327 Pessoa lesen (Abschluss)
Stuttgart, 2.September 2019
Bei Dir
Die Wahrheit liegt nicht bei dir
und nicht bei mir,
sie liegt bei niemandem.
Aber Glück ist nur
bei Dir zu
finden.
Das Alltägliche
Das Alltägliche mit Bildern krönen,
das Gewöhnliche ungewöhnlich ausdrücken,
das Einfache schwierig machen,
tote Ecken und Möbel mit einer künstlichen
Sonne vergolden,
meine dahin fließenden Sätze zu
Musik werden lassen.
Kindertage
Ich bin ein verwaistes klösterliches Gebäude,
verschattet von scheu huschenden Gespenstern,
um mich herum das große Rauschen der Bäume.
Ich träume und finde, ach, zu meinen Kindertagen
nicht mehr zurück.
Leben
(Seneca)
Leben heißt sterben:
Wir haben in unserem Leben
nicht einen Tag mehr,
der nicht ein Tag weniger
wäre.
Gott (2)
Nie Gott begegnen,
nie wissen,
ob Gott existiert!
Von Welt zu Welt
gehen, von Inkarnation zu
Inkarnation in der schmeichelnden
Illusion, im tröstlichen Irrtum und
von Sehnsucht zu
Sehnsucht geleitet, nie Wahrheit,
nie Ruhe finden
Nie eins werden mit Gott,
nie ganz in Frieden leben und
sterben können!
Wissen
Eine väterliche Hand möge uns durch
Geheimnis und Wirrnis der
Welt den Weg
weisen.
Ein Staubkorn,
das der Wind des Lebens
aufhebt und wieder
fallen lässt.
Die Stunde des Sterbens ist
ungewiss, der Himmel fern
und das Leben fremd.
Selbst der Größte unter uns
hat nur ein tiefes Wissen von der
Nichtigkeit und
Ungewissheit aller
Dinge.
Müde
Ich bin müde.
Der Tag war bedrückend mit seiner
sinnlosen Arbeit im leeren Büro.
Zwei Angestellte krank,
die übrigen abwesend.
Sehnsucht
Ich verspüre Sehnsucht,
eines Tages vielleicht Sehnsucht
verspüren zu können,
die selbst dann immer noch
sinnlose Sehnsucht
wäre.
Bitte
Ich bitte die Götter,
die es geben mag,
mich aufzubewahren wie in einem
Schrein, sicher vor den Unbillen und
Glücksmomenten des
Lebens und seiner abgründigen
Welt
Laufen
Im schwachen Schatten des letzten
Lichtes laufen, ehe der Tag der
Nacht weicht, laufen,
als gäbe es für nichts
Heilung
Fantasie
Mit mir geht eine unbestimmte
Traurigkeit, über die sich meine Fantasie
mehr freut als meine
Sinne.
Halbseiden
Erinnerungen eines Spaziergängers,
bruchstückhafte Beschreibung der
Dämmerung oder des Mondscheins,
Parkanlagen und Alleen mit
halbseidenen Gestalten, die
vorübergehen, vorüber…
Frage
Eine Geschichte sein, die jemand
erzählt hat, so gut, dass sie Körper geworden ist am
Beginn eines Buches, das die
Welt beschreibt:
„In dieser Stunde kann man einen Menschen sehen, der
langsam die Straße entlang geht und Körper geworden
ist“ – Was hat dieser Mensch mit
Welt und Geschichte
gemein?
Nutzlos
Traummüde und nur noch falsch
oder äußerlich wahrnehmen,
als sei man ans Ende einer
unendlichen Straße gelangt.
Der Überdruss an allem
macht einen schwach.
Ich fühle mich aus meiner
Seele vertrieben.
Über die Ufer treten, Selim,
sich verströmen wohin auch immer,
still stehen und nutzlos.
Etwas sein,
das man immer war,
sich suchen bei
sich selbst allein
XI
Zuschauen
Ich bin mein eigener Zuschauer
und bin mir meiner in allem
überdrüssig. Alle Dinge haben die
Farbe meines Überdrusses angenommen
bis tief in das Geheimnis ihres
Seins
Welke Haut
Welk schon sind die Blumen,
die die Horen mir
gaben. Ich sollte
handeln und kann doch nur langsam
ihre Blätter zerpflücken.
So viel Altwerden und
Sterben liegt darin!
Selbstvergessen
In die Höhe schießen,
auf die Stelle nieder fallen.
Das unnütze Funkeln in der Sonne,
ein Geräusch in der Stille der Nacht.
Im Traum an Flüsse denken,
ein Lächeln selbstvergessen und
weinen voller Schmerz.
Traurig
(Heinrich Heine)
Die Geräusche der Straße
verändern sich leicht,
das Bimmeln der Bahn in der
Parallelstraße klingt etwas
traurig. Ich weiß nicht
warum und was es
bedeutet.
Abgrund
Mein Überdruss wird mir zum Entsetzen,
meine Langeweile zur Angst.
Mein körperliches Unwohlsein ist ein
Unwohlsein der Seele am
Abgrund.
So groß ist mein Überdruss,
so beherrscht bin ich vom
Entsetzen, am Leben zu sein,
dass ich kein Gegengift und kein
Vergessen mehr mir vorstellen kann.
Leere und Nichts
(Kierkegaard)
Das fühlbare Universum ist ein Leichnam geworden,
den ich liebte, als er noch am Leben war.
In dem warmen Licht der letzten farbigen
Wolken hat sich alles in
Nichts aufgelöst.
Was für ein Trauerzug zieht durch die goldene
Stille des reglosen Himmels,
was für ein Gefolge aus Leere und
Nichts schwärmt aus in glutrotem
Blau auf den weiten
Ebenen. Im weißen
Raum verblassen Furcht und
Hoffnung wie einst.
Dass wir einen nachsichtigen Gott wieder
verloren haben und die Substanz aller Dinge
gestorben ist.
Mauer
Wie einer, der unter einer eingestürzten
Mauer begraben liegt,
liege ich unter der über mir hereingebrochen
Leere des ganzen
Universums
Anders sein
Ich folge meinen eigenen Spuren,
bis die Nacht kommt und etwas
von dem zärtlichen Gefühl,
anders zu sein, wie ein Windhauch
durch meine beginnende
Unruhe
weht
Sternenglanz
Dieser hohe, große Mond,
diese sanften Nächte,
lau voll Angst und Unruhe!
Dieser düst’re Friede der himmlischen
Schönheit, diese kalte Ironie einer warmen
Luft, diese schwarze Bläue der
Nacht, neblig im Mondschein und
ängstlich vor all dem
Sternenglanz
Belgrad 1.Oktober 2019
Morgen im Büro
Bräche dieser Morgen doch niemals an!
1
Könnte dieser Raum und seine Atmosphäre
sich doch in Nacht vergeistigen,
in Finsternis verabsolutieren,
damit von mir weniger als ein Schatten bliebe,
der schlecht oder gut machen könnte,
was vielleicht niemals stirbt.
Das Schmutzigste und Alltäglichste
des wirklichen Lebens durchleben,
das Eindringlichste und Beständigste seiner
Wahrheit auffinden.
2
Dieses monatlich gemietete Zimmer,
worin nichts geschieht, außer dass darin
ein Toter lebt,
dieses Lebensmittelgeschäft um die Ecke,
dessen Besitzer ich kenne,
wie Leute Leute kennen,
all die jungen Männer
an der Tür vor der Kneipe,
gelangweilt, arbeitsscheu, erregt.
3
Diese arbeitseifrige Nutzlosigkeit all der
gleichförmigen Tage,
ein bis ins Mark seiner Menschen erbärmliches
Büro, die klebrige Wiederholung der gleichen
Personen wie im Drama, das nur als ein verstörtes
Bühnenbild besteht,
Niedertracht, Trägheit, Unterlassung
und Falschheit überall in dieser Straße,
die für mich das ganze Leben
bedeutet hat.
Ein Sklave, der sich während der Siesta betrinkt,
ist doppeltes Elend in einem einzigen
Körper
Schicksal
Manchmal, wenn ich nachts
aufwache, spüre ich unsichtbare Hände
mein Schicksal
weben
Sinn
Wollten doch die Götter, oh mein trauriges Herz,
dass das Schicksal einen Sinn hätte!
Oder wollte doch vielmehr das Schicksal,
dass die Götter einen solchen hätten!
Halbschattig
Die zarte, aber entschiedene
Sensibilität, der lange, aber vollauf bewusste
Traum bilden in ihrer Gesamtheit mein
Halbschatten-Privileg
Farben
Die Luft ist ein verhülltes Gelb,
ein blasses Gelb durch ein schmutziges
Weiß hindurch gesehen.
Im Aschgrau der Luft ist kaum
Gelb, und doch hat die Blässe dieses
Aschgraus etwas Gelbes in ihrer
Traurigkeit
Vergessen
Die leere Unermesslichkeit der
Dinge, das große Vergessen im
Himmel und auf
Erden…
Ferne
Zu leben schmerzt,
aber nur von Weitem
Dem Ende zu
Geh leicht deinem sicheren Ende zu, Tag,
an dem sich all jene, die glauben und irren,
in ihre übliche Arbeit fügen und in ihrem
Schmerz das Glück der Unbewusstheit verspüren.
Geh leicht deinem Ende zu,
Welle verlöschenden Lichts,
Melancholie dieses nutzlosen Nachmittags,
Nebel ohne Schleier, der in mein Herz zieht.
Geh leicht deinem Ende zu und sacht,
unbestimmte, lichtblaue Blässe dieses aquatischen Tages,
senke dich leicht, sacht und traurig
auf die schlichte, kalte Erde.
Geht leicht eurem Ende zu,
unsichtbar grau, trist, sacht und
monoton.
Prosa (3)
Zuweilen denke ich mit traurigem Vergnügen, dass, wenn einst in einer Zukunft, der ich nicht mehr angehöre, meine Sätze Lob finden und fortdauern, ich endlich die Leute habe, die mich „verstehen“, zu mir gehören, die wahre Familie, um in ihr geboren und geliebt zu werden. Doch bis dahin ist es noch weit, und ich werde längst gestorben sein. Ich werde nur als Abbild verstanden werden, wenn die Zuneigung die Ablehnung nicht mehr ausgleichen kann, die des Verstorbenen Los im Leben war.
Prosa (4)
Eines Tages vielleicht wird man verstehen, dass ich wie kein anderer meine naturgegebene Pflicht als Dolmetscher für einen Teil unseres Jahrhunderts erfüllt habe; und hat man das verstanden, wird man schreiben, dass ich zu meiner Zeit ein Unverstandener war, dass ich unseligerweise inmitten von Ablehnung und Kälte lebte und dies ein Jammer ist. Und wer immer irgendwann darüber schreibt, wird einem, der in dieser künftigen Zeit sein wird, wie ich es war, ebenso verständnislos gegenüber stehen wie meine jetzige Umgebung mir. Denn die Menschen lernen nur, was für ihre bereits verstorbenen Vorfahren von Nutzen gewesen wäre. Nur den Toten vermögen wir die wahren Lebensregeln zu vermitteln.
Abend
Im weniger blassen und weniger blauen
Himmel, der sich auf den Fassaden der
Häuser spiegelt, wird diese unbestimmte
Stunde etwas mehr
Abend
Timisoara, 7.Oktober 2019