320 Pessoa lesen (Gedichte 5/8)
Im Vorüberziehn (5)
Fragmente und Prosagedichte nach Texten von Fernando Pessoa
Mein Siegeskranz
In den Abgrund aller Dinge den
Glorienschein meiner Enttäuschung
mitnehmen wie einen tiefen Traum,
den Glanz des Unglaubens wie ein
Banner der Niederlage hoch halten,
in kraftlosen Händen ihn tragen wie einen
Siegeskranz durch den Schlamm und das
Blut der Schwachen, die im Treibsand
versinken in einer Geste der
Verzweiflung
Der Sand verschlingt Bannerträger und jene,
die keine Banner tragen.
Er bedeckt alles, mein Leben,
mein Schreiben, meine Kunst,
die Ewigkeit
****
Lesen
Ich lese wie einer,
der verzichtet, der wie der
scheidende König seine Trophäen des
Überdrusses und des Traumes
zurück lässt auf dem
Mosaik seiner Vorzimmer,
der die Treppe emporsteigt,
angetan nur mit dem
Adel seines
Blickes
****
Bett
Ich hasse dich,
weil ich dich liebe,
ich berühre dich mit Zärtlichkeit,
obwohl ich dich überaus ungern fühle.
Deine als Gemälde so wunderbar gefundene
Landschaft ist meist ein wenig bequemes
Bett von Liebe und
Lust
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Abendsonne
Wenn ich in meine Seele
hinabsteigen will, Eloy, bleibe ich an der
Treppenspirale nach unten
stehen und sehe
selbstvergessen die
Sonne,
wie sie mit ihrem Abschiedsrot die
weite Landschaft der Dächer
träumerisch tränkt und
erhellt und mit Musik uns
ruhig zu stellen versucht
****
5.Juni Stuttgart
Stümperhaft
Kriegsmüde und kriegstrunken wie ich
werden sie alle die große schmähliche Niederlage
erleben zwischen Schlamm und Schilf,
ohne Mondlicht über den Ufern, ohne die Poesie der
Sümpfe, jämmerlich und
stümperhaft
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Selbstgewissheit
Ich bin ein Brunnen von Gesten,
die sich in meinem Inneren nicht einmal andeuten,
von Worten, die ich nicht einmal mit einer
Bewegung meiner Lippen denke,
von Träumen, die ich vergesse, zu Ende zu
träumen.
Ich bin die Ruine von Häusern,
die nie etwas anderes als Ruinen
waren, da man bereits während ihrer Entstehung
müde wurde, sie fertig zu stellen.
Ich bin der unbehauene, erdbeschmutzte Sockel,
auf dem die Statue meines Überdrusses
sich unvergleichlich stolz erhebt,
eine dunkle Gestalt, ein Antlitz,
ein Lächeln, unergründlich und
geheimnisvoll.
Wohl mir, der ich mein Leben
niemandem jemals anvertraut
habe.
****
Abgrund der Metaphern
1
Leben ist Bewegung im Schatten eines Theaters.
Wir sind das Ungewisse, welches sich in einem seiner
Zwischenakte und Interludien abspielt.
Manchmal spähen wir neugierig, wie wir sind,
durch bestimmte Türen hindurch und
entdecken Kulissen, aufgebaut nur
für uns. Die Welt dort wirkt
verworren wie Stimmen in der
Nacht.
2
Beim Durchlesen dieser letzten
Sätze und Bilder im Text, die ich mit einer Klarheit schreibe,
die nur in ihnen selbst fort dauert,
frage ich mich dennoch: Was ist das, was da
geschrieben steht und ich erfinde
über das Theater und wozu?
Wer bin ich, wenn ich
fühle? Was ist in mir,
wenn ich bin?
3
Während dieser Momente, wo sich in meiner
Seele ein Abgrund auftut, bedrückt mich die kleinste
Kleinigkeit im Denken wie ein Abschiedsbrief.
Ich fühle mich beständig wie kurz vor dem
Erwachen, empfinde mich als Hülle
meiner selbst, erstickt in seltsamen
Folgerungen und dunklen Metaphern.
Am liebsten würde ich schreien,
verhallte meine Stimme nicht
ungehört im Ungewissen.
4
Mit mir ist ein tiefer Schlaf,
der die Wolken von einer Empfindung zur anderen
treibt, Wolken, die vielsonnenfarbig und grün
das halb beschattete Gras der weiten
Felder färben. Sie trösten mich in meiner
Einsamkeit, Eigenwilligkeit und
Unbeständigkeit.
5
Diese vergeblichen Stunden, ein kurzer
Frieden und kleine Illusionen, sie zeugen von meinen
großen, auf eine Landschaft übertragenen
Hoffnungen und Kümmernissen. Wie
Zimmer, in die man nicht geht, weil man
Angst hat, sich mehrfarbig darin zu
verlieren, Angst vor lautlosen Stimmen und diese tiefe
Müdigkeit vor einem nicht geschriebenen
Großen Buch
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Wirklichkeiten
Wir stellen Wirklichkeiten her:
Falsche Namen für Dinge und der
wahre Traum schaffen diese neue
Wirklichkeit.
Liebe zum Beispiel ist in der
Sprache der Biologie ein Geschlechtstrieb.
Doch wir lieben nicht mit dem Geschlechtstrieb,
sondern in der Annahme eines Gefühls,
das zur Liebe bereit scheint.
Diese Annahme bewirkt bereits eine andere
Liebe, wofür man sich nicht
zu verbergen braucht.
****
Selbst-Diagnose
Ich weiß nicht,
wohin ich meine Gedanken führen wollte oder
welche Richtung ich ihnen hätte geben können.
Der Tag heute ist leicht neblig, feucht und warm, traurig,
nicht bedrohlich, eintönig ohne Grund.
Ein Gefühl, das ich nicht einordnen kann, schmerzt mich.
Mir fehlt ein Argument, ich weiß nicht wofür.
Ich habe keinen Willen in meinen Nerven.
Ich bin traurig unterhalb des Bewusstseins.
Der Tag geht zur Neige,
eintönig und ohne Regen in einem
matten, ungewissen Lichtton
Ich höre auf zu schreiben und
lehne mich zurück.
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Als Mensch
So manches Mal fühle ich mich als
Mensch, gefangen auf einer Oberfläche
und in der Illusion.
Ich begegne freudig anderen
Menschen und ich existiere
in Klarheit.
Schwimme obenauf,
nehme mein Gehalt freudig in
Empfang und gehe freudig
nach Hause.
Ich nehme das Wetter wahr,
ohne es zu sehen,
alles Organische beglückt mich.
Ich sinne nach mit den
Sinnen, und sinne ich nach,
dann denke ich nicht.
An solchen Tagen
genieße ich
Parkanlagen über alles.
****
Ziele
Es gibt Tage, an denen die Landschaft
zu mir gehört und ich in ihr bin
wie ein Schauspieler in einem bitter-süßen
Stück. An diesen Tagen gaukle ich mir ein Ziel vor,
und ich bin zumindest in gewisser Weise
glücklich.
Bin ich abgelenkt,
bilde ich mir ein, ich hätte wirklich ein
Haus, ein Heim, in das ich
zurückkehren könnte.
Wenn ich vergesse,
werde ich ein normaler Mensch,
einem bestimmten Ziel zugedacht,
der seinen Anzug
bürstet und die Zeitung
von vorne bis hinten liest.
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Illusionen(1)
Illusionen halten nicht lange,
weil sie so beschaffen sind
und weil es Abend wird.
Die Farbe der Blumen,
der Schatten der Bäume,
die Geometrie von Straßen und Beeten,
alles verblasst und schrumpft.
Über meinem Irrtum und meinem
Menschsein erscheint plötzlich, als sei das
Tageslicht ein Theatervorhang,
der sie vor mir verbarg,
die große Sternenkulisse.
Dann vergessen meine Augen das
Parkett, und aufgeregt wie ein
Kind im Zirkus erwarte ich die ersten
Darsteller.
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Illusionen(2)
Aller Illusionen müde und all dessen,
was sie mit sich bringen:
ihren eigenen Verlust,
die Nutzlosigkeit, sie zu haben,
die Vor-Müdigkeit, sie haben zu
müssen, um sie zu verlieren,
der Kummer, sie gehabt zu haben,
die intellektuelle Scham, wohl wissend,
dass sie ein solches Ende nehmen würden.
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Kinder des Schicksals
Ich empfinde Zärtlichkeit für diese
Menschen. Eine Zärtlichkeit, wie man sie für die
allgemeine Mittelmäßigkeit empfindet,
für das banal Alltägliche eines FamilienOberhauptes,
das zur Arbeit geht.
Für sein schlechtes und fröhliches Heim,
für die heiteren und traurigen Vergnügungen,
aus denen sein Leben notgedrungen
besteht, für die Unschuld eines Lebens ohne
Reflexion, für die tierische Natürlichkeit seines bekleideten
Oberkörpers .
Eine unmittelbare Verbundenheit mit
Menschen ohne logische Schlüsse und Absichten
überkommt mich. Ich sehe sie alle mit dem
Gefühl des einzig Bewussten,
diese armen Teufel, die Menschen,
die Menschheit.
Was hat all das hier zu suchen?
Ich empfinde Zärtlichkeit.
Der Rücken dieses Mannes schläft.
Seine ganze Person, wie sie vor mir
mit meinen Schritten geht, schläft.
Vielleicht sogar ich.
Unbewusst gehen.
Unbewusst leben.
Schlafen, weil wir alle schlafen:
Kinder des ewigen
MenschenTier Schicksals.
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Zustände
Ich bin befreit
und bin verloren.
Ich fühle.
Fieber Frost.
Ich bin.
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