322 Pessoa lesen (Gedichte 7/8)
Im Vorüberziehn (7)
Fragmente und Prosagedichte nach Texten von Fernando Pessoa
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Geistiges Dach
Ich bin allein auf der Welt. Ich sehe alles von der Höhe eines
geistigen Daches aus.
Sehen heißt abseits stehen.
Klar sehen heißt stillstehen.
Analysieren heißt fremd sein.
So allein, dass ich den
Abstand zwischen mir und meinem Anzug
spüre.
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Vorübergehen
Die Leute gehen vorüber ganz ohne
Berührung. Um mich herum nur
Luft.
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16. Juni 2019 Stuttgart
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Zukunft
Weinen können über
Unvorstellbares,
unerklärliche Niederlagen,
nicht existente Lieben und das große,
angstvolle Erschaudern vor
ich weiß nicht was und
welcher Zukunft.
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Wirklichkeit der Dinge
Riesig, ewig, endgültig für
immer und in
Gottes erhabener
Größe,
Getragen von der traurigen,
schläfrigen Tiefe der letzten
Wirklichkeit der
Dinge.
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Unendlichkeit
Wärme im Winter, das
Haus, das Gut, dieses
Wissen und still unmerkliche
Abschweifen meines
Bewusstseins
Lautlos ein stiller
Traum in unermesslicher
Größe und Weite der
Mond zwischen den
Sternen kreisend
im Unendlichen des
Universums
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Sterne
Ich schaue auf und sehe die
Sterne. Sie haben keinen
Sinn.
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Nichtwissen
Sich abfinden mit der
Unverständlichkeit des
Universums,
es verstehen wollen heißt
weniger als ein
Mensch sein
Mensch sein heißt
wissen, dass man es nicht
verstehen kann.
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Bedeutungslos
Die einzige eines höheren Menschen würdige Einstellung ist das
beharrliche Festhalten an einer Tätigkeit, die man als nutzlos erkennt,
das Unterwerfen unter eine Disziplin, von der man
weiß, dass sie fruchtlos ist,
das rigorose Anwenden philosophischer
DenkNormen, deren Bedeutungslosigkeit man erkannt hat und
respektiert.
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20. Juni 2019 Funchal/Madeira
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Wir selbst
Uns selbst erfinden in Musik, Trauer,
Unklarheit und
Traum
Worte finden, im sanften
Gefälle von uns selbst fließen wie ein
verzauberter Fluss hin
über Berge und Tal und
TagNacht zum Unbewussten und
Fernen hin ohne Ziel hin immer
mehr und weiter zu
Gott
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Leben heißt
Leben heißt ein
Anderer sein, heute der
lebendige Leichnam all dessen
sein, was gestern gelebt
hat und verloren
ging
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Im Mondschein-Wald
Warum war es undenkbar,
dass ich dich dort im Wald am
Fluss im ewigen Mondschein von meinem
Versteck aus im Boot unter den
traurig hängenden Zweigen einer
Weide habe vorüber
fahren sehn?
Meine Sehnsucht war anders, Alexandre.
Meine Verzweiflung äußerte sich anders.
Meine Angst hatte andere Auswirkungen.
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Gebet
Könnte dies alles doch einen
Sinn in Gott und eine Erfüllung meiner
Wünsche und Gebete finden,
in einem Paradies, von Gott so
gewollt und eingerichtet in einer
perfekten Ordnung und notwendigen
Form für mich und meine
vertikale Zeit
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22.Juni 2019 Funchal/Madeira
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Gott
(Nietzsche)
Wo ist Gott,
auch wenn er nicht
existiert?
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Vielfalt
Jedes Ding ist ein Wunder
oder ein Hemmnis,
ein alles oder ein nichts,
ein Weg oder ein Problem.
Es immer wieder anders
betrachten und
verstehen heißt,
es zu erneuern und zu
vervielfältigen.
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Kosmos
Ein kontemplativer Mensch hat,
ohne je sein Dorf zu verlassen,
dennoch das ganze Universum zu seiner
Verfügung. Das Unendliche findet sich in
einer Zelle wie in einer
Wüste. Auf einem Stein kann man
schlafen wie in einem
Kosmos.
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Denken
So sehr wir über etwas
nachdenken und es durch unser Nachdenken
verändern – es wird doch immer
Gegenstand unseres Nachdenkens
bleiben.
Doch irgendwann überkommt uns die Sehnsucht nach dem Leben:
Erkennen ohne Erkenntnis, Nachdenken nur mit den
Sinnen, tastend und fühlend denken, aus dem Gegenstand
unseres Denkens herausfinden
als wären wir Wasser und das Denken ein Schwamm.
Dann wird es auch für uns Nacht, und unsere große emotionale
Erschöpfung verstärkt sich weiter, da sie vom Denken nicht mehr
geleitet wird.
Diese Nacht dann ist ohne Ruhe, ohne Mond und Sterne,
alles ist durcheinander und voller Widersprüche, das
Unendliche scheint nach Innen gekehrt und
eingeschränkt und der Tag wird zum schwarzen
Futter eines nie gesehenen
Anzugs.
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Abendrot
Mit zerstörtem Antlitz
die morgendliche
Schönheit des
Abendrots schauen
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Unwissenheit
Ja, es ist besser, eine menschliche
Schnecke zu sein, die
liebt, was sie nicht kennt, ein
Blutegel, der nicht weiß, wie
abstoßend er ist.
Die Unwissenheit als Leben, das Fühlen als Vergessen.
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Qual
Wie viele Geschichten sind nicht schon
verloren gegangen im grün-weißen
Kielwasser der Schiffe, im
kalten Speichel des großen Steuerruders
und unter den Augen der alten
Kajüten diese
Qual
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Künstler
Die Beharrlichkeit, mit der TatMenschen Dichter und Künstler seltsam finden,
kann ich heute nur noch belächeln.
Künstler sind Träumer, die unsere Träume in Worte fassen können,
ein gewisses Anderssein steht ihnen zu und ganz ohne
Selbstmitleid.
Die Überlegenheit des Künstlers
besteht darin, dass er aus dem Leben eine viel
umfassendere Wahrheit und einen
vielfältigeren Genuss ziehen kann
als der TatMensch.
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Bewerten
Da das Leben im Wesentlichen ein geistiger Zustand ist und alles,
was wir tun oder denken, die Gültigkeit besitzt,
die wir ihm zugestehen, hängt die Bewertung
von uns ab.
Nach uns die Sintflut,
aber erst nach uns allen.
Wohl denen, die erkennen, dass alles Interpretation,
Fiktion und Traum ist,
dass sie ihren Roman schreiben,
bevor ihn ein anderer für sie
schreibt, um insgeheim auch
schreiben zu können
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Wirkliche Bedeutung
Ich habe immer nur geträumt.
Dies und nur dies ist der Sinn meines
Lebens gewesen.
Von wirklicher Bedeutung war nur mein
inneres Leben. Meine größten
Kümmernisse verflogen,
wenn ich das Fenster auf die
Straße meiner Träume öffnen
konnte und mich selbst
vergaß bei all dem,
was ich sah und sagte.
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Poesie
Alles, was nicht mein ist,
so gering es auch sei,
hat immer etwas Poetisches
für mich. Nie habe ich etwas anderes
geliebt als das nicht Meinige, das
Unvorstellbare
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Glückliche Begegnung
Vom Leben habe ich als Denker nur erbeten,
an mir vorüberzuziehen, ohne dass ich es spüre.
Von der Liebe habe ich nur verlangt, nie aufzuhören,
ein ferner Traum zu sein.
Wenn ich dies alles träume und mir ausmale,
wie ich den einfachen Menschen
begegnen könnte, werde ich heiter,
werde ich Ich,
hüpfe umher, meine Augen glänzen, ich öffne die
Arme weit und verspüre ein gewaltiges, unvergleichliches
Glücksgefühl, alle und alles um mich
herum zu umarmen.
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Verzweiflung
(Den vielen Zuwanderern dieser Welt)
Ach, es gibt keine schmerzlichere
Sehnsucht als nach Dingen, die nie waren!
Wenn ich über dem Leichnam des Lebens meiner dahin gegangenen
Jugend und Kindheit trauere, über die Unwirklichkeit meiner
Traumgestalten,
über mein Pseudo-Leben,
wie es in der von mir geschauten Welt
um die Straßenecke biegt oder den Torweg
entlang geht –
wenn ich all die tote Vergangenheit
betrachte, die in mir lebendig ist
und war –
die Zeit nicht wieder aufleben
lassen zu können, diese Sehnsucht nach meiner
Vergangenheit –
dieses mein wirkliches früheres Leben, das jetzt tot und feierlich
in seinem Sarg ist und bei Gott, dem Schöpfer all dieser
Unmöglichkeiten
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Traumverloren
Gäbe es doch zumindest ein
Paradies aus all dem, was ich erschaffe,
wenn auch nur für mich!
Könnte ich meine erträumten Freunde treffen,
durch die Straßen gehen, die ich mir erschuf,
erwachen beim Gegacker und Krähen
der Hähne und Hühner, mit den
morgendlichen Geräuschen des
Landgutes aufwachen, in dem ich mich
sah –
Weshalb gibt es keine Inseln für
Leidende, keine alten
Alleen für Traumverlorene?
Das alles ist von Gott gewollt und eingerichtet in seiner so perfekten
Ordnung, um bestehen zu können im täglichen Leben,
in seiner notwendigen Form, um mein zu sein, ich sagen zu
können, ich und du und wir, etwas, das noch nicht einmal
meine Träume vermögen.
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Müssen
Leben müssen und handeln, wie wenig
auch immer
Zur Berührung gezwungen sein, denn es gibt
wirkliche Menschen im Leben
Das Sich-selbst-Erfinden in Musik und Unklarheit,
Worte finden voll Verzweiflung und Stolz
Tränen in den Augen, im sanften
Gefälle des Selbst fließen wie ein
verzauberter Fluss
Immer weiter ohne
Ziel und Zweck zum Fernen hin hin zu
Gott
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Gestern
Leben heißt ein anderer sein.
Heute der lebendige Leichnam dessen sein,
was gestern gelebt hat und
verloren gegangen ist.
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313 Pessoa 1 (mit Einführung)
317 Pessoa 2
318 Pessoa 3
319 Pessoa 4
320 Pessoa 5
321 Pessoa 6
322 Pessoa 7
323 Pessoa 8