323 Pessoa lesen (Gedichte 8/8)
Im Vorüberziehn (8)
Fragmente und Prosagedichte nach Texten von Fernando Pessoa
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Funchal, Juni 2019
Echo und Abgrund
Fühlend und wahrnehmend schuf ich mich in
Echo und Abgrund.
Ich vervielfachte mich, indem ich mich
vertiefte.
All diese Dinge, die mir nicht
gehören, fesseln mein empfindsames
Nachdenken mit Banden des
Widerhalls und der Sehnsucht.
In jeder einzelnen dieser
Wahrnehmungen bin ich ein anderer,
erneuere mich schmerzlich in jedem
unbestimmten Eindruck am
Abgrund.
Ich lebe von Eindrücken, die nicht die
meinen sind, ich bin ein
Verschwender des Verzichts, ein
anderer in der Art, wie ich
ich bin.
Denkend schuf ich mich in Echo und Abgrund.
Ich vervielfachte mich, indem ich mich
vertiefte nicht nur in Worten oder in der
Musik
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Hügel der Stadt
Hohe Hügel von Lissabon!
Ihr seid heute,
ihr seid ich, weil ich euch sehe, ihr seid
morgen, was ich sein werde, und ich
liebe euch,
an der Reling stehend
als kreuzten einander zwei
Schiffe und hinterließen eine große
Sehnsucht nach
dir und mir
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Am Meer
Das Geräusch der nächtlichen
Wellen als das Geheimnis von
Abgrund, Sehnsucht und Nacht
1
Wie viele Tränen sind
geweint worden von denen,
die nichts erreichten,
und von denen,
die viel vollbracht haben
2
Was man verlor,
und was man hätte wollen sollen,
was man irrtümlich
erreichte und
erfüllte
3
Was wir liebten und verloren und,
als wir es verloren hatten,
erkannten, dass wir es niemals geliebt haben,
was wir glaubten zu denken, als wir fühlten,
Erfahrungen, Erinnerungen,
die wir für Emotionen hielten
4
Und immer das Meer, das
lärmend und frisch aus der
großen Tiefe der Nacht
heran rollt und fein
ausläuft auf dem
Sand
5
Wie viele haben es in ihrer eigenen
Seele wahrgenommen, diese im
Dunkel mit dumpfer Brandung zerschlagene
Hoffnung
Wie viele sind wir!
Und wie oft täuschen wir uns selbst!
6
Wir sind,
wie wir nicht sind,
und das Leben ist
kurz und trist
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Ewige Suche
Wie viel sagt die Musik,
und richtig ist es,
dass es nicht sein kann.
Wie vieles ruft uns die Nacht in
Erinnerung, wir weinen,
und doch ist es nie gewesen!
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Suche am Meer
Mein Herz ist still wie ein Strand,
das große Meer aller Dinge
brandet laut und spöttisch in dieser Nacht,
in der zu leben wir
gezwungen sind, ehe es sich
beruhigt auf unsrer ewig nächtlichen
Suche am Meer
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Ein Morgen
Was für ein Morgen,
der mich für die Dummheit und Verführung des Lebens
weckt mit einer großen Zärtlichkeit!
Was für ein Kummer,
welche Schatten ziehen sich zurück?
Eine Wirklichkeit am Morgen,
die mir freundlich zu verstehen gibt,
dass ich nicht so sein kann,
wie ich bin
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Ekel
Zeiten, in denen uns alles
ermüdet, selbst das, was uns
für gewöhnlich erholsam
erscheint
Eine Niedergeschlagenheit,
die weiter geht als alle
Angst und jeder
Schmerz
Dem eigenen Überdruss
aus dem Wege gehen,
das Leben als Last, das
Bewusstsein davon der
Ekel
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Abneigung
Ich sitze gebeugt da und
möchte die leere Tasse meiner
Abneigung gegen mich selbst mit
Worten voller Kunst zudecken,
um nicht zu verzweifeln
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Fliehen können
Ich will weder etwas,
noch hätte ich gerne etwas,
noch ist da etwas, Alexandre,
wovor wir fliehen könnten ohne
uns zu sehen
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Weder noch
Eine neue Seite aufschlagen,
die Geschichte geht weiter,
nicht aber der Text.
Ich lebe immer in der Gegenwart.
Die Zukunft kenne ich nicht.
Die Vergangenheit gehört mir nicht mehr.
Das eine lastet auf mir wie die Möglichkeit zu allem,
das andere wie die
Wirklichkeit von nichts.
Ich habe weder
Hoffnung noch Furcht noch
Sehnsucht.
Eine neue Seite aufschlagen,
die Geschichte geht weiter,
nicht aber der Text.
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Überflüssig
Eingezäunt von der Melancholie
der mich umgebenden Straßen,
jenseits des Geästs der hohen
Bäume die Kuppel des alten
Himmels, an dem die Sterne wieder
aufflammen.
Sieh nur, wie es allmählich
dunkel wird!
Meine Seele schmerzt.
Handeln ohne dass unsere Lippen sich mit weiteren
Worten versündigen,
banger Überdruss lenkt meine Gedanken ab von dir.
So überflüssig ist alles!
Wir, die Welt und unsere
Geheimnisse
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Träumen
Ich bin müde,
geträumt zu haben.
Doch nicht müde zu träumen.
Träumen heißt vergessen,
vergessen ist ein traumloser
Schlaf, in dem wir
wach sind.
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Sieg
Mein Heer wurde geschlagen,
aber die Niederlage war schwach und gering.
Niemand verlor dabei sein Leben.
Also war es ein Sieg.
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Intelligenz
Das kollektive Denken ist dumm,
da ist kollektiv ist:
nichts kann die Schranken des Kollektiven passieren,
ohne an der Grenze den größten Teil seiner Intelligenz als
Wegezoll zurücklassen zu müssen.
Individualistisches Denken ist dumm,
da es individualistisch ist:
nichts kann die Schranken des Individualismus
passieren, ohne an der Grenze den größten Teil seiner Intelligenz als
Wegezoll zurücklassen zu müssen.
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Dichter
Dichter wie ich werden erst nach ihrem eigenen
Tod geboren, dann erst beginnt man sie
als Dichter zu schätzen.
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Lieben
Ich will dich nur im Traum – dem
geliebten Menschen die nie an ihn geschickten
Zeilen mitteilen, jene Zeilen,
die es nicht wagten,
die Wahrheit zu sagen.
Ich will dich nur im Traum –
ist ein Vers aus einem alten Gedicht.
Ich nehme die Erinnerung daran mit einem
Lächeln auf und nicht einmal dieses
Lächeln werde ich an dieser Stelle
erläutern.
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Frauen-Liebe
Ich gehöre zu den Seelen,
von denen die Frauen sagen, sie liebten sie.
Selbst wenn sie sie nie erkennen,
wenn sie ihnen begegnen.
Ich gehöre zu den Seelen,
die sie, selbst wenn sie erkennten,
nicht erkennen würden.
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Nomade
Ich bin ein Nomade des
Bewusstseins meiner selbst.
Beim ersten Hüten der Herden
haben sich die Tiere meines inneren
Reichtums verlaufen und mich
verlassen
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Übel
Ich leide an dem Übel, leiden zu können.
Mir fehlt etwas,
nach dem mich nicht verlangt,
und ich leide, weil dieses Fehlen
nicht wirklich leiden ist.
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Ferne Idyllen
Die fernen Idyllen an den Ufern kleiner
Flüsse schmerzen mich in einer Stunde
wie dieser
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Dunkle Stille
Dunkle Stille, bleich,
im Übermaß.
Nachher, zwischen den wenigen
schnell fahrenden Fahrzeugen das
Donnern des Lastwagens –
ein lächerliches, mechanisches
Echo dessen, was tatsächlich
vorgeht in der nahen Ferne des
Himmels.
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Zukunft
Sein Gesicht ist fahl, trügerisch grün, verwirrt.
Ich sehe ihn klar und
mit einem brüderlichen Gefühl.
Der Atem wird mir schwer,
auch ich werde so sein einmal und
ohne dieses brüderliche
Gefühl
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Erinnerungen
Die Wirklichkeit des Lebens bindet mir
zärtlich ein weißes Tuch falscher
Erinnerungen um die Stirn.
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Geheimnis
Unser Leben so gestalten, dass es für andere ein
Geheimnis bleibt,
dass, wer uns besser kennt,
uns nur aus größerer Nähe verkennt
als andere.
So habe ich mein Leben gestaltet,
fast ohne daran zu denken,
aber mit einem kunstvollen Gespür,
dass ich selbst mir zu einem
alles andere als klar erkennbaren
Einzelwesen geworden bin
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Sternen-Himmel
Ich bin ein Seefahrer im Verkennen meiner selbst.
Ich habe alles besiegt, wo ich niemals war.
Vorwärts strebend zum Unmöglichen hin bin ich nicht
anders als andere.
Über alledem steht immer mein persönlicher Himmel,
bestirne ich mich insgeheim und habe meine große
göttliche Unendlichkeit
bei mir
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318 Pessoa 3
319 Pessoa 4
320 Pessoa 5
321 Pessoa 6
322 Pessoa 7
323 Pessoa 8
327 Abschluss