321 Pessoa lesen (Gedichte 6/8)
Im Vorüberziehn (6)
Fragmente und Prosagedichte nach Texten von Fernando Pessoa
Stuttgart, 10.Juni 2019
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Menschen
Zur Berührung gezwungen sein:
Dass es noch andere, wirkliche
Menschen gibt im
Leben,
dass wir lieben können
und dürfen
sollen
Weggehen und zurück
finden aus der
Heimatlosigkeit unserer bodenlosen
Existenz
Das Übel des Lebens beginnt mit unserem
Körper und verstört uns.
(für AR)
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Zärtlichkeit
1
Das ganze Leben ist ein Traum.
Niemand weiß, was er tut,
niemand weiß, was er will,
niemand weiß, was er weiß.
2
Deshalb meine gestaltlos große
Zärtlichkeit für die ganze Menschheit,
für das ganze schlafende Leben in der Gesellschaft,
in dieser Zivilisation,
für alle,
für alles.
3
Unfreiwillige Träume oder Ruhepausen zwischen zwei
Wirklichkeiten, zwischen zwei Tagen des
absoluten Seins. Unser
Sinn-Sein.
4
Ich bin gerührt und öffne mich weit wie etwas
Unendliches. Ich umarme alle hellwach mit der gleichen
absurden Zärtlichkeit und Kälte.
TierMenschen mit unterschiedlichen Gesichtern,
mit Körpern wie Marionetten, an Fäden gezogen,
die zu den Fingern einer unsichtbaren
Hand führen.
5
Alt oder Jung –
gehören sie alle zum gleichen
nicht existierenden Geschlecht.
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Mühe
Im fernen Norden leben Menschen,
die sich mit mir und meiner Sprache
beschäftigen und abmühen.
Ein erstaunliches Abstraktionsvermögen,
das ich besitze und pflege,
loben sie, eine seltsam
neuartige Verbindung der
Worte, Gedanken und
Gefühle miteinander
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Dimensionen
Alle Wirklichkeiten sind Dimensionen
ein und desselben Raumes,
der weder materiell noch geistig ist.
In der einen Dimension leben wir als
Körper, in der anderen als Seele.
Was wir Gott nennen und was sich so offenkundig
auf einer anderen Ebene jenseits von
Logik und räumlicher wie zeitlicher
Wirklichkeit befindet, ist eine uns eigene
Anschauungsweise, eine Empfindung unseres
Selbst in einer wieder anderen
Dimension des Daseins.
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Ameisen
Ameisen, nur
Ameisen in einer großen
Ameisen-Welt mit
Propheten, die über den
Rand schauen
können und
Göttern, die wir nicht
sehen oder
verstehen werden
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Träumer
Vielleicht sind auch die Träume eine andere
Dimension, in der wir leben.
Wie ein Körper in der Höhe, in der Breite und in der
Länge lebt, werden vielleicht auch unsere Träume
im ldeal, im Ich und im
Raum leben.
Im Raum durch ihre Veranschaulichung,
im Ideal durch ihre nicht materielle
Substanz, im Ich durch jene innere
Dimension, die sie als die unsere
auszeichnet.
Heutige Träumer sind vielleicht die großen
Vorläufer einer künftigen Wissenschaft der
Letztbegründungen.
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Zeit der Genesung
Das Leben möge eine Zeit der
Genesung sein, ohne ein Weitergehen.
Man verspürt nichts.
Man geht bewusst an der Tür
vorüber, durch die man hätte eintreten sollen,
man geht wie im Schlaf und vermag dem
Körper keine andere Richtung zu geben.
Man geht an allem vorüber.
Was ist mit deiner Rechenmaschine, Mensch,
wenn du einmal still stehst?
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Glasscheibe
Zwischen mir und dem Leben ist eine dünne
Glasscheibe. So deutlich ich das
Leben auch erkenne und
verstehe, berühren kann ich es ebenso
wenig wie meine
Seele oder mich selbst.
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Der Andere
Es ist kein gewöhnlicher und vermeintlich
Anderer, dessen Leben,
da es nicht meines ist,
mich kraft seines Willens
unwissentlich durchdringt mit dem
Anderssein seines anderen
Lebens und Liebens
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Schatten
(Platon)
Schatten sind es, Schatten in
Höhlen der Unaufrichtigkeit,
Hoffnungslosigkeit und
Sehnsucht nach
Sonne und
sich selbst
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Geschlechtstrieb
Ich fühle den Geschlechtstrieb in mir
wie eine Vase voll
Wasser, mit Blumen, rot und
kräftig, mit Sehnsucht im ganzen
Leib nach Wärme,
Zärtlichkeit und Traum.
Auch wenn mich dieser
Traum vom Geschlechtstrieb
immer mehr entfernt von Dir und
mir und uns.
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SchattenMenschen
Ich bin allein auf der Welt.
Ich sehe alles von der Höhe eines
geistigen Daches aus:
Sehen heißt abseits stehen.
Klar sehen heißt still stehen.
Analysieren heißt fremd sein.
Ich gehe durch ein großes, verlassenes
Haus. Bewohnt von Schatten, die mich
umgeben, Söhne der toten
Dinge und des Lichts, das mich
begleitet. Selbst hier, in der Sonne,
umgeben mich diese Schatten,
SchattenMenschen.
Die Leute gehen vorüber ganz ohne
Berührung. Um mich herum nur
Luft. So allein, dass ich den
Abstand zwischen mir und meinem Anzug
spüre.
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Schreibkunst
Was man fühlt, exakt es so zu sagen,
wie man es fühlt:
Klar und deutlich, sofern es deutlich ist.
Unbestimmt, sofern es unbestimmt ist.
Verworren, sofern es verworren ist.
Die Grammatik als Werkzeug verstehen
und nicht als Gesetz.
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Sprechen
Absolut sprechen,
photographisch,
jenseits von Plattheit,
Normen und
Alltäglichkeit
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Sagen
Ein Mensch, der sich aufs Sagen
versteht, muss ein transitives
Verb oftmals in ein intransitives
umwandeln um zu fotografieren,
was er empfindet,
statt es, wie die Allgemeinheit der
MenschenTiere, im
Dunkeln zu sehen.
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Seele
Seele sein ist
sich sein, ist sich
besitzen in all seiner
Gegensätzlichkeit,
Grausamkeit,
Fremdheit und
Eleganz.
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Im Nebel
Im Nebel verschwinden wie ein allem
fremd Gewordener,
eine menschliche Insel,
losgelöst vom Traum des
Meeres, ein Schiff mit einem
Übermaß an Sein,
an der Oberfläche von
Gott und Mensch und
Welt
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