319 Pessoa lesen (Gedichte 4/8)
Im Vorüberziehn (4)
Fragmente und Prosagedichte nach Texten von Fernando Pessoa
12.Mai Stuttgart
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Verurteilt
Mein wahres Wesen, das stets
schläfrig hin- und herreist zwischen dem,
was es fühlt, und dem, was es sieht,
bedrückt mich wie eine
bevorstehende Verurteilung
Wie ein Reisender, der sich an einem
fremden Ort befindet ohne zu wissen,
warum und wie er dorthin
gelangt ist
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Genesung
Sein Gedächtnis verlieren und
für lange Zeit ein Anderer
sein
Jetzt erwachen mitten auf der
Brücke und wissen, dass man fortan
beständiger existieren wird
als jener Andere, der man war
So warte ich, dass die Wahrheit
an mir vorübergeht und ich
genese zu einem nur wenig wichtigen,
erdachten, denkfähigen und
natürlichen Wesen
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Sich anlehnen
Ich schlafe hellwach, am
Fenster stehend, an das ich mich
anlehne – meine Gefühle, mein
Denken, Sehen, Sprechen und
Tun:
dass ich ein anderer
bin, sein möchte, geworden
wäre und war
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Hygiene
Mein Verharren in diesem
immer gleichen Leben, diesem
Staub, diesem Schmutz an der
Oberfläche der Dinge und der Nicht-Veränderung
ist ein schmerzliches
Fehlen von Hygiene und wertfreier
Selbst-Achtung
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Schweine
Manche Schweine suhlen sich in ihrem
Schicksal, lassen nicht ab von der
Banalität ihres Lebens und der eigenen
Schweinerei
Wie Vögel, die der
Gedanke an die Schlange
fesselt, wie Fliegen, die in die
klebrige Reichweite einer
Chamäleon-Zunge gelangen und
ganz ihrer Spur nur verhaftet
bleiben müssen
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Monotonie
Unser bewusstes Unbewusstes zwischen den
Baumstämmen des gewöhnlichen Lebens
hindurch führen
Die Zeit vergeht und unser Schicksal
spazieren führen, das seinen
Lauf nimmt
Nichts rettet uns vor dieser
Monotonie – wenn nicht das
Schreiben und meine kurzen
widersinnigen Kommentare,
die ich zurecht biege wie einen
Stock im Wald von Charleville bei
Arthur Rimbaud
Ardennen
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Gewesen sein
Zwischen den Gittern unserer
Zellen sind Fenster, um unsere
Namen auf das Glas und unser
Abkommen mit dem Tod zu
schreiben, dass wir sind,
dass wir gewesen sind
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Vergehen
Verwelken
Vereinsamen
Vervegetieren
Vergehen
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Ein Ort
Der Ort, wo du warst, bleibt,
ohne dass du dort bist.
Die Straße, durch die du gegangen bist,
bleibt, ohne dass man dich dort sieht.
Das Haus, in dem du gewohnt hast,
ist bewohnt von einem Anderen.
Wie froh wärst du,
bleiben zu können ohne
fort gehen zu müssen,
zu wohnen ohne den Anderen zu
sehen, zu sterben, ohne
gelebt haben zu müssen
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27. Mai 2019 Stuttgart
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Gespenst
Das Geheimnis des Lebens schmerzt und
erschreckt uns auf vielfache Weise.
Wie ein gestaltloses Gespenst
steht es als verworrene Inkarnation des
Nichtseins hinter uns,
sichtbar als Wahrheit, wenn wir uns nicht
danach umsehen und zutiefst entsetzt sind,
dass wir es nicht erkennen können.
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Eines Tages
Mein Wunsch, dass ich eines Tages,
an einem Tag ohne Zeit und Substanz,
einen Fluchtweg aus Gott heraus finden
möge
und das Tiefste in uns aufhören wird,
ein Teil des Seins oder des
Nichtseins zu sein.
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Ein Untergang
Traurigkeit des Untergangs,
schwer vor Erschöpfung und falschem Verzicht,
ein Überdruss bei der geringsten Empfindung,
ein Schmerz über ein unterdrücktes Schluchzen
oder eine enthüllte Wahrheit.
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Verwirrung
In meiner verträumten Seele
entfaltet sich eine Landschaft der Entsagung:
Alleen unterlassener Gesten,
hohe Blumenbeete nicht gut geträumter
Träume, Widersprüche, die wie
Buchsbaum-Hecken verwaiste Wege teilen,
Vermutungen wie alte Teiche, deren
sprudelnde Fontänen versiegt sind –
alles verwirrt sich und tritt erbärmlich zu Tage
im traurigen Durcheinander meiner
verworrenen Gefühle und Empfindungen.
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Überdruss
In Abständen folgt blau-weiß blinkend ein
Leuchtkäfer sich selbst.
Ringsum ist die dunkle ländliche
Landschaft ein großes Fehlen von
Lärm und es riecht fast angenehm.
Der Friede von allem ist schmerzlich und
bedrückend. Ein gestaltloser
Überdruss erstickt mich.
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Künstlichkeit
Allen, die so fühlen wie ich,
ist das Künstliche zum Natürlichen geworden
und das Natürliche ist jetzt etwas Fremdes.
Nicht das Künstliche ist zum Natürlichen geworden,
sondern das Natürliche
zu etwas anderem.
Die Künstlichkeit verhilft zum Genuss der
Natürlichkeit.
Ich habe sie genießen können,
weil ich hier und in ihr nicht lebe.
Die Freiheit spürt nicht,
wer nur unter Zwang gelebt hat.
Die Zivilisation erzieht uns zur
Natur. Das Künstliche ist der Weg zur
Würdigung des Natürlichen und seiner
Natur, die Natur des Natürlichen
kennen und fühlen zu lernen
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Das andere Ufer
(Marguerite Duras)
Niemand gelangt ans andere Ufer oder
wird je dorthin gelangen können.
Selbst wenn ich im Widerspruch zu Zeit und
Raum dorthin entfliehen könnte,
gelangte ich doch niemals
in dieses andere Land.
Ich würde vergeblich auf etwas
warten, von dem ich nicht wüsste,
was es ist.
Am Ende käme langsam die dunkle Nacht.
Unser gesamter Raum nähme die
Farbe der schwärzesten Wolken an,
die nach und nach im mühsam neuen
Himmel von Begegnung und Leidenschaft
versinken müssten.
Der Mann, der meinen Weg gekreuzt hat,
betrachtet mich mit dem Misstrauen eines
Menschen, der nichts zu erklären, nichts zu
verstehen sucht und der weiß, was er fühlt.
„Das Fremde fühlen heißt kennen. Wissen heißt
Liebe fühlen. Denken ist fühlen und wissen und
lieben zugleich“, sagt der Schauspieler.
Doch plötzlich spürst du eine Kälte.
Sie berührt deinen nackten Körper,
steigt auf aus den Knochen in die
Höhe und weiter. Ich atme tief und
erwache.
„Der schwarze Himmel zog sich zusammen“,
sagt der Schauspieler, „öffnete sich.
Dann senkten sich seine Wolken
noch tiefer über das
andere Ufer mit uns allen“.
„Sie sind sich fremd und glauben nicht,
dass sie sich jemals gekannt haben werden“,
sagt der Schauspieler.
„Niemand gelangt jemals ans andere Ufer oder wird
dorthin gelangen können“.
(für AR)
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Nichtige Klarheit
In dieser leeren, unabwendbaren Stunde
gefällt es mir, mein Denken freiwillig zu einer
Gedankenkette zu führen,
die nichts ist, aber in ihrer nichtigen Klarheit
etwas von der einsamen Kühle des
heller geworden Tages zurückbehält:
den schwarzen Hintergrund in der Ferne und
gewisse Versuche, die im Gegensatz dazu wie
Möwen das Geheimnis aller Dinge in diesem
tiefen Schwarz herauf zu beschwören
versuchen.
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