelnden Glanz,
in dieser Schwingung,
die in meinem Körper nachbebt
und mich lebendig werden lässt.
Von Innen her wie über die Stadt von Außen
kommt der unbeschreibliche Friede des harten
Mondlichts über mich, das sich langsam mit der einbrechenden
Dämmerung weit über mich ausbreitet.
Ich möchte meine Arme heben und
Dinge von unbekannter Wildheit heraus schreien,
den hohen Mysterien Worte zurufen,
den großen Räumen der leeren Materie eine neue,
weit gespannte Persönlichkeit zubilligen.
Doch der ungewisse, zu mir gehörende Mondschein
beginnt jetzt die halb schwarze Bläue des Horizonts
mit seiner Unbestimmtheit zu trüben,
ganz Im Bewusstsein, dass ich die weite objektive
Metaphysik des großen Himmels
mit einer Sicherheit zu sehen und zu deuten verstehe,
welche in mir das Verlangen weckt,
mit der kosmischen Harmonie zu
verschmelzen und singend
unterzugehen.
****
313 Pessoa 1 (mit Einführung)
317 Pessoa 2
318 Pessoa 3
319 Pessoa 4