330 Weltverloren, hoffnungslos
Reinhold Urmetzer im Gespräch mit Nataly Otálora
Warum haben Sie dieses Buch geschrieben?
Ich habe den Portugiesen Fernando Pessoa, er lebte von 1888 bis 1935, für mich neu entdeckt und auf Anhieb faszinierend gefunden. Durch Zufall kam mir sein „Buch der Unruhe des Hilfsbuchhalters Soares“ in die Hand. Gerade kein Lyrikband, sondern eher ein fiktives Tagebuch voller Beschreibungen und Reflexionen aus den Jahren 1914 bis 1935.
Was hat Ihnen daran so gut gefallen?
Pessoas Sprache. Sie ist so ganz anders als diejenige, die man sonst bei den Schriftstellern kennenlernt. Dort ist sie entweder rational, politisch, belehrend. Oder auch umgekehrt irrational, surrealistisch, verschlüsselt. Eigentlich wollte ich nur einige wenige Texte zum Vertonen finden. Mein schönstes Hobby ist die Musik. Ich habe mich schließlich jedoch so an Pessoas Texten festgebissen, dass ich sie nach und nach in meine Sprache umwandeln, übersetzen wollte, ohne jedoch die gedankliche Spur Pessoas zu verlassen.
Und was ist neu bei Pessoa?
Seine Sprache ist anders. Vielleicht sogar eine Mischung aus allem. Der Autor benutzt eigenartige Bilder. Manchmal sind sie unverständlich, paradox, auch grotesk. Dann sind es scheinbar willkürliche Benennungen der Dinge, wie wenn er eine neue Sprache finden wollte.
Ich konstruiere jetzt als Beispiel einen Satz im Pessoa-Stil: Ich stehe auf dem Balkon und lehne meine Gefühle an. Dieser Satz ist grammatisch ganz einfach, aber inhaltlich doch schwer zu verstehen. Zwei Welten: der Balkon und die Gefühle, die angelehnt werden. Was heißt das – „Gefühle anlehnen“? Realität und Irrealität begegnen uns in einem so lapidaren Satz.
Irgendetwas stimmt da nicht.
Genau. Man wird scheinbar in eine realistische Welt geführt und trotzdem begegnet einem in dieser Welt ein Geheimnis, das nur von dem verstanden wird, der die Bildhaftigkeit Pessoas, quasi seinen Code, verstehen oder dechiffrieren kann.
Oder das Gedicht „Im Vorüberziehn“, das dem ganzen Band seinen Titel gegeben hat. Hier einmal die Realität, poetisch verklärt als Nacht, als Wald und Natur. Dann taucht aber auch inmitten von Nacktheit und Wind ein Geheimnis auf, das tatsächlich ein Geheimnis bleiben wird. Niemand wird es entschlüsseln können. Es existiert nämlich scheinbar nur in unserer Seele und es zieht „von hier nach dort“. Weder wissen wir, was es ist, noch wohin es sich fortbewegt.
Wie das ganze „Buch der Unruhe“. Es kommt Pessoas Denken und persönlicher Welt trotz seiner vielen Masken und Verstellungen am nächsten, denke ich. Beim Lesen ziehen wir von hier nach dort: Aus unserem lapidaren Alltagsleben mit Sorge, Unruhe, Alltäglichkeit bewegt sich ein Geheimnis in die Schönheit der Natur, in den Traum, aber auch zum vergeblichen Sieg von Weltbild zu Weltbild. Die letzte Formulierung ist jetzt wieder im Pessoa-Stil verfasst.
Also wie eine Fremdsprache.
Ja, man muss Pessoas Sprache wie eine Fremdsprache verstehen lernen, sie decodieren, sie entschlüsseln. Eigentlich ein Vorgehen, das gute, vor allem auch komplexe Kunst immer wieder ebenso verlangt, wenn man sie interpretieren muss und letztlich auch sich selbst dabei findet: In der Entsprechung, Spiegelung, in der Zustimmung. Oder auch in der Ablehnung und Abwehr.
Pessoa lockt uns mit einer lapidaren und nüchternen Alltagswirklichkeit. Mit großem Einfühlungsvermögen werden Menschen, Landschaften und Umwelt analysiert oder besser sage ich diagnostiziert. Denn diese Lebenswelt, das ist auch unsere Lebenswelt,sie ist krank. Fast schon dem Untergang geweiht. Mit einer großen Sensibilität, ja Depressivität wird diese Welt um einen herum wahrgenommen und beschrieben. Ja, das stimmt, habe ich mir oft sagen müssen. Es ist traurig. Ebenso hat sich auch der erste Übersetzer Georg Rudolf Lind vom Ammann-Verlag Zürich geäußert. Beim Lesen, Studieren und Schreiben dieser Texte läuft man tatsächlich Gefahr, schwermütig zu werden.
Pessoa ist aber auch ein Intellektueller, ein Denker.
Ja. Immer wieder wird abstrahiert, tauchen intellektuelle, philosophische Fragen und Gedanken auf nach Gott, nach Ziel, Sinn und Zweck in unserer Welt. Wie man zur werlte sollte leben, fragte sich schon Walter von der Vogelweide im 13. Jahrhundert. Pessoas Welt- und Gottes-Verlorenheit nimmt die des Existenzialismus bereits vorweg. Der Künstler war tatsächlich der Hilfsbuchhalter Bernardo Soares, denke ich.
Seine Reflexionen, etwa die paradoxe Frage nach Gott: Wo ist Gott, selbst wenn er nicht existiert? führen aber zu keiner Lösung des Problems.
Nein, denn die Probleme, also auch die Paradoxien, bleiben meist abstrakt. Sie drehen sich um Isolation, Nicht-verstanden – Werden, Sinnlosigkeit und Ablehnung. Pessoa wird in meinen ausgewählten Zitaten nie politisch wie andere Schriftsteller, wenn sie ihr unglückliches Leben in Abhängigkeit von schlechten gesellschaftlichen Zuständen zu analysieren suchen.
Im Zentrum seines Denkens steht meist die tiefe Hoffnungslosigkeit und Resignation der eigenen Person, Welt und Kunst gegenüber. Dass er als Künstler nicht akzeptiert, nicht verstanden worden ist, zeit seines Lebens isoliert war als Einzelgänger, auch als Alkoholiker.
Man merkt sehr schnell, dass er als einer der ersten in der Nachfolge von Nietzsche und später auch der Psychoanalyse steht, die das ganze 20. Jahrhundert und unsere Zeit bis in die Gegenwart hinein revolutioniert haben und immer noch prägen. Er beklagt den Tod Gottes beziehungsweise er fragt sich, wo Gott überhaupt geblieben ist, selbst wenn er nicht(!) existiert. Sie haben diese prototypische Formulierung und seltsame Logik gerade erwähnt.
Sie führen in Ihrer Übersetzung der Übersetzung, wenn ich so formulieren darf, sehr häufig ein persönliches Du ein. Was eher nicht zu Pessoa passt.
Übersetzung der Übersetzung gefällt mir, es klingt gut. Verbesserung der Übersetzung klingt weniger gut, was aber ebenso berechtigt sein mag, denn manche sprachliche Formulierungen gefallen mir weder bei Georg Rudolf Lind noch bei Inés Koebel. Ich wollte mit diesem formalsprachlichen Trick Pessoas Texte vermenschlichen. Sie kommen einem dadurch näher, betreffen einen auch tatsächlich intensiver denn als Abstraktion oder Prosa-Fiktion.
Würde Pessoa Ihrer Sichtweise, die letztlich auch wieder eine subjektive Sicht und Interpretation seiner Welt darstellt, zustimmen? Was glauben Sie?
Ich bin davon überzeugt. Ich wüsste nicht, wo ich in meinem Denken seinem Denken widersprechen würde. Zumindest in diesem von mir gewählten Buch. D.h. meine Sprache lehnt sich an seine Sprache und Weltsicht an vielleicht wie eine Asymptote in der Mathematik. Ich wollte die beiden Übersetzungen aus den Jahren 2003 und 2006 in ein anderes Deutsch bringen. Ich habe fast ein ganzes Jahr nicht mehr von dieser Arbeit loslassen können, so fasziniert war ich von meiner Entdeckung.
Selbst auf meinen Reisen begleitete mich die Lektüre. In fast jeder freien Minute habe ich mich an mein Diktiergerät gesetzt und über den Sinn der Texte nachgedacht und ihnen eine den Gedichten angemessene sprachliche Form zu geben versucht.
Mir gefällt die Vielschichtigkeit des Autors, auch seine Gebrochenheit. Die Gebrochenheit seiner Rationalität, die Unsicherheit seiner Gefühle, die Sensibilität seiner Wahrnehmung, das Suchen in seinem Verhalten und Denken, welches das ganze abendländische Wissen und Denken einzuschließen vermag. Von der Antike über das Mittelalter bis in die unmittelbare Gegenwart hinein. Pessoa war ein sehr gebildeter Mensch.
Sie haben in die Bearbeitung auch etliche Vornamen eingebaut aus ihrem persönlichen Umfeld. Warum?
Gelegentlich macht es Pessoa ebenso, etwa mit einem seiner Vorbilder Césario Verde, aber selten. Diese Menschen sind zum Teil bekannt, zum Teil sind sie von mir frei erfunden. Ich mache es wieder, um die Lektüre näher an die Menschen zu bringen. Wenn eine Person mit Namen angesprochen wird, fühlt man sich nicht so distanziert in dieser Lese-Welt, die man gerade bestaunt oder bewundert oder ablehnt. Auch Städte und Datumsangaben baue ich aus diesen Gründen ein. Dass man sich nicht zu sehr in einer fernen Vergangenheit verliert, sondern feststellt: das ist ja die Gegenwart, das könnte auch ich sein.
Sind auch Sie das, der sich in diesen Zeilen spiegelt?
Natürlich. Jeder wird sich darin finden, mal mehr, mal weniger. Nur nicht so pessimistisch wie Pessoa, hoffe ich.
Bearbeitung – das klingt wie in der Musik nach einer vorgegebenen Melodie, die abgeändert, also „bearbeitet“ wird. Was ist in diesem Buch nun Ihre Arbeit, was ist die Arbeit Pessoas?
Ich denke, die Hauptarbeit (a) ist natürlich das Schaffen, das in die Welt setzen, die Kreativität. Nicht unterschätzt werden darf aber auch (b) die Arbeit der Übersetzer Georg Rudolf Lind und Inés Koebel: Ihre Leistung ist fast einer Neuschöpfung gleich zu setzen. Das entdecke ich immer wieder auch bei meinen Büchern, wenn sie ins Englische übersetzt worden sind (1). Meine Diskussionen mit dem Übersetzer N. Andrew Walsh, die immer sehr nützlich und interessant für mich waren, beweisen das immer wieder. Und ich habe die allergrößte Hochachtung vor diesen Menschen. Eine neue Sprache ist meist ein neues Leben, eine neue Weltsicht.
Dass ich (c) sogar nun die Übersetzer übersetze, d.h. dass ich deren manchmal holprige Sprache „übersetze“ in Anführungszeichen, ist wieder eine Leistung, die auch nicht unterschätzt werden darf. Denn ich musste mich ebenso tief in den Sinn, in die Gedankenwelt Pessoas hinein versetzen. Diesen seinen Sinn habe ich versucht herauszufinden, zu treffen oder auch weiter zu führen. Nicht so extrem jedoch wie die gut gemeinte Rimbaud-Übersetzung von Rainer G.Schmidt und Hans Therre aus dem Jahre 1979.
Manche Wissenschaftler und Interpreten werden auch mit Ihrem Ansatz Probleme haben.
Schwierig war natürlich die Umwandlung des Prosatextes mit seinen manchmal überlangen Sätzen in die kurze und pointierte Lyrikform samt immanenter Sprachmusik und anderer Aufgaben. Auch ob ich die Texte zentriert oder links bündig setzen sollte, wie die Zeichensetzung gestalten mit oder ohne Punkt waren gestalterisch wichtige Fragen. Die jetzt vorliegende Formgebung verlangt das „stockende Lesen“. Der Leser wird immer wieder herausgerissen aus seinem endlich gefunden Verstehen und Verständnis des Textes und letztlich wird er damit auch immer wieder zurück geworfen auf sich selbst: Warum verstehe ich das jetzt nicht?
Aber genau das ist m.E. eine sehr nützliche Provokation. Das schnelle und leichte Verstehen, wie es gegenwärtig Mode wird etwa in den Twitter-Nachrichten, ist eher ein Nicht-Verstehen, welches nur an der Oberfläche bleibt. Zahlreiche wichtige Hintergrund-Informationen werden ausgelassen und aus bestimmten Gründen unterschlagen.
Eine im Sinne der KonzeptArt sehr sinnvolle NebenBeschäfrigung kann tatsächlich auch Philologen, Interpreten und andere Hermeneuten betreffen, wenn sie sich bei der Lektüre meiner Arbeit fragen: Warum diese Überschriften? Sie sind alle von mir! – Passen sie? Warum hat er, also ich, diese Formulierung jetzt an dieser Stelle gewählt? Was ist jetzt genau von Pessoa im Text, was ist nur von ihm und was nicht?
Gibt es das?
Manchmal schon.
Das heißt, Sie verstehen Ihre Arbeit auch als ein neu gestaltetes Kunstwerk?
In einem gewissen Sinn schon. Wie in der Musik.
Können Sie den Umfang ihrer Mitarbeit bei der Textgestaltung benennen?
Nein, das kann ich nicht. Ich bin meistens unbewusst vorgegangen, auch irgendwie intuitiv und emotional. Ich habe in dem dicken Prosabuch, quasi eine pseudo-fiktionale Tagebuch-Zusammenfassung von Pessoas Denken in 572 Seiten, wovon ich nur die ersten 199 Seiten durchgearbeitet habe, immer wieder Sätze gefunden, die mich verblüfft haben auch in ihrem WiderSinn, in ihrer Paradoxie, in ihrer dissonanten Metaphorik. Diese Sätze habe ich exzerpiert, verkürzt, manchmal umformuliert, weitergeführt in ein Denken, von dem ich glaube, dass auch Pessoa damit einverstanden gewesen wäre, wenn er das alles hätte lesen können.
Auch der Übersetzer meiner Bücher ins Englische hat neue Wege in meinen Texten gefunden, mit denen ich sehr übereinstimme, weil sie meinen Weg weiter führen und sogar eine neue Sprache dafür finden, neue Formulierungen, die ich immer wieder als eine Bereicherung meine Texte und meiner Welt empfinde.
Haben Sie sich auch mit Pessoas Biografie beschäftigt?
Ja, sehr genau und sehr intensiv. Seine Jugend mit einem ungeliebten Stiefvater als portugiesischer Konsul in Südafrika. Das Aufwachsen in einem Landgut dort mit Dienstboten und jeder Art von Luxus. Dann als 17jähriger an die ersehnte Universität zurück in seine Geburtsstadt Lissabon. Der frühe Absturz schließlich in die Bedeutungslosigkeit und in den Alkoholismus.
Ich habe auch – mit Ausnahme von Südafrika – die Orte aufgesucht, in denen Pessoa gelebt hat. Zum Beispiel sein Geburtshaus oder seiner Arbeitsstätte in Lissabon.
Ich denke, dass er ein sehr einsamer Mensch war. Einmal weil man ihn in seiner Sprache und Kunst nicht verstanden, geschweige denn respektiert hat. Wie viele andere Künstler auch musste er sein Leben fast am Existenzminimum fristen, hatte also kein Geld, musste schließlich eine billige und langweilige Arbeit verrichten und so fort.
Zum anderen, weil er, wie er selbst sagt, Angst vor Liebe, Angst vor körperlichen Dingen und Nähe hatte, obwohl er permanent mehr als jeder andere Schriftsteller überhaupt von Gefühlen, d.h. auch vom Körper spricht.
Kommt auch die Liebe ins Spiel?
Eher nein. Pessoa scheint ein sehr isoliert lebender Mensch und Büroangestellter gewesen zu sein. Er war verlobt, hat aber diese Verlobung schnell wieder aufgelöst. Nur ein Text in dem von mir bearbeiteten Buch-Ausschnitt spricht von dem Traum, vielleicht auch der Sehnsucht nach Liebe.
Aber diese Liebe ist, selbst wenn es in Gedichtform (!) biologisch sogar um den „Geschlechtstrieb“ geht, immer eher abstrakt und intellektuell gesehen und weniger direkt oder körperlich. Dennoch wird der Leser von mir mit dem häufigen fiktiven Du und dem Ich, auch Pessoas Ich, sehr oft in die Spur von Liebe, Begehren oder Sehnsucht geführt. Nichts bleibt mehr abstrakt, wenn ein Du angesprochen werden kann, ein Ich sich äußert.
Hat Pessoa wie andere Schriftsteller dieser Zeit zwischen den Kriegen, etwa Thomas Mann, auch politische Krisen befürchtet oder vorweg genommen?
In meiner Buch-Vorlage kommt Politik sehr selten, fast überhaupt nicht vor. In anderen Publikationen schon. Pessoa war typisch postmodern: Widersprüchlich und verworren. Wie heutzutage auch: Sowohl als auch – manchmal war er sehr konservativ rechts, manchmal dogmatisch links oder alles zusammen. Seine Thematik bleibt immer egozentrisch ichbezogen, egomanisch nur auf das Ich gerichtet, das in einer fremden Welt leben, überleben muss und immer wieder scheitert an einem übermächtig Anderen.
Es ist bei ihm tatsächlich von Politik sehr wenig zu spüren. Das bedeutet nicht, dass Pessoa unpolitisch war. Denn selbst das Unpolitische kann sehr politisch werden. Zumal er in einer Umbruchszeit gelebt hat, die die Weimarer Jahre bereits in ihrer „Dekadenz“, in ihrem Alles- geht-Nihilismus vorwegnimmt und spiegelt. Wenn alles geht, geht nichts, sagen die Franzosen.(2)
Glauben Sie, dass wir auch gegenwärtig uns in einer solchen WeltVerlorenheit befinden?
Ich denke, wir befinden uns in einer großen Verwirrung. Verwirrung nicht nur was das Denken, was die Religion, was Politik oder Moral angeht. Es scheint ein richtiger Epochenwechsel statt zu finden. Früher dauerte dies Jahrhunderte. Aber bei den gegenwärtigen Beschleunigungstendenzen überall wird alles noch viel schneller gehen.
Es gibt keine Einheitlichkeit, keine Einheit, keinen Konsens mehr. Was Wahrheit und Schönheit, vernünftige Politik, Demokratie, was Gerechtigkeit, Tugend oder Laster sind, darüber denkt jeder mittlerweile mit guten Gründen und meist auch überzeugend, wir sind ja nicht allesamt Dummköpfe, wie man gerade will. Alles geht, selbst Widersprüchlichkeit, Lüge, Verwirrung und Chaos.
Wie die Tiere im Urwald bedroht sich auch wieder das Menschengeschlecht in manchen Teilen der Welt militärisch fast bis zur Selbstausrottung. Umgekehrt hüpfen in den „zivilisierten“ hedonistisch, das heißt Lust- und Konsum-orientierten Gesellschaften andere aufeinander los und befinden sich in einem permanenten nicht nur sexuellen Genusszwang oder Rausch. Wir alle spüren jedoch in unseren Hamsterkäfigen die Unruhe des Hilfsbuchhalters Soares. Sehr sogar, wenn wir ehrlich sind.
D.h., Sie befürchten auch neue politische und gesellschaftliche Krisen und Brüche?
Ja. Der Existenzialismus hat diese Einsamkeit und Verstörtheit des Individuums, seine dauernde von Tod und Hoffnungslosigkeit bedrohte Welt unter dem Einfluss zweier Weltkriege und Massenvernichtungen bereits vorweggenommen. Camus „Fremder“ im gleichnamigen Roman war gerade nicht seltsam „fremd“ in seiner fremden Welt. Er war typisch für die Zukunft.
Oder das Theaterstück „Das Missverständnis“ (Le Malentendu). Nachdem Mutter und Tochter unwissentlich einen Fremden, den eigenen Sohn und Bruder nämlich, in einem einsamen Waldhotel ausgeraubt und umgebracht haben, lautet Camus Botschaft an die Zeit um 1943: Nur noch das offene, ehrliche Wort kann uns retten.
In unserer immer mehr digitalisierten Welt wird das Individuum bald noch weniger Mensch sein dürfen. Zumal bereits von interessierten politischen Kreisen, etwa in China, ein „Trans-Humanismus“ propagiert wird. Humanismus ist out. Es lebe die digitale Kommunikation der Verkürzungen und Oberflächen von intelligenten Maschinen mit intelligenten Maschinen untereinander. Wozu auch der gegenwärtige Mensch bald gehören wird.
Also genau das Gegenteil zu Pessoas Denken, seiner Sehnsucht nach Sinn, Einheit und Gott.
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1)Reinhold Urmetzer: On Seduction 1, ISBN 978-3-7439-4502-9. On Seduction 2, ISBN 978-3-7482-6900-7
2) Vgl. den 1914 erschienenen Roman „Lucios Geständnis“ von Pessoas bestem Jugendfreund Mário de Sá-Carneiro (1890-1916, Selbstmord)
Alle Bücher von Reinhold Urmetzer in Nr. 282